Ralf Fücks: "Für mich hat die Stiftung die Fenster zur Welt geöffnet"

Am 23. Juni 2017 wurde Ralf Fücks nach über 20 Jahren offiziell als Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung verabschiedet. Mit Sergey Lagodinsky, Leiter des Referats Europäische Union/Nordamerika, und Eva van de Rakt, Leiterin des Regionalbüros Prag, spricht er über seinen Werdegang und politische Entwicklungen.

Ralf Fücks am 23. Juni 2017 in der Heinrich-Böll-Stiftung
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Gleich wird Ralf Fücks den grünen Staffelstab an seine Nachfolgerin Ellen Ueberschär übergeben

Sergey Lagodinsky: 1996 hast Du als Vorstand Deine Arbeit in der Stiftung aufgenommen, nach einer – wie wir gerade gehört haben – politisch sehr aktiven und bewegten Zeit. Musstest Du damals lange überlegen? Warum hast Du Dich für die Stiftung entschieden?

Ralf Fücks: Wenn ich mich richtig erinnere, hat mich Lukas Beckmann damals angerufen und gefragt, ob ich den Job übernehmen wollte. Damals wurden die bisherigen drei grün-nahen Stiftungen (plus Dachverband) gerade fusioniert.

Für mich kam das Angebot wie gerufen: die Bremer Ampel war geplatzt, ich war etwas wundgescheuert und schaute mich nach neuen Horizonten um. Ich war ja schon immer an Ideenpolitik interessiert, insofern reizte mich die neue Rolle.  

Wir haben damals nicht auf einem weißen Blatt Papier angefangen – es gab die Traditionen der Vorläufer-Stiftungen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, zähe Verhandlungen über einen Sozialplan, die neue Struktur und die inhaltliche Ausrichtung unserer Arbeit. Dennoch hatten die Anfangsjahre etwas Romantisches. Wir waren ein Start-Up mit viel Enthusiasmus und Elan. Ich hoffe, dass dieser Geist des Aufbruchs immer noch lebendig ist, obwohl wir inzwischen zu einer etablierten Institution geworden sind.

Eva van de Rakt: Zu den Schwerpunkten, die sich als lange Linien durch Deine Zeit bei der Stiftung ziehen, gehören Grüne Ökonomie, Israel, die transatlantischen Beziehungen und Osteuropa. Eine freiheitliche Auslegung ökologischer Politik ist Dir ein besonderes Anliegen. Du hast immer betont, dass wir Ökologie mit dem Projekt der liberalen Moderne vereinbaren müssen. Wann kam Dir in den Sinn, dass die Allianz von Ökologie und Demokratie verteidigt werden muss?

Ralf Fücks: Dafür gab es vermutlich zwei Schlüsselerfahrungen: Zuerst die Zeit als Senator für Umwelt und Stadtentwicklung in Bremen mit all den Konflikten in die unterschiedlichsten Himmelsrichtungen, von den Naturschutzverbänden bis zur Bremer Handelskammer. Daraus habe ich gelernt, dass man ökologische Politik nicht mit dem Brecheisen durchsetzen kann, sondern eine tragfähige Mehrheit und breite Allianzen braucht. Letztlich ist die Bremer Ampel ja daran gescheitert, dass wir uns in der Koalition nicht auf belastbare Kompromisse einigen konnten.

Ein zweites Aha-Erlebnis war die Wieder-Lektüre der Bibel der frühen Umweltbewegung: den Bericht von Denis Meadows und seinem Team an den Club of Rome mit dem berühmten Titel „Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972. Mir fiel wie Schuppen von den Augen, wie stark der autoritäre Grundton ist, der sich durch das Buch zieht. Es geht um dreifache Kontrolle: über die Produktion, über den Konsum und über die Fortpflanzung. Das geht schon deutlich in Richtung eines autoritären Öko-Staats.

Es ist kein Zufall, dass Jørgen  Randers, damals einer der Mitarbeiter von Denis Meadows, heute ein Fan des „chinesischen Modells“ ist. Er traut der liberalen Demokratie nicht die Verzichtsleistungen zu, die aus seiner Sicht nötig sind, um die ökologische Krise einzudämmen.

Das ist die logische Konsequenz, wenn man Ökologie vor allem als Restriktion versteht: als Einschränkung, Verzicht und Verbot. Dann landet man bei Umerziehung und autoritärer Kontrolle. Eine freiheitliche Ökologie-Politik muss in erster Linie auf Innovation setzen und eine neue Fortschritts-Geschichte erzählen. Das ist der Grundgedanke von „Intelligent wachsen – die grüne Revolution.“

Sergey Lagodinsky: Als Bremer Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz hast Du 1995 in einem Interview betont, dass eine „intelligente Verknüpfung von Umweltschutz und Wirtschaftspolitik“ möglich ist. Als wichtigste Ressourcen einer grünen Ökonomie verstehst Du die Freisetzung von Kreativität und Innovation. Gewissermaßen hast Du die Geschichte des Fortschritts aus ökologischer Perspektive neu erzählt. Das ist eine sehr kulturoptimistische Vorstellung. Woher kommt dieser Optimismus?

Ralf Fücks: Man kann die Geschichte der Menschheit als eine einzige Kette von Kriegen und Gewalt, Krisen und Katastrophen betrachten – das war sie auch. Aber trotz allem Leid gibt es doch eine andere Geschichte von großartigen Erfindungen, von geistigem, materiellem und politischen Fortschritt, von Emanzipation und Freiheit. Ich vertraue auf unsere Fähigkeit, Auswege aus selbst erzeugten Sackgassen zu finden. Die menschliche Kreativität, unser Erfindungsreichtum ist die größte Produktivkraft von allen.

Ohne diesen „anthropologischen Optimismus“ kann man keine gute Politik machen. Das bedeutet keinen naiven Fortschrittsglauben, kein teleologisches Verständnis von Geschichte als Heilsversprechen. Nein, es kann auch schiefgehen. Auch das ist eine historische Lektion.

Deshalb brauchen wir eine Ordnung der Wirtschaft und der Politik, die Innovation und Eigeninitiative ermutigt und zugleich ein hohes Maß an Reflexion und Korrekturfähigkeit gewährleistet.

Die Kombination aus Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft ist ein solches System – das beste, das bisher erfunden wurde. Es verbindet politische und wirtschaftliche Freiheit mit einem Geflecht von Checks & Balances, das dem Machtmissbrauch entgegenwirkt und die gleiche Freiheit aller sichern soll.

Eva van de Rakt: Durch Deine starke internationale Präsenz hast Du das politische Profil der Stiftung als globales Netzwerk geschärft. Unsere Partnerinnen und Partner schätzen sehr, dass Du für unsere Werte brennst – das hat ganz wesentlich zur Glaubwürdigkeit unserer Arbeit vor Ort beigetragen. Die Aufbruchstimmung der 90er Jahre, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs einherging, hat die Arbeit der Stiftung in Mittel- und Osteuropa sehr geprägt. Wie erinnerst Du Dich an diese Zeit?

Ralf Fücks: Das ist eine durchaus ambivalente Erinnerung: Ich habe damals durchaus den Geist der Freiheit gespürt, diesen Moment von Euphorie, als die Leute aus Ost und West auf der Mauer saßen.

Ich war damals ja einer der Bundesvorstandssprecher der Grünen. Als die Nachricht von der Grenzöffnung kam, setzte ich mich ins Auto und fuhr von Bremen aus nach Berlin.

Aber wir konnten mit diesem historischen Ereignis politisch nicht angemessen umgehen: es gab in der Partei starke Vorbehalte gegen die Wiedervereinigung, kein Vertrauen in den zivilen, demokratischen Charakter der Bundesrepublik, Träume von der DDR als Vorreiter eines „dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Das alles mündete in den berühmten Wahlkampfslogan der West-Grünen für die „Einheitswahl“ im Dezember 1990: „Alle reden von Deutschland, wir reden vom Klima“ – Wir hatten damals schon die Klimafrage entdeckt und zum Wahlkampfthema gemacht. Das war vorausschauend, aber leider politisch komplett daneben. Die Quittung war, dass die Westgrünen mit 4,8 % aus dem Bundestag flogen, während Bündnis 90/Die Grünen im Osten mit 8 Mandaten den Sprung in das gesamtdeutsche Parlament schaffte. 

In den Jahren danach haben wir besser verstanden, welch ein Geschenk die Wiedervereinigung Europas auf demokratischer Grundlage war. Ich hätte mich 1990 an meine ursprünglichen Impulse gegenüber den Demokratie- und Freiheitsbewegungen in Mittel-Osteuropa erinnern sollen: ich saß als Schüler 1968 am Radio und fieberte mit dem Prager Frühling, und später engagierte ich mich in der Solidaritätsbewegung für die polnische Solidarność.

Bei den Grünen gehörte ich zu denen, die in den 80er Jahren mit Petra Kelly, Lukas Beckmann, Elisabeth Weber und anderen die Dissidenten im Osten unterstützten. Das sind die langen Linien, die bis heute unsere Arbeit in diesen Ländern prägen.

Eva van de Rakt: Wir haben es heute in einigen Nachbarländern der Europäischen Union mit autoritären Regimen zu tun, die der offenen Gesellschaft den Kampf angesagt haben. Aber auch innerhalb der EU gerät die liberale Demokratie unter Druck. Was bedeutet das für die Europaarbeit der Stiftung?  

Ralf Fücks: Zunächst heißt das: die Demokratiefrage ist zurück im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen. Wir können nicht davon ausgehen, dass der Sieg der liberalen Demokratie irreversibel ist, weder im Osten noch im Westen.

Auch wenn die letzten Wahlen – insbesondere in Frankreich – der antiliberalen Welle die Spitze gebrochen haben, ist noch lange keine Entwarnung angesagt. Dazu sind die gesellschaftlichen Verwerfungen zu tief, die zur Krise der liberalen Demokratie geführt haben: die Furcht vor sozialer Deklassierung, das Gefühl des Kontrollverlusts gegenüber der Globalisierung, die Abwehr gegen die Masseneinwanderung von Menschen aus anderen Kontinenten, der grassierende Zukunftspessimismus.

Das heißt auch: wenn wir den Kampf um die Demokratie gewinnen wollen, müssen wir Antworten auf diese Fragen geben, die das Zutrauen in die Handlungsfähigkeit demokratischer Politik wiederherstellen.

Von Macron kann man lernen, dass es nicht um die Verteidigung des Status Quo geht: Wir brauchen eine neue Fortschrittserzählung, die Weltoffenheit und Vielfalt mit Sicherheit verbindet. Das Schlüsselwort heißt „Sicherheit im Wandel“. Und wir brauchen eine ökonomische Reformperspektive für Europa, einen „Green New Deal“ mit Investitionen in ökologische Modernisierung und Bildung für alle.

Last not least: Wir haben schon in den letzten Jahren viel für den grenzüberschreitenden politischen Diskurs in Europa getan. Das ist in der aktuellen Lage umso dringlicher. Wir sind ja selbst ein gesamteuropäisches Netzwerk von Paris und Brüssel bis nach Kiew und Istanbul. Die Stiftung ist ein Protagonist bei der Herausbildung einer europäischen politischen Öffentlichkeit - diese Rolle sollten wir noch ausbauen.

Sergey Lagodinsky: Deinen Besuch letzte Woche in Israel hast Du als eine „sentimental journey“ bezeichnet. Dich verbindet sehr viel mit diesem Land. Bei der Eröffnung der israelischen Literaturtage 2016 sagtest Du: „Statt vorschnell zu urteilen und uns in die Pose der moralischen Überlegenheit zu werfen, die uns Deutschen schlecht ansteht, geht es ums Zuhören, nachfragen und miteinander reden.“  Das ist eine Einstellung, die für viele in Deutschland nicht selbstverständlich ist. Wie bist Du dazu gekommen und ist diese Haltung heutzutage einfach durchzuhalten?

Ralf Fücks: Ja, wir beobachten ja heute in Deutschland eine merkwürdige Verkehrung im Verhältnis zu Israel: vom zerknirschten Schuldbewusstsein zur moralischen Schulmeisterei – als ob wir ganz genau wüssten, was Israel zu tun und zu lassen hat. Da rate ich zur Zurückhaltung, nicht nur aufgrund unserer Geschichte, sondern weil die Verhältnisse im Nahen Osten sehr anders sind als in unserer mitteleuropäischen Komfortzone.

Für mich ist das Verhältnis zu Israel immer noch unlösbar von der großen Judenvernichtung durch Hitlerdeutschland geprägt. Das begann in meiner Schülerzeit, als ich anfing, mich mit dem Nationalsozialismus und der Shoa zu beschäftigen. Im 6-Tage-Krieg von 1967, als Nasser dazu aufrief, die Juden ins Meer zu treiben, fieberte ich mit den Israelis.

Später, in meiner linksradikalen Phase, gab es einen Bruch: große Teile der radikalen Linken betrachteten Israel nur noch durch die antiimperialistische Brille als Kolonialmacht und „Vorposten des westlichen Imperialismus“. Das ist ein ziemlich trübes Kapitel.

Meine heutige Haltung kann man vielleicht als „kritische Solidarität“ beschreiben: Selbstverständlich kann und soll man die israelische Besatzungspolitik oder die zunehmenden illiberalen Tendenzen in Israel selbst kritisieren. Aber wir sollten das aus einer Grundhaltung der Empathie tun und auf Belehrungen verzichten.

Als ich jetzt auf Abschiedstour in Israel war, hat mich Naomi Chazan, die große alte Dame der israelischen Zivilgesellschaft, als einen „wahren Freund Israels“ bezeichnet. Das hat mich sehr berührt. Ein Freund Israels zu sein, schließt eben nicht aus, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen, im Gegenteil. Aber wir sollten nicht so tun, als läge es allein am guten Willen der Israelis, morgen schon eine friedliche Lösung im Nahen Osten zu erreichen. Wir Europäer sind ja nicht mal in der Lage, den Zypern-Konflikt zu lösen. 

Sergey Lagodinsky: Du bist jemand, dem die transatlantischen Beziehungen ein politisches und persönliches Anliegen sind. Wir erleben nun eine Krise der transatlantischen Beziehungen und einen Test für die US-Demokratie. Ist die Wahl Trumps für Dich, der viel in das Verhältnis zu den USA investiert hat, eine persönliche Enttäuschung am Ende Deiner Zeit als Vorstand der Stiftung?

Ralf Fücks: Na ja, es bringt ja nichts, jetzt zu den Amis zu sagen: Wir sind aber arg enttäuscht darüber, dass ihr eine solche Figur als Präsident gewählt habt, das nehmen wir euch wirklich übel! Aber es stimmt natürlich, dass die Wahl Trumps ein Schlag ins Kontor der transatlantischen Beziehungen ist. Innenpolitisch setze ich darauf, dass die amerikanische Demokratie mit ihren Checks & Balances stark genug ist, Trump in die Schranken zu weisen. Aber der außenpolitische Flurschaden dieser Präsidentschaft ist jetzt schon gewaltig.

Das Gute an Trump ist, dass er als Weckruf für die Demokraten diesseits und jenseits des Atlantiks gewirkt hat. Wir sehen eine beeindruckende Gegenbewegung in den USA und einen Hallo-Wach-Effekt in der EU. Ich halte es mit dem ehemaligen Europaberater von Präsident Obama, Charles Kupchan, der auf unserer Außenpolitischen Jahrestagung letzte Woche ausgerufen hat: „Keine Sorge, wir werden zurückkommen, auch wenn es nicht einfach sein wird. Und bis dahin müsst ihr Europäer die Stellung halten.“

Also keine Abkehr von der transatlantischen Allianz, aber mehr internationale Verantwortung für Europa, auch im Hinblick auf eine aktive Sicherheitspolitik. Die Zeit ist vorbei, in der wir über die USA herziehen, uns aber zugleich hinter ihrem breiten Rücken verstecken konnten.

Eva van de Rakt: Als Vorstand hast Du die zwei Säulen, die unsere Stiftungsarbeit ausmachen – Ökologie und Demokratie – 21 Jahre mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern aufgebaut. Dieser Zweiklang prägt die Stiftung und wird sie auch weiter prägen. Wir möchten Dir ganz herzlich für Dein Engagement und Dein Vertrauen danken und Dich abschließend fragen: Was bedeutet die Stiftung im Rückblick für Dich?

Ralf Fücks: Oh, diese Frage kommt ein bisschen früh. Jetzt nur so viel: Sie war das Beste, das mir in meinem beruflichen und politischen Leben passiert ist. Das gilt vor allem für euch, für meine Kolleginnen und Mitstreiter in der Stiftung und für unsere Partner in aller Welt. Das ist ein großer menschlicher und intellektueller Reichtum.

Für mich hat die Stiftung die Fenster zur Welt geöffnet. Sie war über 21 Jahre hinweg ein fortlaufendes Studium Generale. Und dafür bin ich sehr, sehr dankbar.

 

Fotos von der Verabschiedung am 23. Juni 2017 in der Heinrich-Böll-Stiftung

 

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