
Fast 20 Millionen Wahlberechtigte entscheiden am 8. August 2017 über die politische Zukunft Kenias. Das Land ist gespalten, die beiden Lager liegen mehr oder weniger gleich auf. Viel steht auf dem Spiel und mit Gewalt muss gerechnet werden. Doch die eigentliche Frage ist, wie Kenia den schrittweisen Wandel zu einer politischen Kultur jenseits der ethnischen Arithmetik schaffen kann.

Präsident Uhuru Kenyatta bewirbt sich um eine zweite Amtszeit. Verliert er, geht er als erster in freien Wahlen geschlagener Regierungschef in die Geschichte ein – und zwar nicht nur in die Geschichte Kenias, sondern der gesamten Region Ostafrika/Horn von Afrika[1]. Es wäre ein historischer Schlag für die politischen Dynastien, ökonomischen Interessengruppen und ethnischen Allianzen, die hinter der amtierenden Regierung stehen und das politische Geschehen mit großer Kontinuität seit der Unabhängigkeit dominieren.
Die Opposition hat sich dagegen in einer breit angelegten „Nationalen Super-Allianz“ (NASA) um den politischen Veteranen und ehemaligen Premierminister Raila Odinga gesammelt. Es ist seine vierte und - altersbedingt - wohl auch letzte Kandidatur. Auf Fragen nach seiner Vehemenz sagt Raila Odinga augenzwinkernd, er habe zwar schon dreimal kandidiert, sei jedoch nur einmal geschlagen worden. Ein zentrales Narrativ der Opposition ist, dass ihr der Sieg 2007 und 2013 gestohlen wurde. Gerade deshalb ist eine Wahlniederlage bei diesem vierten Anlauf für die meisten seiner Anhänger/innen vollkommen unvorstellbar.
Sieg als einzige Option
Angesichts des großen Risikos für beide Seiten ist im Wahlkampf mit harten Bandagen gekämpft worden. Über Monate dämonisierten sich beide Lager gegenseitig wahlweise als Diebe, Diktatoren, Störenfriede und Lügner. Neben den bewährten Massenversammlungen unter freiem Himmel und pausenloser Beschallung durch Radiosender in lokalen Sprachen haben dabei soziale Medien weiter an Gewicht gewonnen. Fake news - vorsätzliche Lügen über politische Gegner - wurden auch in Kenia im großen Stil von bezahlten Handlangern verbreitet. Viel über die inhaltlichen Trends sagt aus, dass dabei öffentliche Plattformen wie Facebook und Twitter an Bedeutung verloren gegenüber Whatsapp und anderen geschlossenen Netzwerken. Letztere können nicht ohne weiteres von außen überwacht werden, so dass umso hemmungsloser gelogen werden kann.
Über die Verleumdung der gegnerischen Seite hinaus haben beide Seiten das Blickfeld ihrer Anhängerschaft systematisch auf den Sieg um jeden Preis verengt. Alle Stellen im Regierungssektor würden neu besetzt, wenn die Opposition siege. Die stolzen Männer jener Ethnien, die die Regierungsseite dominieren, würden gedemütigt und ihrer Männlichkeit beraubt. Land und Häuser würden enteignet. Mit solchen Horrorszenarien sollen die Reihen geschlossen und das „Stimmvieh“ an die Urne geführt werden. Im Spiegelbild konzentriert die Opposition sich darauf, die Fairness der Wahl schon in Frage zu stellen, bevor diese überhaupt stattgefunden hat. In der Rhetorik wird ein erneuter Wahlsieg Kenyattas mit Wahlbetrug quasi gleichgesetzt. Die Möglichkeit, im Falle einer Niederlage die Gerichte anzurufen, wird mit Verweis auf schlechte Erfahrungen bei der letzten Wahl verteufelt. Die Botschaft beider Parteien ist eindeutig: Eine Niederlage ist ausgeschlossen, es geht um alles. „Wie zwei Züge rasen die beiden Kandidaten ungebremst aufeinander zu“, beschrieb es ein politischer Beobachter schon vor Wochen.
Stille Panik
Im Zusammenhang mit Wahlen hat es in Kenia – in unterschiedlicher Form – schon in den neunziger Jahren Gewalt gegeben. Besonders dramatisch eskalierte die Lage 2007, nachdem die Auszählung der Stimmen zu einem undurchsichtigen Chaos geriet. Mindestens 1.300 Menschen wurden getötet, Hundertausende vertrieben, der Internationale Gerichtshof ermittelte.
Eine „stille Panik“ beschrieb Dauti Kahura[2] schon vor einem Monat. Viele der in Nairobi ansässigen „lokalen Diaspora“, also den Wählerinnen und Wählern in Nairobi, die aus dem oppositionstreuen Westen Kenias kommen, planten am Wahltag als erste zu wählen und direkt anschließend in ihre Heimat zu fahren und dort in Sicherheit auf die Verkündung der Wahlergebnisse zu warten.
Nachdem Ende Juli der IT-Manager der Wahlkommission verschwand und später gefoltert und ermordet aufgefunden wurde, schlug die stille in offene Panik um. Die Busse gen Westen waren über Tage überfüllt, viele reisten sogar mit ihrem Hab und Gut. Ein deutliches Indiz dafür, wie Teile der Bevölkerung das Gewaltrisiko einschätzen, besonders wenn man bedenkt, dass eine Abreise vor der Wahl in vielen Fällen auch den Verlust der eigenen Stimmabgabe bedeutet. Das Wählerregister ist an Wahllokale gebunden.
Trotz des offensichtlichen Bedarfs ist die Mobilisierung von Friedensgruppen 2017 weit geringer ausgefallen, als dies noch 2013 – der ersten Wahl nach der massiven Gewalt von 2007/2008 – der Fall war. Auch die Aufklärung der Wähler/innen über das Prozedere durch Zivilgesellschaft und Wahlkommission kam viel zu kurz – nicht zuletzt, weil die Mittel und die politischen Spielräume dafür fehlten. Von offizieller Seite war schon Ende 2016 deutlich gemacht worden, dass ausländische Geber und internationale Nichtregierungsorganisationen sich hier rauszuhalten hätten. Der Staat setzt vielmehr vor allem auf den eigenen Apparat. 150.000 Polizisten wurden mobilisiert – mehr als doppelt so viele, wie die reguläre Polizei umfasst. Mit einem harten Durchgreifen, gegebenenfalls auch der Armee, wird gerechnet.
In welchem Umfang es in den nächsten Tagen zu Gewalt kommen wird, ist schwer vorherzusagen. Aber wenige Beobachter/innen zweifeln daran, dass die Lage zumindest punktuell auf der lokalen Ebene eskalieren wird, auch im Zusammenhang mit den fünf parallelen Wahlen der Gouverneure, Senatoren, nationalen und lokalen Parlamentsabgeordneten inklusive der reservierten Sitze für Frauenvertreterinnen[3].
Free + fair = friedlich?
Inwiefern die Lage auf nationaler Ebene nach der Verkündigung des Wahlergebnisses eskaliert, hängt wohl in erster Linie davon ab, ob diese Wahlen frei und fair ablaufen – und auch so wahrgenommen werden. Prozedural hat die Opposition hier in den letzten 12 Monaten viel erreicht. Mit Straßenprotesten setzte sie eine Neubesetzung des Vorstandes der Wahlkommission durch, da die vorherige Kommission als parteiisch und korrupt galt. Vor Gericht wurden verbesserte Verfahrensregeln vor allem für die Auszählung erstritten. Auch wurde das Wählerregister einer unabhängigen Prüfung unterzogen – wobei allerdings festgestellt wurde, dass sich geschätzt noch immer mehr als eine Millionen verstorbene Wähler/innen im Register befinden.
Die Wahlkommission, die sich häufig schwer tat, ihr Vorgehen effektiv zu kommunizieren, hat vor allem in die IT-Komponente der Wahlen investiert, um den Prozess transparenter und fair zu gestalten – was den Mord an ihrem IT-Manager wenige Tag vor der Wahl umso dramatischer erscheinen ließ. Zum einen sollen Wähler/innen in der Regel per Fingerabdruck identifiziert werden, bevor sie ihre Stimmzettel ausgehändigt bekommen. Zum anderen sollen die Wahlergebnisse elektronisch direkt vom Wahllokal übermittelt werden. Beide Elemente würden sicherlich das Vertrauen in das Verfahren stärken – sofern sie in der Praxis funktionieren. 2013 scheiterte ein Teil der IT-Systeme spektakulär, was die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses in Teilen der Bevölkerung erheblich beeinträchtigte. Angesichts der angespannten Lage und des hohen Einsatzes auf beiden Seiten wäre ein erneuter Ausfall der IT-Systeme besonders bei der Übertragung der Ergebnisse fatal für die Wahlkommission, mit nicht absehbaren Folgen für Kenia. Die erst zwei Tage vor der Wahl erfolgte Ankündigung der Wahlkommission, dass mehr als ein Viertel aller Wahllokale keine direkte Internetanbindung haben wird, hat nicht dazu beigetragen, den Optimismus zu stärken.
Etwas Zuversicht scheint die Präsenz zahlreicher Wahlbeobachter/innen zu verbreiten. Mehr als 5.000 internationale und lokale Beobachter/innen sind akkreditiert, darunter Delegationen der Afrikanischen Union, des Commonwealth, der EU, des Carter Center und bilateraler Missionen. Insbesondere die Präsenz des ehemaligen Präsidenten Südafrikas, Thabo Mbeki, und des ehemaligen US-Außenministers John Kerry, machen deutlich, dass auch das Ausland weiß, wie viel bei diesem Urnengang auf dem Spiel steht.
Jenseits der Integrität des Wahlprozesses (und seiner Wahrnehmung) wird sicherlich der Abstand zwischen Sieger und Verlierer den weiteren Verlauf nach der Verkündigung der Ergebnisse und das Kalkül der politischen Lager entscheidend mitbestimmen. Es wird allgemein mit einem sehr knappen Ergebnis gerechnet. Je knapper der Abstand, umso größer die Versuchung, den Prozess in Frage zu stellen.
Alternativen zur ethnischen Arithmetik
Auch wenn der Wahlkampf zwei klare Wahlalternativen hervorgebracht hat, stehen beide in einer politischen Tradition, mit der viele Kenianerinnen und Kenianer – jedenfalls jenseits des Wahlkampffiebers – eigentlich brechen möchten. Denn kenianische Politik hat noch immer viel zu wenig mit politischen Inhalten und zu viel mit ethnischer Arithmetik zu tun. Obwohl das politische System Kenias – besonders im regionalen Vergleich – reichlich Raum für freie Meinungsäußerung, Organisation von Interessen und Debatte bietet, sind brennende soziale Themen wie die dramatisch gestiegenen Lebenshaltungskosten oder die andauernden Streiks im Gesundheitswesen politisch kaum zum Tragen gekommen.
Stattdessen ist auch dieser Wahlkampf vor allem wieder entlang ethnischer Linien geführt worden. „All das Getöse auf der Straße, obwohl die eigentlichen Entscheidungen Monate zuvor am Verhandlungstisch gefällt werden“, sagt ein kenianischer Filmemacher. Gemeint ist das Geschachere um Allianzen auf lokaler und nationaler Ebene, bei denen es um viel Geld und Positionen geht. An deren Ende ist ein großer Teil der Wahl bereits gelaufen. Je nach dem, auf welche Seite sich der jeweilige Big Man schlägt - Frauen spielen hier kaum eine Rolle - wird seine ethnische Gefolgschaft politisch orientiert. Und die Wählerschaft folgt, motiviert von der steten Erwartung, von staatlichen Ressourcen nur profitieren zu können, wenn „der eigene Mann“ politisch Erfolg hat.
Aber zumindest jenseits der Präsidentschaftswahl, bei der neben Uhuru Kenyatta und Raila Odinga sechs weitere Kandidaten aussichtslos antraten, sind Brüche mit dem Blockdenken erkennbar. Es gibt also trotz der kurzfristig bedrohlichen Aussichten zumindest Anlass zur Hoffnung auf einen schrittweisen Wandel. Dies machte bereits der Nominierungsprozess für die Kandidatinnen und Kandidaten auf lokaler Ebene zumindest punktuell deutlich. Amtierende Gouverneure, Senatoren und Abgeordnete scheiterten krachend, weil die Wählerschaft sich nicht mehr mit den vor der Wahl verteilten Almosen zufrieden geben wollte. Zudem traten zahlreiche Kandidatinnen und Kandidaten, die durch Korruption oder auf Geheiß ihrer Parteiführung nicht wieder aufgestellt wurden, als unabhängige Kandidat/innen an. Eine Reihe kleiner Parteien widersetzte sich zudem dem Druck, sich den beiden großen Allianzen anschließen zu müssen.
Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die junge Partei „Ukweli“ (Wahrheit) rund um Boniface Mwangi, der es gewagt hat, das Establishment beider großen Blöcke im Herzen Nairobis herauszufordern. Der Aktivist, der einst mit einer LKW-Ladung Schweinen vor dem Parlament gegen die Dekadenz der hochbezahlten Abgeordneten demonstrierte, will das hohe Haus nun von innen verändern. Im Gegensatz zu den etablierten Parteien setzte Ukweli auf klassischen Graswurzelwahlkampf. Entgegen der allgegenwärtigen Wählerbestechung verteilte Mwangi sein Wahlprogramm im Plagiat eines Geldscheins („Money-Festo“). Er traute sich, die Wähler/innen um Geld für seinen Wahlkampf zu bitten – bis dato ein absurder Gedanke in der etablierten politischen Kultur. Kleinspenden deckten am Ende den Großteil des Wahlkampfs. Statt großen Versammlungen und Reden vom Podium herab arbeiteten sich die Kandidatinnen und Kandidaten der Partei zu Fuß und meist ohne Lautsprecher durch die Stadtviertel, führten persönliche Gespräche, klopften an Türen und hörten vor allem zu. Damit hat die Partei schon jetzt demonstriert, dass Politik auch anders funktionieren kann.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Wahlen für Kenia jenseits ihrer enormen Risiken und Kosten auch einen weiteren Schritt in Richtung einer sich wandelnden politischen Kultur markieren werden.