Einmischung erwünscht!

Stiftungsgeschichte

Anlässlich seines hundersten Geburtstages erinnern Ellen Ueberschär und Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, an den Namensgeber der Stiftung: Er passt hervorragend zu unserem Selbstverständnis als Ideen- und Impulsgeberin.

Heinrich Böll am Schreibtisch

Heinrich Böll (1917–1985) ist der Namensgeber der grünen politischen Stiftung. Das mag verwundern, wenn man sich die Namen der anderen politischen Stiftungen ansieht: Konrad Adenauer, Friedrich Ebert, Friedrich Naumann, Hanns Seidel und Rosa Luxemburg. Politiker und eine Politikerin, deren Wirken klar in einem Zusammenhang mit der jeweiligen politischen Grundströmung und damit auch der politischen Stiftung steht. Aber Heinrich Böll? Der Chronist der Nachkriegszeit, der erste deutsche Literaturnobelpreisträger nach 1945, der nie Mitglied der Grünen war. Warum Böll?

Antworten auf diese Frage finden sich im Jahr nach dem Tod Heinrich Bölls. Böll fehlte, er war eine moralische und politische Instanz, bei Freund und Feind. Im Jahre 1986 findet sich in Köln ein zehnköpfiger Kreis um den Sohn René Böll und den damaligen Grünen-Sprecher Lukas Beckmann, der die Initiative für eine noch zu gründende grüne Stiftung ergreift. Für sie steht der Name fest, und sie werden ihn durch alle Gremien verteidigen.

In einem Zeitzeugengespräch vom Oktober 2016 sagt Lukas Beckmann dazu:

„Er war Literaturnobelpreisträger und hatte wesentlich dazu beigetragen, dass die deutsche Sprache nach 1945 auch im Ausland wieder sprechbar wurde, und öffnete mit seinen Romanen und als Persönlichkeit Türen für erste Gespräche mit Moskau und anderen Ländern. Heinrich Böll hatte uns zusammen mit seiner Frau Annemarie bei der Europawahl 1979 unterstützt, ebenso bei der Bundestagswahl 1983. Seine Unterschrift unter einem Wahlaufruf war vertrauensbildend für viele weitere Persönlichkeiten aus den intellektuellen und künstlerischen Milieus der alten Bundesrepublik. Ich fuhr zu Annemarie Böll und sprach zunächst mit ihr und Sohn René Böll über die Idee einer grünnahen Heinrich-Böll-Stiftung. Einige Wochen später kam Renés Bruder Vincent hinzu, ebenso Lew Kopelew und einige weitere enge Freunde der Familie. Mein Vorschlag fand Unterstützung. Umso mehr sah ich mich in der Pflicht, offen über mögliche Probleme bei der innerparteilichen Durchsetzung zu sprechen.

‚Es gibt drei Punkte, die es nicht einfach machen‘, sagte ich: ‚Böll war ein Mann, Böll war Katholik und Böll war bürgerlich.‘ Annemarie Böll hat gelassen reagiert: ‚Es ist nicht unsere Initiative‘, sagte sie, ‚kein Vorschlag der Familie. Aber wenn Sie den Vorschlag machen, werden wir ihn unterstützen. Und machen Sie sich wegen öffentlicher Diskussionen keine Sorgen. Das kennen wir alles. Die Stadt Köln hat fünf Jahre gebraucht, um sich nach heftigen Diskussionen für eine Ehrenbürgerschaft meines Mannes zu entscheiden.‘“

Es wird noch einige grüne Parteitage brauchen, ehe sich die Partei nicht etwa auf eine, sondern gleich auf drei ihr nahestehende politische Stiftungen verständigt. Eine davon war die Heinrich-Böll-Stiftung, die zwei anderen hießen Buntstift und Frauenanstiftung. Diese grünnahe Stiftungsvielfalt währte nicht allzu lange. Die grüne Partei beschloss, dass die drei Einzelstiftungen fusionieren müssen. Auch hier erneut viele Kämpfe um den Namen.

„Heinrich-Böll-Stiftung“ setze sich als Namensgeber für eine neue Gesamtstiftung durch – so wie wir sie heute kennen: seit 1997 im Herzen Berlins.

Heinrich Böll passt hervorragend zu unserem Selbstverständnis als Ideen- und Impulsgeberin. Er steht für internationale Solidarität und Gerechtigkeit. Heinrich Böll war immer ein Mutmacher und mischte sich auch gegen heftige Widerstände für die Würde des Menschen und die universellen Menschenrechte ein. „Einmischen ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“ – dieses Zitat von Heinrich Böll ist uns lieber als die Bezeichnung „moralische Instanz“ Böll, die er ja selbst für sich ablehnte.

Sein Name zerstreute nach dem Mauerfall auch die Vorbehalte gegen die Krötenretter und Sonnenblumenträger aus dem Westen. Verbunden mit dem in der DDR-Schule Gelesenen, von berühmten Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Osten Geschätzten gelingt es, Interesse an grünen Themen zu wecken, über Zivilgesellschaft und Frauenrechte zu sprechen, einen neuen Raum zu öffnen. Auch in Osteuropa hat der Name Heinrich Böll einen guten Klang. Schnell kommt man miteinander ins Gespräch über Romane, Erzählungen und politische Einwürfe des Kölners.

Mit der Erbengemeinschaft Heinrich Böll haben wir einen Vertrag abgeschlossen, in dem wir uns verpflichten 4,5 Prozent des Gesamtetats für Kunst und Kultur auszugeben. Wir pflegen das Erbe Heinrich Bölls: mit der 27-bändigen kritischen Gesamtausgabe, die zum 25. Todestag bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist, mit dem Böll-Archiv und mit einer neuen Biografie unseres Mitarbeiters Jochen Schubert, die zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse erschienen ist. Wir fördern Kunst und Kultur als Ausdrucksform gesellschaftlicher Selbstverständigung. Wir konzipieren und veranstalten Literaturtage, Filmreihen und Musik und Kulturfestivals. Im Jahr 2016 ging es bei unseren „Deutsch-Israelischen Literaturtagen“ um Fluchterfahrungen und das Ankommen in der neuen Heimat. Beim DExZA-Festival gaben Künstler/innen aus Berlin und dem südafrikanischen Johannesburg Einblick in die Poesie- und Musikszenen beider Städte. Auf den Arabischen Filmtagen gab es Dokumentar-, Kurz- und Spielfilme über starke Frauen aus dem arabischen Raum zu sehen. Wir unterstützen das Projekt „Weiter Schreiben", ein literarisches Portal für geflüchtete Autorinnen und Autoren, das ihnen ermöglichen soll, weiter gelesen und gehört zu werden.

Mehr denn je sind in einer Vielzahl von Ländern Künstlerinnen und Künstler massiven Repressionen ausgesetzt. Die emanzipatorische Kraft der Kunst wird als Bedrohung der Macht nicht nur autoritärer Regierungen gesehen. Auch sogenannte „illiberale Demokratien“ greifen zu Veröffentlichungs- und Ausstellungverboten, schüchtern insgesamt ihre zivilgesellschaftlichen emanzipatorischen Akteurinnen und Akteure ein.

Heinrich Böll selbst hat verfolgten Schriftstellern konkrete Unterstützung und Schutz gewährt.

In dieser Tradition bieten wir im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich Stipendien für Künstlerinnen und Künstler aus unterschiedlichen Ländern an, damit sie einige Zeit in Frieden, ungestört und finanziell abgesichert arbeiten können. Im Jahr 2016 hatten wir Schriftsteller/innen und Journalist/innen aus Syrien, Afghanistan, dem Jemen und Bangladesch im ehemaligen Sommerhaus der Bölls zu Gast. Sie alle mussten ihre Heimat verlassen und leben in Deutschland im Exil.

Der 100. Geburtstag von Heinrich Böll am 21. Dezember ist für uns ein willkommener Anlass, an unseren Namensgeber zu erinnern. Seit seinem Tod im Jahre 1985 hat es in Deutschland keinen vergleichbaren öffentlichen Intellektuellen mehr gegeben: Böll legte sich mit der politischen Linken wie der Rechten an, mit der katholischen Kirche ebenso wie mit der Presse. Er setzte sich für Flüchtlinge aus Vietnam ein und für Dissidenten in Osteuropa. Er war Humanist, aber kein Moralist, und überzeugt, dass „Sprache, Liebe, Gebundenheit den Menschen zum Menschen machen“. In dieser Tradition steht die politische Stiftung, die seinen Namen trägt. Unsere Arbeit ist seiner Haltung verpflichtet: Zivilcourage, Verteidigung der Künstlerinnen und Künstler, streitbare Toleranz und die unbedingte Wertschätzung für Kunst und Kultur.

Wir haben die Wanderausstellung zu Leben und Werk überarbeitet und modernisiert, nach Stationen in Greifswald und Rostock, Kiel und Regensburg war sie in Erfurt zu sehen, Freiburg, Saarbrücken, Bremen, Prag und Warschau sind geplant. Eine Studienreise führte nach Irland, auf den Spuren des legendären „Irischen Tagebuchs“. Auf unserer Website bündeln wir nicht nur all diese Aktivitäten, sondern wir suchen auch Antwort auf die Frage, wie aktuell Böll heute ist, was Künstlerinnen und Künstler, Politikerinnen und Politiker unter „Einmischung erwünscht!“ verstehen und wie wir seine Bücher heute lesen. Auf einer Fest-Veranstaltung im November in Berlin haben wir Heinrich Böll als Künstler und als öffentlichen Intellektuellen geehrt.

In seinem Vorwort zur erwähnten aktuellen Böll-Biografie schreibt René Böll: „Wie alle Menschen hatte mein Vater Stärken und Schwächen. Ich selbst habe ihn immer als selbstkritisch, tolerant und großzügig erlebt. Wichtig ist mir deshalb heute wie früher, dass seine Bücher gelesen werden und sich die Menschen unvoreingenommen ihr eigenes Bild von seiner Person machen.“

Wir als Heinrich-Böll-Stiftung wollen auch in Zukunft im Sinne Heinrich Bölls handeln, wenn wir Einmischung als einzige realistische Möglichkeit zur Veränderung begreifen.

Ellen Ueberschär und Barbara Unmüßig sind Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.