Das Vermächtnis eines sanften Rebellen

Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung berichten von ihren ganz persönlichen Erlebnissen im Jahr 1968. ​Eva Quistorp schreibt über Benno Ohnesorg, Studentenproteste und die Zauberflöte. 

Wahrscheinlich wäre mein Leben vollkommen anders verlaufen, wäre ich nicht am 1. Juni 1967 zum Teach-in an der FU Berlin gegangen, wo der Exil-Iraner Bahman Nirumand sein Buch „Persien, Modell eines Entwicklungslandes“ vorstellte.

Ich war gerade von einem Proseminar bei Professor Goldschmidt gekommen, der vollkommen ungewöhnlich für die Zeit eine Assistentin hatte, Eva Senghaas-Knobloch, ein Doppelname, auch das war etwas Neues. Das Thema: Zur Soziologie des Vorurteils.

Wäre mein Studium ruhig verlaufen, wäre ich vielleicht Pianistin, Mathematikerin oder Professorin für Theologie oder Literatur geworden. Doch der Gewaltschock vom 2. Juni 1967 sollte meinen Studien- und Lebenslauf und den vieler Studenten in der BRD schlagartig ändern.

Benno Ohnesorg, welch ein Name, wirkte so zart auf dem Foto, auf dem die Krankenschwester seinen Kopf hält. Dass er Germanistik studiert hatte, erfuhr ich später, und er war, wie ich, Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde.

Die meisten Flugblätter der Studenten waren ja vollkommen unverständlich und viel zu ideologisch und geschraubt geschrieben für die Mehrheit der Berliner. Ich habe allen beim Verteilen freundlich in die Augen geblickt und einen schönen Sonntag gewünscht.

Dann ging es irgendwann am späten Nachmittag des 2. Juni eilig Richtung Deutsche Oper. Ich kam genau an der Stelle auf der Verkehrsinsel an, die direkt gegenüber dem Eingang der Oper liegt, und sah die berühmte Farah Diba mit dem Schah und dem Bürgermeister Albertz in die Oper gehen.

Während draußen der brutale Polizeieinsatz begann, gab es drinnen meine Lieblingsmusik, Mozarts „Zauberflöte“. Kurz nach 20 Uhr wurde es unruhig, weiter rechts von mir flog etwas durch die Luft, die Polizei drängte Studenten zusammen und begann zu prügeln. Ich weiß nicht, wie viele wir waren, tausend, zweitausend?

Wie ich zurück ins Studentenheim gefunden habe, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich daran, wie wir Studenten die halbe Nacht auf dem Kudamm und schließlich in der Küche des Studentenheims zugebracht haben. Redend, in dem Versuch, die Schrecken dieser Nacht zu verarbeiten. Denn: Die Polizei hatte einen Studenten erschossen!

Keiner von uns konnte in seinen Alltag zurückkehren. Seit dieser Gewalttat kamen viele von uns nicht mehr zur Ruhe. Still und traurig, nicht nur wild und laut waren die Tage des Sommers 1967, mit dem die Studentenbewegung in West-Berlin und bundesweit sich radikalisierte. Einige wurden zu Linkssektierern, gingen in K- oder R-Gruppen und wurden später Chefredakteur, Außenminister oder Ministerpräsident. Andere wurden Terroristen der RAF oder gerieten in die „Bewegung 2. Juni“. Einige traten in die SPD ein, andere gründeten anarchistische Buchverlage oder Sozialprojekte. Wieder andere wurden zu Reformern, alternativen Aktivisten für demokratische Hochschulen, bessere Schulen, Kindergärten, wurden Juristen, Ärzte, Lehrerinnen.

Merkwürdig, dass ich es 50 Jahre verdrängen konnte, dass ich Benno Ohnesorg aus der Evangelischen Studentengemeinde an der FU kannte. Erst in einem Arte-Film erkannte ich auf dem Hochzeitsfoto mit der strahlenden Christa Ohnesorg den charmant lächelnden Benno wieder. Es tut gut, sich seiner lächelnd und fröhlich verschmitzt zu erinnern.

Auszug aus einem Beitrag von Eva Quistorp für die Zeitung Die Welt vom 30. Mai 2017. Nutzung mit freundlicher Genehmigung der Welt.