„Europa muss Maßstäbe bei Menschenrechten und Umweltstandards setzen“

Interview

Martin Häusling, MdEP, und Christoph Burgmer, Journalist und Autor, sprechen über die Folgen der agroindustriellen Expansion im brasilianischen Cerrado und das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur.

Menschen der Gemeinde Cajueiro im Gespräch
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Gespräch mit Bewohner/innen der Gemeinde Cajueiro, die einem Hafenneubau (Porto de Madeira) weichen soll

Am Montag, den 7. November 2017, begann in Berlin die 30. EU-Mercosur-Verhandlungsrunde. Unter der Federführung Brasiliens wollen Argentinien, Uruguay und Paraguay, - die Stimmrechte für Venezuela sind ausgesetzt-, noch in diesem Jahr die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit der EU abschließen. Der Umfang des geplanten Abkommens liegt in etwa beim Achtfachen des CETA-Abkommens mit Kanada und beim Vierfachen des entsprechenden Abkommens mit Japan. Die Mercosur-Staaten, allen voran der kontinentale Riese Brasilien, sind wichtige Rohstoff- und Agrarlieferanten für die EU. 60 Prozent der landwirtschaftlichen Einfuhren aus dem Mercosur sind Rohstoffe für die Lebensmittelindustrie und die Viehwirtschaft. 80 Prozent der EU-Einfuhren von pflanzlichen Proteinen für Futtermittel (vor allem gentechnisch verändertes Soja) stammen aus dem Mercosur-Wirtschaftsraum.

Das geplante Abkommen wird öffentlich in Europa bislang kaum wahrgenommen. Dabei ist die Menschenrechtssituation in Brasilien katastrophal. Die aggressiv auf industrielle Anbaumethoden setzende Agrarindustriepolitik der gegenwärtigen brasilianischen Regierung führt zu massiven Umweltzerstörungen und betreibt einen radikalen Abbau der Schutzrechte für indigene Völker.

Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im europäischen Parlament und der Journalist und Autor Christoph Burgmer waren auf einer zweiwöchigen Erkundungsreise in der Matopiba Region im brasilianischen Nordosten. Sie wollen den Fokus auf das dramatische ökologische und gesellschaftliche Rollback lenken, das die gegenwärtige brasilianische Regierung im Vorfeld der Wahlen Ende 2018 mit großer Eile vorantreibt. Michael Briefs hat mit beiden gesprochen.

Michael Briefs: Brasilien hat derzeit den Vorsitz der Mercosur Staaten. Was hat sich nach dem sogenannten „parlamentarischen Putsch“ in Brasilien im August 2016 und der Machtübernahme Michael Temers in Bezug auf die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit der EU verändert?

Martin Häusling: Die brasilianische Politik verfolgt schon lange die Idee der so genannten „Entwicklung der Regionen“. Dahinter steht die Vorstellung einer forcierten „Inwertsetzung“ von Land, das angeblich nicht genutzt wird oder einfach nutzlos ist. Neu ist das enorme Tempo der unkontrollierten Abholzung und Rodung, seit sich die Regierung Temer installiert hat. Dies betrifft insbesondere das Biom des Cerrado. Der Cerrado ist eine Trockensavanne von zwei Millionen Quadratkilometern im Zentrum des Landes. Dort wurde eine Entwicklungsregion künstlich geschaffen, die sich Matopiba nennt, überwiegend in der Savanne des Cerrado liegt und mit 73 Millionen Hektar etwa zweimal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland. Bis 2022 plant die brasilianische Regierung dort 80 Prozent also mehr als eineinhalbmal die Fläche der Bundesrepublik, in Ackerland für die industrielle Landwirtschaft umzuwandeln. Dazu wird Land an das Agrobusiness vergeben oder von ihm illegal besetzt.

Wir konnten uns ein Bild vor Ort davon machen, wie unkontrolliert und mit welcher Geschwindigkeit dies derzeit geschieht. Der Trockenwald wird mit massivem Maschineneinsatz komplett gerodet, um Trockenreis, genverändertes Soja sowie Eukalyptus zur Produktion von Papier und Pellets anzubauen. Europa deckt gegenwärtig etwa 20 Prozent seines Papierbedarfs aus brasilianischen Eukalyptusplantagen.

In Europa denkt man in Bezug auf den Klimawandel und Brasilien immer an die Zerstörung des  Amazonas-Regenwaldes. Wissenschaftlich ist das Biom des Cerrado weitgehend unerforscht. Unter Trocken-Savanne kann man sich bei uns wenig vorstellen. Welche Bedeutung hat die Biodiversität des Cerrado?

Martin Häusling: Die Artenvielfalt des Cerrado ist sehr groß. Es gibt tausende von endemischen Pflanzenarten, deren Eigenschaften und Zusammenspiel noch unbekannt sind. Dazu kommen viele Säugetiere, über 800 Vogelarten, sowie hunderte von verschiedenen Reptilien und Amphibien. Man spricht von einem „auf dem Kopf stehenden Wald", denn der Großteil der Pflanzenmasse steckt als tiefe Durchwurzelung im Boden. Er ist damit nicht nur ein unserem Grünland vergleichbarer CO2-Speicher, sondern auch ein überregional bedeutender Wasserspeicher und eine Regenpumpe für ganz Brasilien.

Die Umwandlung in Ackerland bewirkt eine katastrophale Freisetzung des gebundenen CO2 mit dramatischen Auswirkungen auf das Weltklima. Zudem ist die radikale Abholzung eine ernste Bedrohung für die Wasserversorgung Brasiliens. Das geplante Freihandelsabkommen würde diese Wirtschaftsweise legitimieren und zusätzliche Anreize für die Agroindustrie schaffen. Während unserer Reise wurde uns immer wieder bestätigt, dass die Menschen schon jetzt erheblich unter der zunehmenden Trockenheit leiden. Ist der Naturraum erst einmal zerstört, bleibt nach einigen Jahren intensiver Nutzung durch das globalisierte industrielle Agribusiness, nur noch eine Sandwüste übrig. Denn eines ist klar. Eine Eukalyptusplantage mag zwar wie ein Wald aussehen. Leben gibt es dort aber keines.

 

Bisher ist die Artenvielfalt des Cerrado sehr groß. Man spricht von einem „auf dem Kopf stehenden Wald"

Christoph Burgmer: Wir haben erlebt, dass es regional auch Wiederstand gegen die Vernichtung des Naturraums im Cerrado gibt, insbesondere von Gemeinschaften, die dort seit über einhundert Jahren Landwirtschaft betreiben. Aber das ist für die Menschen sehr gefährlich. Alleine dieses Jahr wurden bis November mehr als 60 Umweltaktivisten im Zusammenhang mit Landbesetzungen ermordet. Das geplante Freihandelsabkommen ignoriert die prekäre Situation der brasilianischen Zivilgesellschaft völlig. Die Großgrundbesitzer, die die ultraneoliberale Wirtschaftspolitik des brasilianischen Präsidenten Michel Temer massiv unterstützen und im Gegenzug vom Abbau des Naturschutzes und auch der Arbeitsschutzrechten für Landarbeiter profitieren, beschäftigen Schlägerbanden, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die dort lebenden Menschen einschüchtern und vertreiben.

Die brasilianische Regierung schaut bewusst weg. In der von uns besuchten Region im Bundesstaat Maranhão sind für 30.000 Einwohner gerademal ein Staatsanwalt und zwei Polizisten zuständig. Die Matopiba ist durch gefälschte Besitztitel dreimal überzeichnet. Das bedeutet, es existieren Papiere, die angeblich „beweisen“, dass das Land im Eigentum einiger Großgrundbesitzerfamilien ist. Das betrifft auch Land, auf dem die Menschen schon seit über einhundert Jahren in Subsistenzlandwirtschaft leben.

Dazu kommt der gewaltige Einsatz von Düngemitteln, Pestiziden und Herbiziden. Welche Auswirkungen hat dies auf die Bevölkerung?

Martin Häusling: Ohne den Einsatz beispielsweise von Glyphosat für den Sojaanbau wäre kein Landbau in diesen großindustriellen Dimensionen möglich. Pestizide und Düngemittel kommen aus Europa. Man produziert sie unter gewaltigem Technik- und Chemieeinsatz. Zweidrittel der in Brasilien verwendeten Pflanzenschutzmittel sind in Europa längst verboten. Darüber hinaus gibt es so gut wie keine Kontrolle. Manche Produkte werden illegal aus Indien und China importiert. Man weiß, dass der Chemieeinsatz in Brasilien etwa drei bis viermal so hoch ist wie in Europa. Man muss sich allein die Mengen von Glyphosat vor Augen führen. In Deutschland dürfen Bauern ein bis zwei Liter pro Hektar einsetzen. In Brasilien liegt die durchschnittliche Menge bei 12 Litern. Statistisch kommen auf jeden Brasilianer beinahe 6 Liter Pestizide pro Jahr. Das ist der höchste Wert weltweit.

Christoph Burgmer: Die industriell genutzten Flächen grenzen unmittelbar an Dörfer und indigene Schutzgebiete. Viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, klagen über das epidemische Auftreten von bislang in der Region unbekannten Krankheiten wie Krebs oder Atembeschwerden. Es ist für die Betroffenen sehr schwer nachzuweisen, dass das im Zusammenhang mit der intensiven Ausweitung des industrialisierten Landbaus und der Verwendung von Spritzmitteln steht. Die Menschen vor Ort aber sehen, dass diese Krankheiten zeitgleich mit dem Beginn der industrialisierten Landwirtschaft gehäuft auftraten. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt es so gut wie keine.

Fast 98 Prozent des Soja Saatgutes in Brasilien sind gentechnisch verändert. Lässt sich gentechnisch von nicht gentechnisch verändertem Soja überhaupt noch unterscheiden?

Martin Häusling: Die brasilianische Regierung hat die Kennzeichnungspflicht für genverändertes Material ausgesetzt. Kleinbauern können beim Kauf von Saatgut gar nicht mehr wissen, ob es gentechnisch verändert ist oder nicht. Eine Firma in Sāo Paulo hat einen Teststreifen entwickelt, mit dem in einem einfachen Verfahren innerhalb von Minuten festgestellt werden kann, ob Soja gentechnisch verändert wurde oder nicht. Das geht jedoch erst am Ernteprodukt selbst. Diese gezielte Verschleierung hat auch massive Auswirkungen für Europa. Bis jetzt beziehen deutsche Milchbauern und andere ihr gentechnisch freies Soja in erster Linie aus Brasilien, weil es dort noch Regionen gibt, in denen es angebaut wird. Wenn diese Gebiete durch die forcierte Ausbreitung ausfallen, wird es auch in Europa und Deutschland erhebliche Probleme geben.

Wird in Europa die Problematik dieses hochindustriellen agrarischen Entwicklungsmodells erkannt?

Christoph Burgmer: Es ist kaum jemandem hierzulande richtig klar, dass Brasilien seit zwei Jahren keine demokratisch legitimierte Regierung mehr hat. Der Präsident Michel Temer ist durch einen so genannten „demokratischen Putsch“ an die Macht gekommen. Er wurde bereits zweimal durch den Generalstaatsanwalt des Landes der Korruption und der Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt und konnte nur durch eine massive Unterstützung durch die den Großgrundbesitzern nahestehenden Abgeordneten im Kongress politisch überleben. Während seiner Amtszeit kann ein brasilianischer Präsident nur dann juristisch verfolgt werden, wenn eine Mehrheit im Parlament zustimmt.

Zu den Unterstützern Michel Temers gehören auch evangelische Freikirchen, die ihre politische Chance nutzen, um die Rechte sexueller Minderheiten und auch Frauenrechte zurückzudrehen. Das Land erlebt ein ultrakonservatives Rollback, die Anhänger der afrobrasilianischen Religionen sind massiven Verfolgungen ausgesetzt. Gleichzeitig tobt in den Elendsvierteln ein Bürgerkrieg. Alleine in diesem Jahr wurden nach Schätzungen 60.000 Menschen, in der Regel junge farbige Männer zwischen 15 und 30 Jahren erschossen. Das Militär, wenn es in den Favelas im Einsatz ist, untersteht inzwischen nur noch der Militärjustiz und ist der zivilen Gerichtsbarkeit entzogen.

Es gibt zusätzlich eine ganze Reihe von Gesetzen und Erlassen, die darauf zielen, jede Form des zivilen Widerstands zu kriminalisieren. Europa verhandelt das Freihandelsabkommen also mit einer Regierung, die zahlreiche demokratische Rechte außer Kraft gesetzt hat. Es scheint als ginge es der EU in den Verhandlungen ausschließlich um die Sicherung von Rohstoffmärkten. Für die europäische Billigfleischindustrie gehört dazu auch Soja. Europäische Interessen werden auf Kosten von Menschenrechten verfolgt, unter Inkaufnahme der unwiederbringlichen Zerstörung von Natur und Umwelt.

Martin Häusling: Verhandlungen zu Freihandelsabkommen sind extrem intransparent. Keine der Interessensgruppen möchte, dass diese Dinge öffentlich diskutiert werden. Dies gilt auch und in besonderem Maße für die aktuellen Verhandlungen der EU mit den Mercosur Staaten.  Dabei ist es dringend notwendig, dass es endlich eine öffentliche Diskussion darüber gibt. Vergleichbar mit den Debatten zu den TTIP- und CETA-Abkommen. Denn es gibt zahlreiche Risiken, wenn wir dieses Freihandelsabkommen abschließen. Sollte das Abkommen geschlossen werden, legitimiert Europa sowohl die Menschenrechtsverletzungen als auch die massive Umweltzerstörung in Brasilien und den anderen Mercosur-Staaten. Natur- und Waldzerstörung in Brasilien konterkarieren alle Bemühungen des Pariser Weltklimaabkommens, wenn Flächen in der Größe der Bundesrepublik und größer gerodet werden. Hinzu kommt, dass alles, was im Cerrado nur unter gigantischem Chemieeinsatz produziert werden kann, am Ende in Europa auf den Tischen der Menschen landet.

Welche Perspektiven sehen sie?

Christoph Burgmer: Das beeindruckteste war der Widerstand der Zivilgesellschaft vor Ort. Hier würde eine breite öffentliche Diskussion in Europa helfen. Es gibt eben auch den Cerrado, nicht nur das Amazonasgebiet, der durch das globale Agrobusiness zu verschwinden droht. Alle wissen, dass letztlich nach einer kurzen Zeitspanne intensiver Nutzung nur Wüste übrig bleibt. So droht ein Biom innerhalb weniger Jahre zu verschwinden, bevor es überhaupt erforscht werden konnte.

Martin Häusling: Es darf nicht nur darum gehen, um es ganz einfach zu sagen, Agrarexporte von Brasilien und den anderen Mercosur Staaten nach Europa und dafür billigere Importe von Industriegütern und Dienstleistungen nach Brasilien durchzusetzen. Wenn man tatsächlich seine Verantwortung wahrnehmen würde, darf sich die EU nicht als Treiber für den Freihandel in der Welt präsentieren, sondern muss als Verhandlungspartner Maßstäbe in Bezug auf Menschenrechte und Umweltstandards setzen, an denen niemand vorbeikann. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn man den Mercosur Regierungen klar machen würde, dass es in dieser Form kein Abkommen gibt, würde sich auch vor Ort etwas verändern.

 

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