Syrien: Grab der Menschlichkeit, Ende der Moral?

Syria, Aleppo
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Ein zerstörter Stadtteil von Aleppo.

Wir haben Nahostexpertinnen und Experten gefragt, wie angesichts des Patts im UN-Sicherheitsrat noch eine Verhandlungslösung für Syrien herbeigeführt werden kann und wie die Zivilbevölkerung endlich besser geschützt werden kann. Den Auftakt bildet Kristin Helberg, die in ihrem Artikel sehr konkrete Lösungsvorschläge gegen das Massensterben in Syrien entwickelt.
 

Was wir tun müssen, um Syrer und unsere Glaubwürdigkeit zu retten

Beschämt und gelähmt blicken wir nach Syrien. Dort findet der am besten dokumentierte Massenmord der Geschichte statt – in Echtzeit und vor aller Augen. Denn dank des Internets sind wir fast live dabei, wenn Krankenschwestern in von Bomben erschütterten Kliniken Babys in den Keller tragen, Rettungskräfte verschüttete Kinder aus Trümmern graben und Frauen auf der Flucht von Raketen zerfetzt werden. Wir beklagen das „Ende der Menschlichkeit“. Und dann? Dann suchen wir nach Gründen, auch weiter nichts zu tun. Alles so kompliziert, zu viele ausländische Akteure, und wirklich „Gute“ gibt es nicht mehr.

Aber Zivilisten gibt es in Syrien, Millionen von Zivilisten – Frauen, Kinder und Alte. Sie sind die Hauptopfer dieses Krieges, in dem es darum geht, Städte und Ortschaften (und deren Bewohner) unter die eigene Kontrolle zu bringen. Deshalb werden die Gebiete des Feindes angegriffen und ausgehungert, egal wer dort wohnt. Und weil Präsident Assad eine Luftwaffe hat und einen Staatsapparat, der systematisch verhaftet, foltert und hinrichtet, tötet er die meisten Zivilisten: 92,7 Prozent bis November 2016 (SNHR).

Diese Verbrechen sind im Detail dokumentiert. Jeden Tag zehn getötete Kinder (SNHR) und zehn tote Gefangene (AI), alle drei Tage Bomben auf eine medizinische Einrichtung (WHO), Giftgas gegen Zivilisten (UN), Einsatz von Fass-, Brand- und Streubomben über Wohngebieten (HRW) und Angriffe auf Schulen, Marktplätze und Bäckereien (UN).

Warum lassen wir in Syrien einen Krieg gegen Zivilisten zu? Gegen Ärzte und Krankenschwestern, Rettungskräfte und Journalisten? Weil es uns zu riskant scheint, sie zu schützen? Das Signal, das wir damit aussenden, ist fatal, denn es läutet ein neues Zeitalter ein. Eines, in dem Autokraten tun können was sie wollen, solange sie einen Freund im Weltsicherheitsrat haben. In dem die Genfer Konvention zu einem Treppenwitz der Geschichte wird, weil sämtliche internationalen Institutionen und Mechanismen bei der Verhinderung von Kriegsverbrechen versagen. Nie wieder Ruanda, Srebrenica oder Grosny? Seit Syrien gilt: „Nur zu!“.

Der Konflikt betrifft deshalb nicht nur die Syrer, die längst ihren Glauben an die Menschheit verloren haben, sondern vor allem uns Europäer. Denn das globale Ordnungssystem, von dem wir gerne behaupten, wir hätten es entscheidend geprägt und errichtet, geht gerade unter: ein System, das auf Partizipation, Ausgleich von Interessen, politischen Kompromissen und friedlicher Konfliktlösung gebaut ist. Als Meister von Vertreibung und Massenmord hatten wir Europäer Ende des 20. Jahrhunderts erkannt, dass es mehr bringt, sich die Hand zu reichen als sich ständig die Köpfe einzuschlagen – einfach, weil man Macht auch anders erlangen kann.

Wie glaubwürdig sind wir also, wenn wir nicht mal Kinder vor Bomben und Hunger zu retten versuchen? Wo ist unsere Zivilisiertheit, wenn uns Zivilisten egal sind? Alles, was wir in Syrien tun, muss folglich diesem einzigen legitimen Ziel dienen: dem Überleben von Zivilisten. Daraus ergeben sich zwei Handlungsprämissen – wir sollten die Menschen dort erstens versorgen und zweitens schützen.

Alles nicht so einfach, entgegnen Skeptiker und Realpolitiker. Dabei gibt es für die notwendigen Schritte UN-Resolutionen, die man als Grundlage heranziehen kann. Und Verbrechen wie in Syrien sollten einen moralischen Impuls auslösen, der uns den Mut gibt, Folgendes zu tun.

1. Menschen in belagerten Gebieten müssen so regelmäßig versorgt werden, dass Abriegeln und Aushungern nicht länger funktionieren.

Die Fakten: Laut Siege Watch leben 1,3 Millionen Syrer in 39 abgeriegelten Orten. Einer davon (Teile der Stadt Deir al-Zor) wird vom IS belagert und vom Regime kontrolliert, deshalb dürfen die UN dort Hilfsgüter aus der Luft  abwerfen. Zwei weitere Orte (Fua´ und Kafraya in der Provinz Idlib) werden von islamistischen Rebellen belagert, dort kommt dank eines Abkommens immer wieder Hilfe an. Die übrigen 36 Orte sind durch das Regime abgeriegelt, die meisten im Umland von Damaskus, viele seit drei Jahren oder länger. Nur dort sind bislang Menschen an Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung gestorben (mehr als 600).

Die Lösung: Natürlich müssen die Vereinten Nationen mit der syrischen Regierung zusammenarbeiten, um innerhalb des Landes humanitäre Hilfe zu leisten. Formal dürfen sie zwar auch ohne Damaskus´ Zustimmung Güter ausliefern (UN-Resolutionen 2165, 2191 und 2258), aber praktisch ist das gefährlich. Sie lassen sich deshalb von Assad diktieren, wo sie helfen und wo nicht, und werden so zu Erfüllungsgehilfen seiner Strategie des Aushungerns. 96 Prozent der UN-Nahrungsmittelhilfe gehen in Regierungsgebiete – auch dort leben Vertriebene, die versorgt werden müssen, aber die Bedürftigsten unter Belagerung gehen leer aus. Statt für jeden Hilfskonvoi ein wochen- und monatelanges Genehmigungsverfahren in Kauf zu nehmen, das nur in wenigen Fällen zum Erfolg führt, sollten die UN den Spieß umdrehen.

Die zur Verfügung stehende Hilfe sollte intern nach humanitären Kriterien bereitgestellt werden – ein bestimmter Prozentsatz für die belagerten Gebiete, ein Teil für die von Assad kontrollierten und ein weiterer Teil für die Rebellen-Gebiete. Ausbezahlt und ausgeliefert wird nur gleichzeitig. Das bedeutet, erst wenn jede Woche Konvois nach Douma und Umgebung rollen, bekommt das Regime die nächsten Millionen für die eigenen Hilfsprogramme. Das ist nicht zynisch, sondern die einzige Chance, die humanitäre Hilfe in Syrien der politischen Einflussnahme zu entziehen und alle Not leidenden Menschen zu erreichen. Nur so können die UN ihre Neutralität und Unparteilichkeit zurückgewinnen und sicherstellen, dass 10 Kilometer von den eigenen vollen Vorratslagern entfernt keine Kinder mehr verhungern.

2. Zivilisten müssen vor Luftangriffen geschützt werden.

Die Fakten: Der Himmel über Syrien ist voller Kampfjets. Alle fliegen dort, um zu töten. Kein einziges Flugzeug kommt, um Menschen zu beschützen oder Hilfsgüter abzuwerfen. Das Regime setzt chemische Kampfstoffe, Brandbomben sowie unpräzise Fass- und Streubomben ein, Russland Bunkerbrecher und Brandbomben – beide über dicht besiedeltem Gebiet. Zivile Opfer werden nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sind beabsichtigt. Gezielt greifen beide Kriegsparteien Krankenhäuser und Schulen sowie Hilfskonvois an. Präsident Assad ist deshalb in Deutschland wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Auch bei den Luftangriffen der US-geführten Allianz gegen den IS sterben Zivilisten. Die sehr viel geringere Zahl deutet jedoch darauf hin, dass sie sich bemüht, zivile Opfer zu vermeiden.

Die Lösung: Wer über Syrien fliegt, darf nur militärische Ziele angreifen, und zwar in den vom IS regierten Gebieten. Nur diese sind eindeutig identifizierbar. Besser wäre es, sich zunächst auf einen geordneten Machtwechsel in Damaskus zu konzentrieren und erst dann den Terror zu bekämpfen, weil sich nur unter einer neuen inklusiven Führung in Damaskus alle Syrer zum Kampf gegen den IS vereinen lassen. Die jetzige Strategie, den IS zu bekämpfen und die Verbrechen Assads zu ignorieren, produziert lediglich mehr Terroristen.
Die internationale Koalition – vor allem die europäischen Mitglieder Großbritannien, Frankreich und Deutschland – sollten ihren Syrieneinsatz deshalb zum Schutz von Zivilisten nutzen. Der erste Schritt wäre eine Bombenverbotszone für Helikopter. Damit würde der Abwurf von international geächteten Fassbomben (UN-Resolution 2139) durch syrische Hubschrauber sanktioniert, zu Transportzwecken dürften Helikopter weiterhin fliegen. Sollte sich Russland nicht an diesem Mini-Bombenverbot beteiligen, müsste es unilateral umgesetzt werden. Eine Konfrontation mit Moskau erscheint in diesem Fall wenig wahrscheinlich. Wegen eines vom Mittelmeer aus abgeschossenen syrischen Helikopters wird Putin keinen amerikanischen Kampfjet ins Visier nehmen. Aber Assad wird zögern, weitere Hubschrauber mit Fassbomben in oppositionelle Gebiete zu schicken.

Was nach militärischer Eskalation klingt, wäre in Wirklichkeit der erste Schritt heraus aus der Spirale der Gewalt. Denn sobald der Beschuss von Zivilisten spürbare Folgen hätte, müsste Assad seine „Ergebt euch oder sterbt“-Strategie, mit der er Orte im Umland von Damaskus bereits in die Kapitulation gebombt hat, überdenken.

Auch das Vorgehen der russischen Armee ist nicht hinnehmbar. Wenn diplomatische Bemühungen nicht fruchten, sollte die Europäische Union gezielte Sanktionen gegen russische Staatsbürger verhängen, die Verantwortung für die Kriegsführung in Syrien tragen oder davon wirtschaftlich profitieren (keine allgemeinen Wirtschaftssanktionen, die stets die Falschen treffen). Russische Rüstungskonzerne, deren Waffen in Syrien zum Einsatz kommen, sollten mit einem Boykott belegt werden. Dann müsste Putin kalkulieren, welche Konsequenzen er für die Unterstützung Assads bereit ist zu tragen, schließlich kostet seine Syrien-Intervention Milliarden, die Russland gar nicht hat. Ohne ausländische Hilfe wäre Assad aber weder in der Lage, Gebiete zurückzuerobern noch, diese unter seiner Kontrolle zu halten. Mit einer solchen nadelstichartig wirkenden Entschlossenheit könnten die Europäer den dringend benötigten Druck herstellen, der alle Kriegsparteien von der Notwendigkeit einer politischen Lösung überzeugt.

Hilfreich wäre auch ein internationales „tracking“, mit dem jede Flugbewegung über Syrien dokumentiert würde, zum Beispiel durch britische AWACS. Denn sobald für alle nachvollziehbar ist, wer in Syrien wo fliegt, wissen wir auch, wer wo bombardiert hat. Gegenseitige Schuldzuweisungen wären passé und das Benennen und Verurteilen von Verantwortlichen („naming and shaming“) könnte öffentlichen Druck erzeugen.

Was es braucht, ist also nicht mehr Engagement, sondern ein anderes. Diplomatie ist wichtig, weil auch der Syrien-Konflikt irgendwann am Verhandlungstisch enden wird. Aber so lange eine Konfliktpartei ungestört eine militärische Lösung vorantreiben kann, bringen Gespräche nichts. Damit Assad bereit ist, ernsthaft über einen Machtwechsel zu verhandeln (ohne den das Land keinen Frieden finden wird), muss er militärischen Gegenwind spüren. Ein Hauch könnte genügen – in Form der erwähnten Bombenverbotszonen.

Schon jetzt mischen wir Europäer uns militärisch ein (die Bundeswehr späht über Syrien IS-Ziele aus) und verraten dabei unsere Prinzipien. Denn während wir den Terror ohne UN-Mandat bekämpfen, bestehen wir auf ein solches für den Schutz von Zivilisten. Finden wir es wirklich in Ordnung, ohne Zustimmung des Weltsicherheitsrates in einem anderen Land zu bombardieren, aber nicht, die Menschen in diesem Land vor Bomben zu schützen? Wie verlogen. An Orten wie Syrien müssen wir uns einmischen, zur Not auch militärisch – nicht für eigene Machtinteressen, nicht für Öl und nicht zum Sturz von Regimen, sondern ausschließlich zum Schutz der Menschen vor Ort.

"Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!": Eine Gruppe von Schriftstellern hat für Mittwoch, den 7.12., in Berlin zu einem Protest vor der russischen Botschaft aufgerufen.