Konzernatlas: Protest, Boykott und Widerstand

Aus dem Konzernatlas 2017: Protest, Boykott und Widerstand
Teaser Bild Untertitel
Der bäuerliche Zusammenschluss La Via Campesina kämpft für Ernährungssouveränität und gilt als größte soziale Bewegung weltweit

In vielen Ländern wehren sich Menschen gegen eine Agrar- und Handelspolitik, die die Macht der Multis stärkt. Auch einzelne Konzerne wie Nestlé und RWE geraten in die Kritik. Ein Kapitel aus dem Konzernatlas.

Obwohl die Welternte 12 bis 14 Milliarden Menschen ernähren kann, hungern 800 Millionen von 7,5 Milliarden – fast jeder neunte Mensch. Die Mehrheit der Armen lebt auf dem und vom Land. Einerseits sind sie wirtschaftlich schwach, politisch marginalisiert und ständig existenziell bedroht. Andererseits ist gerade der Widerstand der Armen und Ärmsten gegen Landraub, Umweltzerstörung und Preisverfall vielfältig und scheint unermüdlich.

Die Bewegungen der Bäuerinnen und Bauern sowie der Landlosen, die in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Ländern des Südens entstanden sind, haben ihren Ausgangspunkt auch in indigenen Gemeinden. Sie kämpfen gegen Sojabarone, Palmölexporteure oder Bergbaukonzerne um ihre Landrechte und -titel. Und gegen den Verfall der Preise für ihre Produkte – der von Regierungen häufig gefördert wird. Denn davon profitieren die Armen in den Städten, die den Machthabenden oft wichtiger sind als die Menschen fernab auf dem Land.

Seit den 1990er-Jahren haben sich Organisationen von Bäuerinnen und Bauern, Indigenen, Fischerinnen und Fischern, Landarbeiterinnen und -arbeitern und anderen ländlichen sozialen Gruppen international vernetzt und versuchen, direkt Einfluss auf die internationale Agrar- und Ernährungspolitik zu nehmen, beispielsweise bei der UN- Agrar- und Ernährungsorganisation FAO. Im Internationalen Planungskomitee für Ernährungssouveränität (IPC) haben sich 22 solcher internationalen und regionalen Dachverbände zusammengeschlossen. Die bekannteste und größte Organisation ist La Via Campesina, übersetzt „Der bäuerliche Weg“, ein Zusammenschluss von 160 Organisationen aus 73 Ländern. Die Bewegung hebt insbesondere die Bedeutung von Frauen für Landwirtschaft und Welternährung hervor.

Protestmärsche, Netzwerke, Petitionen und Slow-Food

Der Widerstand ist vielfältig. In Indien demonstrierten im Jahr 2012 rund 60.000 Bäuerinnen, Bauern und Landlose mit monatelangen gewaltfreien Protestmärschen für Landreformen. Die weltweit beachteten Märsche von 2007 hatten zwar Hundertausenden den Zugang zu Land erleichtert.Doch die Armut insgesamt ging nicht spürbar zurück, weil Umverteilung und Investitionen nicht ausreichten.

In Europa hat der Widerstand von Bäuerinnen und Bauern und Nichtregierungsorganisationen bewirkt, dass Agrarbetriebe kaum gentechnisch veränderte Pflanzen anbauen und keine Gentech-Tiere nutzen können. Ein Netzwerk von 170 gentechnikfreien Regionen schützt lokal vor Gentechnikanbau und bekämpft ihn zugleich politisch. In Deutschland verhindern rund 250 Bürgerinitiativen im Netzwerk „Bauernhöfe statt Agrarfabriken“ jährlich im Schnitt 30 neue Megamastanlagen. Gemeinsam mit rund 50 weiteren Organisationen bilden sie die Kampagne „Meine Landwirtschaft“. Sie veranstaltet Kundgebungen und Kongresse, entwickelt aber auch neue Aktionsformen, seien es Umzingelungen von Schlachthöfen oder „Schnippeldiskos“ für Volksküchen.

Hunderttausende fordern bei Demonstrationen eine andere Handelspolitik mit Regeln für Konzerne und Rechte für Menschen; Millionen unterschreiben bei Onlineaktionen. Besonders genussvoll operiert die Slow-Food-Bewegung, deren Logo eine Schnecke als Symbol der Langsamkeit zeigt. Die fast 100.000 Mitglieder in 150 Ländern setzen auf regionale, saisonale und traditionelle Küche.

Geschichte des weltweiten Nestlé-Boykotts

Lobbykritische Organisationen wie das Corporate Europe Observatory oder Lobbycontrol decken immer wieder auf, wie Konzerne auf die Verteilung der Agrarsubventionen, die Handel- und Wissenschaftspolitik und die Verteilung staatlicher Forschungsgelder Einfluss nehmen. Auch die Kooperation mit Whistleblowern und unabhängigen Medien spielt für den Widerstand eine große Rolle. Denn Handelsgespräche werden hinter verschlossenen Türen und intransparent geführt. Widerstand und zivilgesellschaftliches Engagement haben kaum eine Chance, wenn kritischen Organisationen nicht Papiere und Informationen zugesteckt bekommen. Whistleblower, die Hinweise auf Skandale in der Fleischindustrie oder in Behörden geben, genießen bisher kaum rechtlichen Schutz und müssen sich auf vertrauliche Tipps beschränken.

Proteste gegen RWE und Nestlé

Handelsabkommen und damit Handelsregeln, die es Konzernen erleichtern, ihre Kontrolle von Märkten auszubauen, waren in den vergangenen Jahren nicht nur in Europa und Amerika Anstoß für Widerstand. Auch im Süden wehren sich Betroffene gegen Freihandelsabkommen. Als in Kamerun der Import von Hühnerfleischresten aus Europa die lokale Geflügelproduktion fast zerstört hatte, begann eine Bürgerbewegung mit einer Kampagne gegen die „Hähnchen des Todes“ aus Europa. Sie deckte etliche Missstände beim Import nach Kamerun und bei der Hygiene auf und mobilisierte Medien, Öffentlichkeit und Politik in den Städten und auf dem Land. Der Widerstand war nach drei Jahren erfolgreich: 2006 beschränkte die Regierung die Importmenge – trotz Drohungen aus der Welthandelsorganisation WTO.

Auch in Burkina Faso verlangen Landwirtschaft Betreibende von der Regierung, sie mit Zöllen zu schützen. Dort erschwert der Import von billigem Milchpulver der großen EU-Hersteller den Verkauf der heimischen Milch, der überwiegend von Frauen organisiert wird.

Unterstützt von deutschen NGOs klagt ein Kleinbauer aus den Bergen Perus in Deutschland gegen den Stromkonzern RWE, weil der wegen seiner Kraftwerksemissionen mit einem Prozent zur Erderwärmung beitrage. Damit sei er am drohenden Absturz eines gewaltigen Gletschers beteiligt, der das Dorf des Peruaners bedrohe. Der Ausgang des Verfahrens ist offen, aber die Zusammenarbeit Widerständiger zwischen den Kontinenten funktioniert.

Der weltweite Nestlé-Boykott von 1977 bis 1984 wegen dessen aggressiver Werbung für Babymilchpulver (siehe Kasten) war die vielleicht erfolgreichste Aktion gegen einen Lebensmittel-Multi überhaupt. Nestlé änderte schließlich sein Vorgehen, ein Kodex der Weltgesundheitsorganisation WHO reguliert seither solche Werbung. Aber bis heute ist Nestlés Ruf beschädigt.

» Den gesamten Konzernatlas können Sie hier herunterladen.