Der Hamburger Zeithistoriker Axel Schildt kennzeichnet in seinem biographischen Abriss den Aufstieg Heinrich Bölls zu „Deutschlands erfolgreichstem Nachkriegsautor“. Er verweist auf die humanistische und tolerante Grundhaltung, die Bölls Nonkonformismus gegenüber der deutschen Nachkriegsgesellschaft begründete und ihn zu einer moralischen Instanz machte. Seine Kritik an dem Klerikalismus und dem „vatikanischen Triumphalismus“ untermauerte die zeitgenössische Diagnose der „Restauration“. Schildt stellt aber auch die Unterstützernetzwerke des Kulturlebens der frühen Bundesrepublik dar (Gruppe 47) und die Bedeutung, die diese für den Aufstieg des späteren Nobelpreisträgers Böll hatten.

"Ich habe in Vorbereitung meines Vortrags zunächst etwas spekuliert, warum und wie die Heinrich-Böll-Stiftung vor 20 Jahren zu ihrem Namensträger kam und welchen Heinrich Böll sie eigentlich für sich reklamiert hat. Ich vermute, vor Augen stand der Böll der Friedensbewegung, der sich gegen die massenmediale Erzeugung einer moral panic und die Hatz auf sogenannte Sympathisanten wandte und dafür von der Bild-Zeitung bis zum späteren Bundespräsidenten Karl Carstens in widerlicher Weise verunglimpft wurde; der Böll, der sich an Sitzstreiks gegen die Stationierung von atomaren Raketen beteiligte; und der Böll, der prominente Dissidenten aus den „realsozialistischen“ Ländern bei sich aufnahm und ihren Belangen eine breite Öffentlichkeit sicherte. Kurz: Vor Augen stand und steht auch einer allgemeinen Öffentlichkeit vor allem der „späte Böll“ seit ungefähr seinem 55. Lebensjahr, die Personifizierung des guten, moralisch integren Menschen, der, wie manche Kritiker leicht abschätzig schrieben, den Nobelpreis für Literatur 1972 in dieser Eigenschaft erhielt.
Ich werde mich heute mit dem „jungen Böll“ beschäftigen, dem Böll zwischen ungefähr 30 und 45, dem Böll in seiner Aufstiegsphase zu einem der führenden public intellectuals. In diesem Zusammenhang nur eine kleine Anmerkung zum Ankündigungstext auf dem Flyer für diesen Vortrag. Der Titel „Engagement und Moral: Das „Nie Wieder“ der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ stimmt sinngemäß. Aber als Quellenbegriff, und ich habe mich lange mit den 1950er Jahren befasst, taucht er bei den Zeitgenossen eher selten auf, am ehesten noch beim Kampf gegen die Wiederbewaffnung, und auf dieses Thema würde ich Bölls Interventionen nicht einengen. Es ist richtig, dass das Kriegserlebnis sein ganzes Leben und sein gesamtes literarisches und publizistisches Ouevre bestimmt hat, aber eben nicht nur seine Interventionen gegen Wiederbewaffnung und später gegen die Pläne zur Atombewaffnung der Bundeswehr, sondern eine dezidiert humanistische und tolerante Grundhaltung.
Böll als nonkonformistischer Aussenseiter
Wenn man in der zeitgenössischen Semantik bleiben möchte, wären zwei andere Begriffe hervorzuheben: Der eine Begriff ist derjenige der „Restauration“, der 1950 von Walter Dirks in der linkskatholischen Zeitschrift Frankfurter Hefte eingeführt wurde. „Restauration“ war eine Art Enttäuschungsbegriff, drückte aus, dass eine radikale Neuordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens, und das hieß: die Verbindung von sozialistischer Arbeiterbewegung und christlichem Engagement, ausgeblieben war und stattdessen eine spießbürgerliche Sekurität wieder – wie vor 1933 – das Denken der Menschen bestimmte. In dieser restaurativen Epoche, in der auch keine ehrliche Aufarbeitung der NS-Belastungen möglich war, verortete man – und dieses „man“ schließt Heinrich Böll ein – …verortete man sich als „nonkonformistische“ Außenseiter. Der „Nonkonformismus“ als kritischer Komplementärbegriff zur „Restauration“ ist der zweite geradezu ubiquitär anzutreffende Begriff der 1950er Jahre. „Nonkonformismus“ zeigte keine politische Richtung an, sondern die Abgrenzung von der neuen bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft mit ihrer Doppelmoral. Ende der 70er Jahre wurde Böll von dem Publizisten Charles Schüddekopf die Frage gestellt, ob die ein Jahrzehnt zurückliegende jugendliche Revolte auch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun habe. Böll antwortete: „Ja, ja. Ich sehe den Zusammenhang ganz eindeutig, und zwar gibt es eine Möglichkeit, das vielleicht bildhaft zu erklären. Wenn Sie sich vorstellen, mit welch einem Pomp und mit welch einem Aufwand die Woche der Brüderlichkeit begangen worden ist. (...) Es war sehr feierlich. Aber darunter passierte nichts. Weder in den Familien noch in den Schulen. Das war damit, mit der Woche der Brüderlichkeit und ihren Veranstaltungen war das sozusagen erledigt. Jetzt haben wir unsere Pflicht getan, Schluß. Und da hat eben sowohl Verdrängung wie Heuchelei stattgefunden.“
Engagement und Moral: Das „Nie Wieder“ der deutschen Nachkriegsgesellschaft - Vortrag Axel Schildt - Heinrich-Böll-Stiftung

Ich will an dieser Stelle gar nicht darüber urteilen, ob die Charakterisierung der frühen Bundesrepublik mit dem vagen Begriff der „Restauration“ angemessen war. Es geht mir hier nur um die Wahrnehmung der Zeitgenossen. Und Illusionen über die Beschaffenheit einer Gesellschaft können durchaus eine Produktivkraft für das eigene Engagement darstellen.
Aufstieg zu einem führenden Intellektuellen der Bundesrepublik
Der Aufstieg Bölls begann direkt nach 1945. Sein erster Nachkriegsroman „Kreuz ohne Liebe“ erschien 1946, als er 32 Jahre alt war (letztlich nahm er hier die Auseinandersetzung mit der Kirche wieder auf, die bereits Thema seines unbekannt gebliebenen Erstlings 1939 gewesen war). Nach ökonomisch schwierigen Anfängen mit zahlreichen kleinen Beiträgen, Kurzgeschichten und Hörspielen, begann in der unmittelbaren Nachkriegszeit seine steile Karriere, die ich nicht in allen Facetten und schon gar nicht literaturwissenschaftlich beleuchten kann und will. Ich beschränke mich auf einige wichtige Aspekte und möchte vor allem versuchen zu erklären, wie Böll sich in der frühen Bundesrepublik, in der Gesellschaft des Wiederaufbaus, in der Ära Adenauer kulturell und politisch positionierte und zu einem der führenden Intellektuellen des Landes aufstieg.
Nur eine Anmerkung zur Forschungslage. Leider gibt es bisher keine Biographie von Heinrich Böll, die auch nur annähernd geschichtswissenschaftlichen Standards genügt. Wie Sie wissen, ist der größte Teil des Nachlasses nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs in den Fluten des Rheins verschollen – das lässt Historiker zögern. Wenn man aber nicht als Literaturwissenschaftler, sondern als Zeithistoriker über Heinrich Böll spricht, bedarf das zudem immer noch einer Erläuterung oder sogar Rechtfertigung:
Erstens: Die Romane der 1950er und frühen 1960er Jahre von Wolfgang Koeppen, Martin Walser, Günter Grass – und nicht zuletzt und vielleicht am besten Heinrich Böll – drücken die Bewusstseinsformen und das Zeitgefühl derart markant und sinnfällig aus, dass Zeithistoriker nicht mehr darauf verzichten, sie in ihre Darstellung zu integrieren und ihnen sogar besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Dass einige Historiker dabei fiktionale Erzählungen mit der Ereignisgeschichte konfrontieren, zeugt dabei nur von ihrer Ignoranz. Literarische Texte sind eben – mitunter fantastische – Quellen für subjektive Prozesse; das gilt für Heinrich Böll in besonderem Maße, weil er in seinen Romanen und Erzählungen historische und zeitgenössische Kontexte stets reflektiert hat.
Politisch engagierter Publizist mit Kriegserfahrung
Und zweitens: Heinrich Böll war kein Schriftsteller, der sich mit der Herstellung von Belletristik begnügte. Zugleich war er ein engagierter politischer Publizist – etwa ein Drittel seines Werks, das haben Germanisten ausgezählt, besteht aus Interviews, in denen er bisweilen brillierte. Auch seine literarischen Texte behandelten ihn bedrängende politische Fragen. Der Krieg, das Sterben und die Traumata der zurückkehrenden einfachen Soldaten, die von einer verantwortungslosen Führung des NS-Regimes geopfert wurden und die sich in der Nachkriegsordnung nicht zurechtfanden, bildeten einen Schwerpunkt seines Frühwerks, aber auch den Hintergrund seines späteren Schaffens.
Das gesamte literarische und publizistische Engagement Bölls ist ohne die Kriegserfahrung überhaupt nicht zu verstehen. Aus einer katholischen Handwerkerfamilie stammend, sein Vater betrieb ein Schreinergeschäft, die zum Milieu der Zentrumspartei gehörte und in der von Anfang an eine tiefe Abneigung gegen Hitler und seine Paladine herrschte, zeigte Heinrich Böll keinerlei Neigungen zu militärischen Abenteuern. Schon die Straßengewalt der SA, dem, ich zitiere Heinrich Böll, „Bodensatz des verkommenen Kleinbürgertums“, stieß ihn ab. Das war die klassenmäßige Abscheu des Gymnasiasten gegenüber dem Plebs. Er schaffte es auch, nicht Mitglied der Hitler-Jugend werden zu müssen. Aber nach dem Abitur 1937, einer nach elf Monaten abgebrochenen Buchhändlerlehre, einem Jahr beim Reichsarbeitsdienst und einem gerade begonnenen Studium der Germanistik und Klassischen Philologie an der Kölner Universität wurde er im Sommer 1939 zur Wehrmacht einberufen und machte den gesamten Krieg mit, bis er am Ende in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet. Aus der Edition der Briefe, die er mit seiner 1942 angetrauten Frau Annemarie Cech wechselte, lässt sich herauslesen, wie sehr Heinrich Böll die Ankunft der Amerikaner und das Ende des Krieges herbeisehnte; er sprach auch später häufig von der „re-education-Generation“, die nach dem Krieg von (positiven) Einflüssen alliierter Umerziehung geprägt gewesen sei.
Traum einer völlig neuen politischen Ordnung nach 1945
Aus den Briefen an seiner Frau geht ebenso deutlich die Verachtung gegenüber den Schergen des NS-Regimes hervor, die Deserteure massenhaft erschießen und aufhängen ließen, während sie selbst ihre Flucht vorbereiteten.
Nur nebenbei: Dass der Zeithistoriker Götz Aly in seinem damals viel diskutierten Buch „Hitlers Volksstaat“ (2005) Heinrich Böll ein Dutzend Mal erwähnte und als Beispiel für seine These verwandte, es seien nicht zuletzt die einfachen deutschen Soldaten gewesen, die sich an der Ausplünderung der besetzten Länder Europas beteiligten, grenzt an üble Nachrede. Aly nutzte die edierten Feldpostbriefe Bölls, um zu zeigen, wie brüchig das moralische Fundament auch eines später gerade wegen seiner humanen Haltung verehrten Intellektuellen in Wirklichkeit war. Aber Böll war noch längst kein Nutznießer des deutschen Raubkrieges, weil er von Rotterdam aus ein Pfund Kaffee und von Paris aus drei Pfund Zwiebeln, Damenschuhe und eine Nagelschere an seine Eltern in Köln schickte und dabei vom günstigen Umrechnungskurs profitierte; der vom NS-Regime entfesselte Krieg hatte ihm vielmehr seine besten Jahre gestohlen, er war kompromisslos gegen diesen Krieg und hat ihn nicht genossen. Böll selbst hat übrigens im „Literaturmagazin“ 1979, eine bei Aly nicht zitierte Stelle, sehr freimütig bekannt, dass die Soldaten der Wehrmacht alle „potentielle Diebe waren, die in ganz Europa geklaut haben, was eben möglich war…“ Und in seinen Feldpostbriefen hat er seine Skrupel durchaus reflektiert.
Böll träumte 1945 die Träume einer jungen Generation, die eine völlig neue politische Ordnung aufbauen wollte, in der die Lügen keine Chance mehr haben sollten, die die Kriegspropaganda des „Dritten Reiches“ charakterisiert und ihn überhaupt erst möglich gemacht hatten; Träume und Sehnsüchte, die nach dem Ausbruch des Kalten Krieges und nach der Gründung der Bonner Republik jäh desillusioniert, aber nicht abgegolten worden waren.
Enttäuschung über nicht realisierten Kommunismus
Diese Erfahrung einer Enttäuschung, die auch Heinrich Böll als „Restauration“ galt, bildete einen weiteren Schwerpunkt seines Ouevres – wobei der Inhalt des Restaurierten – war vor allem die Ökonomie, die Politik oder die Kultur gemeint, handelte es sich beim Restaurierten um die 1920 oder 1930er Jahre? – wie bereits erwähnt etwas vage blieb. In einem Interview hat er 1967 seiner Enttäuschung darüber, dass es keinen radikalen gesellschaftlichen Wechsel gegeben hatte, beredten und bizarren Ausdruck verliehen:
„Von einigen Ausnahmen abgesehen sind die Angehörigen meiner Altersklasse gar nicht dazu gekommen, Kommunisten zu werden. Sie haben diesen, wie ich finde, notwendigen geistigen Prozess versäumt, einen Prozess, den ich aber nicht etwa als Turnübung verstehe, sondern der so von statten geht, dass einer tatsächlich Kommunist wird und es möglicherweise auch bleibt. Und ich führe das miserable politische Leben in der Bundesrepublik darauf zurück, dass nicht wenigstens einige von uns Kommunisten geworden und es auch geblieben sind. (…) Aber meiner Altersklasse ist die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, die Chance und Gefahr, möchte ich sagen, ihm zugehörig zu werden, durch Hitler und Stalin sehr erleichtert und zu häufig erspart worden. Vielleicht wäre ich – solche hypothetischen Spielregeln erlaubt sich ja jeder hin und wieder – Kommunist geworden. Vielleicht bin ich ein verhinderter Kommunist…ich möchte nur, dass dem Kommunismus in der Ausübung seiner Macht mindestens so viele Jahrhunderte Zeit gegeben wird, wie sie der Kapitalismus gehabt hat. Denn ich halte den Kommunismus immer noch für eine Hoffnung, für eine Möglichkeit des Menschen, sich die Erde <untertan zu machen>, ihr Ordnung zu geben – wobei wir übrigens meinetwegen auch das Wort <Sozialismus> gebrauchen können.“
Aber so wenig der Kapitalismus von Böll als Gesellschaftsformation analytisch erfasst wurde, so sehr handelte es sich bei der Enttäuschung über den nicht realisierten Kommunismus um eine recht unbestimmte Theodizee, die auch bei anderen Schriftstellern der Gruppe 47 anzutreffen war. Nebenbei gesagt: Arbeiter sucht man unter den Romanfiguren Bölls vergeblich.
Vatikanischer Triumphalismus und rheinische Bürgerlichkeit
Allerdings meinte Heinrich Böll ein Element der „Restauration“ sehr genau erkannt zu haben. Als unter dem vatikanischen Triumphalismus und der rheinischen Bürgerlichkeit seiner Kirche leidender Katholik machte er den Klerikalismus, der ja tatsächlich das subjektive Ambiente der politischen Kultur in der Ära Adenauer in starkem Maße prägte, als wichtiges Hindernis gegen die Durchsetzung humaner Zustände aus. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens ein Blick in die Hefte der DDR-„Zeitschrift für Philosophie“ der frühen 1960er Jahre, in denen etliche Aufsätze den Bonner „Klerikalfaschismus“ attackierten. Für kurze Zeit war das die meistgebrauchte Charakterisierung der Bundesrepublik in der DDR, Beleg einer eklatanten Fehleinschätzung also nicht nur Bölls, sondern auch der marxistischen Philosophen. Denn was man fest im Sattel wähnte, trat tatsächlich gerade den Abstieg an.
Gleichwohl – in dem meiner Meinung nach wichtigsten literarischen Werk Heinrich Bölls, dem Roman „Ansichten eines Clowns“ (1963), sind ihm meisterhaft dichte Schilderungen des rheinisch-katholischen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieus in seiner bundesrepublikanischen Spätblüte gelungen. Die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus ist insofern als weiterer und genuin zeitgenössischer Schwerpunkt des Frühwerks und das genannte Buch als dessen Höhepunkt und Abschluss zu identifizieren. Subkutan wirkte dieses Motiv weiter, auch der „späte“ Böll ist ohne die stete Auseinandersetzung mit seiner Kirche nicht zu verstehen. In einem Interview äußerte er 1974:
„Und mein Verhältnis zur katholischen Kirche als Institution ist vergleichbar meinem Verhältnis zum Deutschsein: ständige Spannung, ständige Ablehnung – und Wissen; doch dazuzugehören – unvermeidlich, ganz gleich, ob da irgendwelche Inhalte, Formen, Glaubensgeschichten eine Rolle spielen.“
Mit diesem Zitat wird übrigens ein feiner Unterschied zur DDR-Propaganda der frühen 1960er Jahre gegen den rheinischen „Klerikalfaschismus“ markiert. Bölls Kritik wurde nicht wie von den Kommunisten von der Zitadelle eines preußisch-deutschen Nationalismus aus artikuliert. Ihm war vielmehr das Deutschnationale und Preußische genauso suspekt wie das Bürgerlich-Katholische. Hier stand er in der Tradition seines Elternhauses, denn der Konflikt mit den preußischen Ursupatoren im ersten und zweiten Kulturkampf des 19. Jahrhunderts einte milieuübergreifend alle katholischen Rheinländer. Dass der verkommene kaiserliche Feldmarschall Hindenburg den Staat an Hitler auslieferte, passte in diese Sicht der Dinge ebenso wie die Bilder des Kölner Kardinal Joseph Frings, der im Beisein von Bundeskanzler Adenauer am 10. Oktober 1956 in der Kölner Gereonskirche den ersten (und nicht letzten) Bundeswehrgottesdienst zelebrierte.
Jedes Jahr ein neuer Roman
Zurück zur Skizze des jungen Heinrich Böll auf dem Wege zu einem der führenden westdeutschen Intellektuellen in den 1950er Jahren. Die Gruppe, auf die alle Siegermächte die größten Hoffnungen setzten, war die junge Generation, deren Angehörige aus den Kriegsgefangenenlagern in die Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften geholt wurden, wie etwa Hans Werner Richter und Alfred Andersch, die zeitweise den legendären Ruf herausgaben. Auch Heinrich Böll und weitere Mitglieder der Gruppe 47 (Böll erhielt die Einladung erstmals 1951) gehörten dazu. Sie stilisierten sich als Jugend – mit dem Schicksal, als Soldat in den Krieg gezwungen worden zu sein. Dazu gehörte auch die Konstruktion des Mythos eines Nullpunktes, einer „Kahlschlagliteratur“. Dass damit die unbewusste Verschleierung eigener Herkunft – Böll z.B. hatte einen sehr konservativen Lektüre-Kanon absolviert – und die Ignoranz gegenüber den ins Exil gezwungenen Schriftstellern einherging, ist erst viel später literaturwissenschaftlich untersucht worden. Auch Heinrich Böll hat im Abstand von Jahrzehnten die Nullpunkt-Metaphorik für 1945 problematisiert und gefragt, ob die tiefste Zäsur nicht 1939 oder sogar 1933 gewesen sei.
Heinrich Böll war im Literaturbetrieb des Wiederaufbaus enorm produktiv, nach statistischer Auswertung der produktivste Autor der Gruppe 47, er veröffentlichte fast jedes Jahr einen Roman, zahllose Erzählungen, bei denen die zeitgenössische Verlags-PR immer wieder hervorhob, seine Kurzgeschichten seien an der modernen amerikanischen short story geschult; er gewann zahlreiche Preise – darunter den Preis der Gruppe 47 (1951), den Erzählerpreis des Süddeutschen Rundfunks (1953), den Preis der „Tribune de Paris“ (1954), den Förderpreis des Kulturkreises der Deutschen Industrie (1955) – und war mit Hörspielen und Features immer wieder im Radio zu hören. Gerade die damals üppig bezahlte Tätigkeit beim „Funk“ war für Schriftsteller in den 1950er Jahren existenziell wichtig. Von Anfang an schrieb Heinrich Böll vor allem Texte für den Kölner Sender. Beim Rundfunk begegnete ihm Alfred Andersch, der ihn Hans Werner Richter für die Gruppe 47 empfahl. Das primäre Motiv des notwendigen Broterwerbs durch die gut dotierte Rundfunkarbeit galt auch für den rastlos und nicht immer in hoher Qualität produzierenden Böll, wobei innerhalb des öffentlich-rechtlichen Verbunds der ARD (seit 1951) die jeweiligen Produkte ausgetauscht wurden, so dass sich die Tantiemen erhöhten und allmählich eine kulturelle Medienelite entstand.
Alfred Andersch, der neben Walter Dirks wohl einflussreichste Kulturchef im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, schrieb 1953 an die Intendanten von Nordwestdeutschem und Süddeutschem Rundfunk, dass für „wirklich erstklassige Feature-Manuskripte (…) nur ein ganz eng gezogener Kreis von Autoren infrage“ käme, es seien „in Deutschland höchstens 6-8 Leute“, mit denen es sich zu arbeiten lohne und nannte dann Heinrich Böll, Wolfgang Hildesheimer, Wolfgang Koeppen und einige weitere Schriftsteller aus dem Umkreis der Gruppe 47. Ein Jahr fügte Andersch in einem Brief an den Intendanten des NWDR, Ernst Schnabel, hinzu:
„ich finde das meiste, was heute in deutschland geschieht, grauenhaft. und ich leide keineswegs an verfolgungswahn – verglichen mit böll, arno schmidt, henze und anderen meiner freunde, mit denen ich mich über diese fragen im gespräch befinde, bin ich eher noch optimist.“
Kein einsamer Moralist
Die Gruppe 47 war viel mehr als ein Verein zum Austausch und zur Förderung junger Literaten, wie das Beispiel des Rundfunkzugangs angedeutet hat. Literarisches, Berufliches und Politisches gingen eine enge Verbindung ein. Ich betone den Gruppenzusammenhang auch, weil Heinrich Böll gern als Einzelkämpfer, als einsamer Moralist gezeichnet wird. Aber so funktioniert die Arbeit der Intellektuellen nicht. Selbst diejenigen, die sich, wie etwa Ernst Jünger, als solitäre Genies jenseits und über allen Gruppenzusammenhängen stilisierten, versuchten tatsächlich ihre kommunikativen Netzwerke zu spannen. Auch Schriftsteller mussten und müssen, um öffentliche Wirkung zu erzielen, sich in einem Verbund von Sinndeutern bewegen, waren und sind abhängig von ihrer Anerkennung als interessante Autoren durch die literarische Szene.
Über die Gruppe 47 fand Heinrich Böll auch seinen Hausverlag Kiepenheuer & Witsch. Von Anfang an haftete diesem Verlag übrigens etwas Doppelgesichtiges an. Bücher von Bertolt Brecht, Karl Marx, Erich Kästner, Erich Maria Remarque und anderen namhaften Autoren standen für die seriöse intellektuelle Seite des Verlags. Heinrich Böll wurde bald dessen Aushängeschild für die zeitgenössische Literatur.
Zugleich war Kiepenheuer & Witsch, vor allem über etliche Nebenverlage, ein zentraler Vermittler für die kulturelle Offensive der USA gegen den Bolschewismus, dubioser Bonner Propagandaschriften gegen die DDR, zugleich aber auch der liberalen Westorientierung gegen konservative Tendenzen eines intoleranten Antikommunismus, der in dessen Namen liberale Freiheiten angriff. Viele Intellektuelle engagierten sich in diesem Rahmen, etwa im Kongress für kulturelle Freiheit, dessen Kölner Gruppe Böll angehörte.
Heinrich Böll war auch dabei, als am 4. Februar 1956 eine Art „demokratischer Feuerwehr“, um Harry Pross in seinen „Memoiren eines Inländers“ zu zitieren, gegen die politischen Angriffe von rechts gegründet wurde. Der schlichte Name „Grünwalder Kreis“ verwies auf den Ort des ersten Treffens in der Sportschule München-Grünwald, zu dem sich etwa 50 Interessierte einfanden. Hans Werner Richter, Impressario der Gruppe 47, schrieb an Böll. „Ich meine, das Politische, so wie wir es auffassen, muss im Augenblick den Vorrang vor dem Literarischen haben.“ Die mediale Unterstützung der Aktivitäten, zum Beispiel eines regelmäßigen Pressedienstes, wurde durch zahlreiche Redaktionen der Rundfunkanstalten, Zeitungen und Zeitschriften unterstützt, in denen die Mitglieder des Kreises tätig waren.
Auch außerhalb des kulturpolitischen Mainstreams
Zugleich hielt Böll regelmäßig Vorträge im Rahmen der 1952 gegründeten Christlich-jüdischen Zusammenarbeit sowie evangelischer und katholischer Akademien zu politischen Gegenwartsthemen.
Er schrieb in diesen Jahren für ein politisch breites Spektrum von Blättern, von denen ich nur einige nennen möchte:
Gedruckt wurden seine Beiträge in den führenden politisch-kulturellen Zeitschriften, in den „Frankfurter Heften“, im „Merkur“ und im „Monat“, wobei manche seiner ersten Einsendungen abgelehnt worden waren. Die intellektuellen Foren der Bundesrepublik öffneten sich ihm erst mit der Anerkennung, die er in der Gruppe 47 fand. Seither reagierte auch das meinungsbildende Feuilleton von der FAZ, hier war sein Förderer Karl Korn, bis zur ZEIT respektvoll, wenn auch nicht überschwänglich.
Seit 1954 schrieb Böll regelmäßig für das bei der Deutschen Verlagsanstalt erscheinende kulturelle Jahrbuch des Bundes der Deutschen Industrie (BDI) mit dem Titel Jahresring, das Autoren sehr unterschiedlicher Herkunft einlud, von Ernst und Friedrich Jünger, Hans Egon Holthusen, Gerd Gaiser, Arnold Gehlen und Hans Freyer auf der rechten bis zu Theodor W. Adorno, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss – und eben Heinrich Böll auf der linken Seite.
Böll verzichtete zudem nicht darauf, auch außerhalb des kulturpolitischen Mainstream zu publizieren.
Er war in der in den frühen 1950er Jahren erscheinenden Zeitschrift „Aufklärung“ vertreten, in der Gesellschaft von kritischen Geistern wie Theodor W. Adorno, Leo Kofler, Martin Buber und Maurice Halbwachs. Bevorzugte Gegner, an denen man sich abarbeitete, waren hier Ernst Jünger und Carl Schmitt.
Seine Texte wurden von der 1955 in Hamburg gegründeten „Anderen Zeitung“ abgedruckt, neben denen von Wolfdietrich Schnurre, Michael Ende, Wolfgang Koeppen, Erich Kästner und Peter Rühmkorf. Die „Andere Zeitung“ wurde verdächtigt, aus der DDR finanziert zu werden; die SPD schloss deren linkssozialistische Herausgeber aus, die vorher die Parteizeitung „Neuer Vorwärts“ redigiert hatten.
Teil des deutsch-deutschen Literaturaustausches
Die Romane und Erzählungen Bölls waren auch in den Ländern des Ostblocks geschätzt. Mitten im Kalten Krieg wurde zwischen der Bundesrepublik und der DDR nur ein rudimentärer Literaturaustausch erhalten, aber Bölls Bücher gehörten dazu. 1956 erschien sein Roman „Wo warst du, Adam?“ als Lizenzausgabe in der DDR. Auch in der Sowjetunion erzielten die Bücher von Böll bis zum Ende der 1950er Jahre eine Auflage von fast einer Million Exemplaren.
Eine enge Verbindung unterhielt Dirks auch zu den Werkheften katholischer Laien (1947-1963), die als Organ linkskatholischer Selbstverständigung fungierten und von Heinrich Böll auch finanziell unterstützt wurden.
Schließlich ist der Versuch Bölls zu erwähnen, Anfang der 1960er Jahre, zusammen mit Walter Warnach, HAP Grieshaber und Werner von Trott zu Solz, eine Zeitschrift mit dem Titel „Labyrinth“ zu etablieren; sie brachte es nur auf sechs Ausgaben. Politisch irritierend bleibt der Inhalt, den Carl Amery als „letzte große Anstrengung“ bezeichnet hat, „die christlich-konservative Sache in Deutschland zu artikulieren“; heute würden wir das wohl als „wertkonservativ“ bezeichnen, für Böll das Gegenteil zur bürgerlich-konservativen Menschenverachtung, die er mit dem Regime Adenauers verband – ein weiterer Beleg dafür, Böll nicht simplifizierend als progressistischen Kritiker der „Restauration“ zu vereinnahmen.
Die Böll-Affäre beim Süddeutschen Rundfunk
Dies hilft auch bei der Deutung der sogenannten Böll-Affäre beim Süddeutschen Rundfunk, die 1958 die Öffentlichkeit bewegte. Stein des Anstoßes war Bölls „Brief an einen jungen Katholiken“, den der neue Intendant des Süddeutschen Rundfunks, Hans Bausch (CDU), nicht in seinem Sender verlesen lassen wollte.
Eine Lektüre des Manuskriptes, das am 9. September 1958 um 20.45 Uhr verlesen und über die Mittelwelle ausgestrahlt werden sollte, gibt wenige Hinweise auf konkrete Gründe des Eingriffs. Böll wurde im Ansagetext vorgestellt als „der einzige Künstler von Rang, der sein Werk mit der christlichen Verantwortung verbindet.“ Dies mochte von etablierter katholischer Seite bereits als Provokation aufgefasst worden sein. Der Brief selbst handelte von den angeblichen „sittlichen Gefahren“, gemeint waren sexuelle Kontakte in besetzten Gebieten im Zweiten Weltkrieg, vor denen seine Generation junger Landser angeblich bewahrt werden sollten; dass Geistliche dabei halfen, aber nicht die „Sinnlosigkeit“ des Krieges insgesamt thematisierten, mochte als anstößige Kritik an der Amtskirche erscheinen, noch mehr aber wohl die Schlusspassage, in der Böll monierte, dass „selbst religiöse Entscheidungen, wie die des Gewissens, zu politischen gestempelt würden“; eine Mehrheit des Rundfunkrats plädierte dafür, den Text abzusetzen, obwohl zahlreiche Schriftsteller öffentlich protestierten.
Die Auseinandersetzung mit dem bürgerlich-konservativen katholischen Milieus verband sich bei Heinrich Böll mit der Kritik des für ihn auffälligsten sozialpsychologischen Charakterzuges im emsigen Wiederaufbau der Westdeutschen: des Konsumismus. In den Gewerkschaftlichen Monatsheften, auch hier publizierte er also, hielt er in einem Essay mit dem Titel „Hierzulande“ (1961) apodiktisch fest: „Wir sind ein Volk von Verbrauchern.“ Die Kritik der Ausgeliefertheit des durch den Konsum „außengeleiteten“ (David Riesman) und manipulierten Menschen, des „Konsumterrors“, der Begriff wurde nicht erst 1968 geboren, bestimmte die gesamte Kulturkritik der Zeit bereits um 1960 – von Hans Magnus Enzensberger linksaußen bis Friedrich Sieburg rechtsaußen. Aber es waren nicht die elitären Untertöne der Konsumkritik, welche die Stellungnahmen aus dem konservativen und dem linkskritischen Spektrum grundsätzlich unterschieden, Differenzen ergaben sich vielmehr in der Bestimmung dessen, was der Konsumismus gefährdete oder vernichtete. In Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ heißt es:
„Die Nachbarhäuser durch zweispurige Einfahrten und breite Rabatten getrennt. Kränklich der Widerschein der Fernsehapparate. Da wird der heimkehrende Gatte und Vater als störend empfunden, wäre die Heimkehr des verlorenen Sohnes als störend empfunden worden; kein Kalb wäre geschlachtet, nicht einmal Hähnchen gegrillt worden – man würde schnell auf einen Leberwurstrest im Kühlschrank verwiesen.“
Gerd Gaiser und Heinrich Böll
Während bei Böll die Gefährdung des Humanen, der Mitmenschlichkeit in der entfremdenden Konsumgesellschaft in den Mittelpunkt gerückt wurde, betonte der konservative Schriftsteller Gerd Gaiser zwar ebenso wie dieser die Oberflächlichkeit der menschlichen Beziehungen durch den Konsumismus, aber die Konsequenz war eine andere; in seinem wichtigsten Roman „Schlußball“ (1958) findet sich der zentrale Satz, dass die Konzentration auf Geld und Konsum verhindere, „daß man ein Gefühl für oben und unten behält, vor allem in Zeiten, in denen alle schwimmen“.
Ich habe Gerd Gaiser, den heute kaum noch jemand kennt, deshalb kontrastierend zitiert, weil sich um ihn und Böll eine Konkurrenzgeschichte rankt, die noch genauer aufgeklärt werden müsste.
Gaiser, Jagdflieger in der Luftwaffe des „Dritten Reiches“, der durch unsägliche NS-Kriegslyrik aufgefallen war, galt in den 1950er Jahren als ein Autor der vorderen Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur, war hoch respektiert und es erschien den liberalen und linken Intellektuellen möglich, dass er tatsächlich die Nummer 1 der westdeutschen Literatur werden könnte. Seine beiden bekanntesten Romane „Die sterbende Jagd“ (1953) und „Schlußball“ (1958) erschienen im Carl Hanser Verlag und erhielten viele positive Besprechungen; im konservativen Feuilleton fand Gaiser zahlreiche Lobredner, Ernst Jünger gehörte zu seinen Fürsprechern.
Und eben dies, so die literaturhistorische Pointe, ebnete Heinrich Böll den Weg zum Aufstieg bis an die Spitze der Literaten-Rangliste. Marcel Reich-Ranicki erinnerte sich in einem Interview 1989:
„Wir, die wir zu Bölls Ruhm beigetragen haben, sahen keinen anderen Ausweg. Es gab keinen anderen. Die konservative Kritik wollte Gerd Gaiser zur Gallionsfigur der Literatur machen. Den antisemitischen, exnazistischen Schriftsteller. Das konnten wir nicht zulassen. Wir haben uns auf Böll als Gegenkandidaten geeinigt. Es gab andere, die besser waren. Aber sie waren nicht geeignet. (…) Böll hatte das Schicksal eines durchschnittlichen Deutschen, der Soldat gewesen war. Und er stellte etwas dar. (…) (Aber) außer Böll kam für diese moralische Position niemand in Frage.“
Vor diesem Hintergrund ist die vernichtende, nicht nur die zahllosen Stilblüten des „Ernst-Jünger-Adepten“ aufspießende, sondern auch den politisch-weltanschaulichen Kern benennende Kritik anlässlich Gaisers neuem Roman „Am Paß Nascondo“ (1960) von Walter Jens in der Wochenzeitung Die Zeit zu lesen:
„Gerd Gaiser als unbelehrbaren Nationalsozialisten zu denunzieren, wäre (…) nicht minder abwegig, als zu leugnen, daß sein Gesamtwerk im Zeichen einer romantisch-völkischen Betrachtungsweise steht, die, antisemitisch getönt, im Namen des „Reinen“ und „Echten“ argumentiert.“
Danach war Gaiser erledigt und fand kaum mehr Resonanz, während Heinrich Böll im kurz darauf sogar auf dem Titelbild des SPIEGEL erschien (Nr. 50/1961). In der Titelstory wurde er als „Deutschlands erfolgreichster Nachkriegsautor“ gefeiert:
„Heinrich Böll ist nächst dem Kölner Konrad Adenauer der zweitwichtigste Beitrag des katholischen Rheinlands zu dem Bild, das sich die Welt von Deutschland macht“; Übersetzungen seiner Bücher erschienen in 18 Ländern; er gelte, so der SPIEGEL, als der „bislang einzige Nachkriegsautor mit einem nachhaltigen Erfolg über die speziell literarisch interessierten Zirkel und über die deutschen Grenzen hinaus. Er ist der repräsentative Schriftsteller der Bundesrepublik Adenauers.“ Auch in diesem Artikel klang im Übrigen an, dass die vom verehrten Autor produzierte Literatur nicht unbedingt als genialisch zu bezeichnen sei. Er selbst, die Person Böll sei es, die als bester Interpret seiner Werke wirke, er strahle „Ernst und Fassung aus, Anstand und Solidität.“
Keine fraktionelle Positionierung Bölls
In den frühen 1960er Jahren verzweigten sich die Wege der politisierten Nonkonformisten der Gruppe 47. Während Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss und Martin Walser – mehr oder weniger zeitweise – nach linksaußen gingen und Günter Grass wie auch Hans Werner Richter der Sozialdemokratie treu blieben, mochte sich Böll nicht fraktionell positionieren. Ein Engagement für die SPD wäre schon habituell nicht denkbar gewesen. In den Briefen mit Andersch oder Enzensberger, die ihn wie die meisten näher bekannten Kollegen freundschaftlich mit „Hein“ anredeten, wird die gemeinsame Position gegen die Adenauer-Republik deutlich, zugleich aber die Unterschiede der politischen Ziele darüber hinaus. Gerade die linke Überparteilichkeit, der moralisch fundierte Widerstand gegen die Aushöhlung von Freiheit im Namen der Sicherheit, rückten Heinrich Böll dann Anfang der 1970er Jahre öffentlich wieder ganz nach vorn, als ihn, der 1972 den Literaturnobelpreis erhielt, die Themen der Inneren Sicherheit (ein zu jener Zeit erst erfundener Begriff), vor allem der Medienhetze gegen angebliche Sympathisanten des Linksterrorismus derart bedrängten, dass er sich noch einmal in das öffentliche Getümmel warf.
Dabei blieb er seinen Anfängen treu, irrlichternde Konversionen wie bei Martin Walser oder Hans Magnus Enzensberger, die eine Person für die Biographen interessant machen, waren nicht seine Sache – er blieb bei seinen moralischen Grundüberzeugungen, gegen Gewalt und Militarismus, gegen Fremdbestimmung durch Medienmanipulation und Konsumidiotie, gegen kirchliche Gängelung und Obskurantismus, die sein Werk seit den 1950er Jahren geprägt hatten, und er verkörperte dies in sympathischer Weise als der, wie es der Politikwissenschaftler Iring Fetscher einmal formuliert hat, „von allen zeitgenössischen deutschen Dichtern (der) bescheidenste und der uneitelste.“ Für mich als Historiker ist er nicht nur der repräsentative Schriftsteller der Ära Adenauer, wie es der „Spiegel“ 1961 formulierte, sondern der Ausdruck des Positiven an der „alten Bundesrepublik“, die ohne ihn „ein schwächer entwickeltes moralisches Bewusstsein“ gehabt hätte, wie Jean Améry festhielt."
Der Text wurde als Vortrag am 14. März 2017 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin gehalten.