Nabelschnur nach Norden: Wem das Nordseekabel nutzt

Zum ersten Mal verbinden Deutschland und Norwegen ihre Stromnetze direkt miteinander. Der gewaltige technische Aufwand unterstützt die deutsche Energiewende.

Ein Schiff verlegt Seekabel in norwegischer Bucht
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Die Verlegung des Nordseekabels begann im Vollesfjord, in der südnorwegischen Region Vest-Agder

In Norddeutschland zeigt sich, woher der Wind weht. Kräftig bläst er über die ebene Landschaft und dreht Windrad um Windrad – manchmal so stark, dass man gar nicht weiß, wohin mit all dem Windstrom. Lassen sich in solchen Zeiten nicht einfach Kohlekraftwerke abschalten?

Nein, so spontan geht das nicht – der Kohlestrom belegt die Leitungen. So lautet die etwas vereinfachte Erklärung. Um dem zeitweise überschüssigen Windstrom zu begegnen, wird aktuell das Projekt „Nordlink“ umgesetzt. Sein Herzstück ist ein Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungskabel, das zwischen Deutschland und Norwegen verlaufen soll und erstmals die Stromnetze beider Länder direkt miteinander verbinden wird.

Hochspannung, in diesem Fall 525 Kilovolt, und Gleichstrom nutzt man, um Strom über weite Strecken möglichst verlustfrei zu befördern. Tatsächlich wird Nordlink das bisher längste Kabel seiner Art sein, betont Magne Vestvik, mitverantwortlich für den Bau beim norwegischen Netzbetreiber Statnett, der sich zu 50 Prozent am Projekt beteiligt. Die andere Hälfte wird in gleichen Teilen vom niederländischen Unternehmen Tennet – in Deutschland ist es einer von vier Netzbetreibern – sowie der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) getragen.

Die Länge der Leitung ist einer der Faktoren, die den Bau zu einem großen Projekt machen. Verlegt werden insgesamt 623 Kilometer Kabel, davon 516 als Seekabel. Auf deutscher Seite kommen 54 Kilometer Erdkabel hinzu, um das Seekabel mit der Umspannstation im schleswig-holsteinischen Wilster zu verbinden. In Norwegen werden 53 Kilometer Freileitung vom Vollesfjord, wo das Kabel an Land geht, bis zur Umspannstation nach Tonstad führen.

70 Kilogramm pro Meter Kabel

„Wir verlegen das Kabel in vier bis fünf Abschnitten“, sagt Tim Meyerjürgens, Leiter im Bereich Offshore bei Tennet. 134 Kilometer liegen bereits im norwegischen Fjord. „Begrenzt werden diese Abschnitte letztlich durch die Kapazität der Verlegeschiffe“, erklärt Meyerjürgens. Ein einziger Meter Seekabel wiegt bis zu 70 Kilogramm. „Die Kabel werden in speziellen Werken produziert, die einen Hafenzugang haben, und von dort direkt aufs Schiff geladen“, berichtet der Tennet-Ingenieur. „Mit einem Biegeradius von vier bis fünf Metern wird das gesamte Kabel für den Transport auf einen Drehteller auf dem Schiff aufgerollt. Ein Lkw kann dagegen nur 1200 Meter Nordlink-Kabel transportieren, sonst ist er zu schwer für die Straße.“

Weil die deutsche Nordsee vergleichsweise seicht ist, muss hier das Kabel eineinhalb Meter tief in den Meeresboden verlegt und mit einem Stahlmantel umwickelt werden, um es vor Ankern und Fischereigeschirr zu schützen. Die norwegischen Gewässer sind dagegen stellenweise so tief, dass weder Stahlmantel noch Eingraben nötig ist. Das Kabel liegt hier einfach auf dem Meeresgrund.

Mega-Baustelle mitten im Wald

Doch auch auf norwegischer Seite ist ein gewaltiger Aufwand nötig, um das Nordlink-Projekt zu ermöglichen. In Tonstad wird für Nordlink eine neue Umspannanlage errichtet, um das Kabel ans norwegische Netz anzuschließen. Mitten im Wald geht dort von der Straße, die in Serpentinen den Hang hinaufführt, ein Schotterweg ab. Ein Schild informiert über Nordlink und verkündet in großen roten Buchstaben: „Adgang forbudt“ („Zugang verboten“).

Fährt man – mit offizieller Erlaubnis – dennoch den Schotterweg hinab, öffnet sich der Wald, und der Blick fällt auf ein riesiges Areal, das heute noch in großen Teilen Baustelle ist. Rund 100 Menschen arbeiten hier für unterschiedliche Unternehmen. Im September lag die Leitung noch bei der Baufirma, die für alle Gebäude zuständig ist, doch bis Ende 2017 soll diese Phase abgeschlossen und die Staffel an die Installationsfirma weitergegeben werden. „Wir haben mit den ersten Vorarbeiten 2015 begonnen, und der Bau startete im Juni 2016“, berichtet Nora Søbye, die bei Statnett für die Planung des Baus zuständig ist. Vorgesehen sind 16 Monate Bauzeit. „Wir liegen sehr gut im Plan“, meint Søbye.

Beim Rundgang über die Baustelle fallen hohe, schmale Hallen auf, von denen vier nebeneinander stehen, allerdings ohne Dach und ohne Wände auf der Vorderseite. „Das werden Hallen für die Trafos“, erklärt Magne Vestvik, Statnett-Bauleiter für die neue Umspannstation. Die Wände der Hallen sind brandschutzgesichert. Dächer wird es nicht geben, damit – falls es einmal brennen sollte – von oben gelöscht werden kann.

„Insgesamt bekommen wir sieben Trafos, von denen einer als Reserve dient“, sagt Vestvik. Jeden einzelnen der rund zwölf Meter langen und 240 Tonnen schweren elektrischen Maschinen nach Tonstad zu transportieren, ist ein kompliziertes Unterfangen. Der Bauleiter berichtet: „Hergestellt werden die Trafos in Schweden, von wo sie mit dem Zug, per Schiff und schließlich über die Straße zu uns gelangen. Allein die Beförderung von der Küste bis zu uns nach Tonstad dauert zwei volle Tage. Dafür müssen wir die Straßen sperren, denn der Schwerlasttransporter ist 72 Meter lang und braucht die volle Straßenbreite.“ In Norwegen sind Straßen mit mehr als zwei Spuren eine Seltenheit. Auch nationale Verbindungswege sehen aus wie gewöhnliche deutsche Landstraßen.

Moor hier, Fels dort

Der Grund für die engen Straßen ist die Topografie des Landes, das fast komplett von Gebirgen überzogen ist. Die Straßen schlängeln sich durch schmale Täler und führen hin und wieder durch Tunnel. Die Berge sind auch der Hauptgrund dafür, dass in Norwegen eine Freileitung vom Fjord zur Umspannstation führen wird, während in Schleswig-Holstein ein Erdkabel als Verbindung dient. Im norddeutschen Moor lässt sich so ein Kabel deutlich einfacher verlegen als in Südnorwegens Felsuntergrund.

Durch die vielen Berge, Täler und Flüsse hat sich im westskandinavischen Land die Stromversorgung historisch auf der Basis von Wasserkraft entwickelt. Auch heute stammen 96 Prozent des Stroms aus Wasserkraftwerken. Das macht das Land zum potenziellen Abnehmer für norddeutschen Windstrom. „Eine der zentralen Ideen hinter dem Kabel ist, dass man damit deutschen Windstrom gegen norwegischen Wasserstrom tauschen kann“, erklärt Magnus Korpås, Professor für Elektrotechnik an Norwegens technisch-naturwissenschaftlicher Universiät (NTNU) in Trondheim. „Mit dem Backup aus unserer regulierbaren Wasserkraft soll in Deutschland der Ausbau von Wind- und Solarstrom einfacher werden, ohne dass man dafür Kohle braucht.“

Windstrom gegen Wasserstrom

Die meisten norwegischen Wasserkraftwerke stehen an Flüssen, die durch Staudämme reguliert sind. Dahinter wird das Wasser in großen Stauseen gesammelt. Pumpspeicherkraftwerke, wie sie in Deutschland zur Stromspeicherung genutzt werden, sind unüblich. Aber wenn in Norddeutschland ein Überschuss an Windstrom entsteht, soll der nach Norwegen exportiert werden, wo entsprechend weniger Wasser aus den Stauseen in die Kraftwerke gelassen und gewissermaßen für später aufgehoben wird. Herrscht umgekehrt in Deutschland Flaute, steigern norwegische Kraftwerke ihre Produktion und exportieren Strom nach Deutschland. Soweit die Theorie.

Schnell hat man hier die alte Idee von Norwegen als „grüne Batterie Europas“ im Kopf, die aber bei Nordlink durch die Größenverhältnisse relativiert wird. 1,4 Gigawatt Leistung kann das Kabel übertragen. Das ist etwa so viel, wie ein konventionelles Großkraftwerk zu liefern vermag. Die Spitzenlast zu Zeiten mit dem meisten Verbrauch liegt in Deutschland bei rund 80 Gigawatt.

„Das ist ein wichtiger Baustein zur Energiewende, aber natürlich nicht der einzige“, bewertet Fiete Wulff, Sprecher der Bundesnetzagentur, die Bedeutung des Kabels. Essenziell nötig ist es also nicht. Ulf Häger, Mitarbeiter am Institut für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft der TU Dortmund stimmt dem zwar zu, gibt aber zu bedenken: „Die Spitzenlast liegt in Deutschland nicht immer an, und wenn es ums Ausbalancieren geht, beginnt man bei der Versorgung auch nicht bei null.“
Kann also künftig der norddeutsche Windstrom einfach nach Norwegen exportiert werden – vielleicht sogar ohne dass man hierzulande große Leitungen bis in den Süden der Republik braucht? Eher nicht. Schaut man in den Netzentwicklungsplan, den die Übertragungsnetzbetreiber regelmäßig herausgeben, fällt auf, dass Nordlink in den Prognosen für 2030 vor allem für den Stromimport eine Rolle spielt. Zwar schwanken die Zahlen je nach Szenario, doch die Größenordnung liegt stets bei 80 Prozent Import aus Norwegen und nur 20 Prozent Export dorthin. Ähnliche Vorhersagen machen Marktsimulationen der Forscher an der TU Dortmund.

Paradoxe Importe

Ein Grund dafür sind die niedrigen Strompreise in Norwegen. Dass ausgerechnet in Norddeutschland Strom importiert werden soll, ist natürlich paradox. Allein in Schleswig-Holstein liegt schon heute die Produktionsleistung bei rund zwölf Gigawatt – der Bedarf dagegen nur bei zwei Gigawatt. Doch hier bestimmt nicht die Technik, sondern der Markt die Stromflüsse. Entsprechend ersetzt die Verbindung nach Norwegen auch nicht den Stromtransport innerhalb Deutschlands. „Die Nord-Süd-Frage bleibt damit gänzlich unbeantwortet“, sagt Bundesnetzagentur-Experte Fiete Wulff. Elektrotechnik-Wissenschaftler Magnus Korpås von der NTNU in Trondheim gibt sogar zu bedenken: „Wenn die Verbindung zwischen Deutschland und Norwegen gebaut wird, sollte sie bis in den Süden verlängert werden, damit der exportierte Strom auch dorthin gelangen kann, wo er gebraucht wird.“ Nordlink macht Südlink also noch notwendiger.

Insgesamt scheint Nordlink im Hinblick auf die Energiewende aus deutscher Perspektive nur Vorteile zu haben. Das Kabel verschafft Zugang zu Strom aus erneuerbaren Quellen, der günstig ist und außerdem dank seiner Regulierbarkeit als Balance zu Spitzenlastzeiten dienen kann – und so den Ausbau natürlich schwankender Quellen wie Solar- und Windenergie in Deutschland erleichtert. Entsprechenden Zuspruch bekommt das Projekt: Die Bundesnetzagentur ist ebenso sein Befürworter wie Greenpeace. FDP und CDU/CSU sehen Nordlink genauso positiv wie SPD, Grüne und – mit Einschränkungen – die Linke.

Höhere Versorgungssicherheit

Auch aus norwegischer Sicht hat Nordlink einige Pluspunkte. Als Kabel, das den Austausch von Strom in beide Richtungen ermöglicht, erhöht es die Versorgungssicherheit. Christer Gilje, Sprecher des norwegischen Netzbetreibers Stanett: „Die Stromproduktion in Norwegen schwankt von Jahr zu Jahr, weil Wasser natürlich eine variable Ressource ist. Zwischen den Jahren mit der geringsten und denen mit der höchsten Produktion liegt ein Unterschied von rund 60 Terawattstunden.“ Das führt manchmal zu Engpässen: „Wenn ein kalter Winter auf ein trockenes Jahr folgt, ist zwar in der Regel die Versorgungssicherheit nicht bedroht, aber die Stromkunden merken es an den Preisen“, sagt Gilje. Ein weiterer Markt könnte das System entlasten.

Nordlink ist für Norwegen nicht das einzige Projekt. Ein ähnliches Kabel nach England ist im Bau, ein weiteres nach Schottland geplant. Nach Dänemark bestehen bereits Leitungen. Seit einigen Jahren setzt Norwegen zudem mit staatlicher Förderung auf den Ausbau der Nutzung von erneuerbarer Wind- und Wasserkraft, obwohl bereits 96 Prozent des eigenen Stroms aus Wasserkraft stammen. Strom als norwegisches Exportprodukt?

„Die Frage ist, ob Europa an dieser Energie interessiert sein wird“, sagt Asgeir Tomasgard, Professor für Industrielle Ökonomie und Technologiemanagement an der NTNU. „Es ist klar, dass Europa Bedarf an Flexibilität, also an regulierbarem Strom haben wird. Doch bisher wird der Preis über die Energiemenge festgelegt“, erklärt der Forscher. „Man bekommt nichts extra dafür, dass man Flexibilität liefert. Um ein solches Preissystem zu entwickeln, bräuchte es eine stärkere europäische Zusammenarbeit.“

In Norwegen stellt sich deshalb die Frage, ob es sinnvoller wäre, auf den Export von Strom zu setzen – oder auf den Ausbau von stromintensiven Industriezweigen, die dann ihre Produkte exportieren, quasi auf veredelten Strom. Daher stehen weite Teile der norwegischen Industrie Nordlink und den übrigen Auslandskabel-Projekten kritisch gegenüber. Weil in Deutschland und Großbritannien die Strompreise so viel höher sind, werden die Verbindungen letztlich dafür sorgen, dass auch in Norwegen die Strompreise steigen. Energieintensive Industriebranchen wie die Aluminiumproduktion würden darunter leiden. Hogne Hongset von der Gewerkschaft Industri Energi sagt: „Natürlich wollen die Stromproduzenten diese Kabel, denn das hebt in ganz Norwegen die Preise. Sie stellen zwar Umweltargumente in den Vordergrund, aber eigentlich ist Geld ihr Motiv.“

Ungewöhnliche Allianzen

Ebenso wie die Stromproduzenten nutzt auch die Industrie Umweltargumente und hat in der öffentlichen Debatte eine seltene Allianz mit dem norwegischen Naturschutzverband geschlossen. Der sorgt sich etwa um die Ökosysteme in Flüssen und in der Umgebung neuer Stromleitungen. Auch NTNU-Professor Magnus Korpås engagiert sich in der Debatte: „Ich versuche den Leuten klar zu machen, warum wir diese Kabel brauchen“, sagt er.

Letztlich ist es wohl eine Frage der Perspektive. Schaut man auf ganz Europa und seine Stromversorgung, ist Nordlink eine sinnvolle Maßnahme. „Wir brauchen definitiv mehr Flexibilität im Netz, und da ist die implizite Speicherung in Norwegen eine gute Möglichkeit“, meint Ulf Häger von der TU Dortmund und fügt hinzu: „Zur Langzeitspeicherung von elektrischem Strom haben wir bisher nicht viele Techniken.“ Auch Magnus Korpås ist skeptisch, was die Zukunft der Speichertechniken angeht. „Wir haben viel dazu geforscht und geben unser Bestes, um günstige und effiziente Techniken zu entwickeln – aber ich denke, viele davon werden noch lange Nischenanwendungen bleiben.“ Und Fiete Wulff von der Bundesnetzagentur meint: „Ein größeres Netz ist besser für die Versorgungssicherheit.“

Schaut man auf die Ziele der EU, die Nordlink ebenso wie die innerdeutsche Nord-Süd-Verbindung zu einem „Projekt von allgemeinem Interesse“ erklärt, wird Europa beim Strom weiter zusammenwachsen. Doch schafft eine stärkere Verbindung mit anderen Ländern bei einer so wichtigen Infrastruktur wie der Stromversorgung nicht auch gegenseitige Abhängigkeiten? „Versorgungssicherheit macht nicht an der Grenze Halt. Das ist heute schon so“, entgegnet Wulff. Und Tim Meyerjürgens von Tennet meint: „Die Abhängigkeit ergibt sich schon vorher, bei der Entscheidung für den Ausbau der erneuerbaren Energiequellen. Die Verbindung mit anderen Ländern hebt sie eher ein Stück weit wieder auf.“

Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Journalismus-Stipendiums Europäische Energiepolitik von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt. Er erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe von bild der wissenschaft 12/17.