Guatemala: Filme gegen das bleierne Schweigen

Bericht

Vor 22 Jahren endete der blutige Bürgerkrieg (1960-1996) in Guatemala mit einem Friedensvertrag. Doch über die Ursachen und die Wunden, die der Konflikt hinterlassen hat, wird kaum gesprochen. Eine Ausnahme bildet das Filmfestival „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“, wo im Anschluss an die Filme rege diskutiert wird. Das wird alljährlich in Guatemala-Stadt organisiert, gastiert aber auch als rollendes Kino in abgelegenen Regionen. ​

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Protestbanner gegen die illegale Silbermine San Rafael in Casillas. Santa Rosa.
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Protestbanner gegen die illegale Silbermine San Rafael in Casillas, Santa Rosa.

Estor heißt die Kleinstadt am Rande des Izabal-Sees, wo am 17. November die Leinwand montiert wird. „Wir haben mit der Gewerkschaft der Fischer des Izabal-Sees unser Kommen vereinbart und werden dort mit einem spezifischen Programm für die Region aufwarten. Das ist Teil unseres mobilen Kinokonzepts“, erklärt Mónica Mazariegos Rodas. Sie ist Mitglied des zehnköpfigen Kollektivs hinter dem Dokumentarfilm-Event in Mittelamerika – der „Muestra Memoria Verdad y Justicia“. 

Die Filmschau „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ wird seit 2010 alljährlich in Guatemala-Stadt organisiert und ist zu einem Forum der Debatte geworden. Im Anschluss an die Filme, die zwischen dem 24. und 28. Oktober im spanischen Kulturzentrum „Lux“ präsentiert wurden, gab es Raum für Diskussion und den Austausch von Ideen, Konzepten und Erfahrungen zwischen lokalen und internationalen Cineasten und Cineastinnen.

„In Guatemala alles andere als üblich“, sagt die Dokumentarfilmerin Ana Bustamante.

Sie hat in einer Sondervorführung am 25. Oktober ihre persönliche Familiengeschichte und die des gewaltsam im Bürgerkrieg verschwunden gelassenen Vaters vorgestellt. „La Asfixia“ heißt der Film, auf Deutsch so viel wie „Das Ersticken“. Der Titel ist auf eine Gesellschaft gemünzt, in der auch 22 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs über die Wunden und die Ursachen des überaus brutal geführten Konflikts in aller Regel geschwiegen wird. Das ist ein zentrales Thema in „La Asfixia“, den Ana Bustamante unbedingt bei der Muestra in Guatemala-Stadt präsentieren wollte.

„Das Festival ist der perfekte Ort für so einen Film, denn hier wird miteinander gesprochen, zugehört und reflektiert. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen etwas mitnehmen“, meint die 1983 geborene guatemaltekische Feministin. „Es ist meine Generation, die beginnt nachzufragen, die den Mantel des Schweigens lüften will.“ Vielleicht hätte sie ihren sehr persönlichen Film nie realisiert, wenn sie nicht dank eines Stipendiums nach Barcelona an die Filmhochschule gegangen wäre. Das hat für Distanz gesorgt und für die Entscheidung, sich der Geschichte des eigenen Vaters anzunähern. Emil Bustamante, Veterinär und Professor an der Universität San Carlos wurde im Februar 1982 von der Armee festgenommen und tauchte nie wieder auf. 

Einer von 45.000 gewaltsam Verschwundenen

Seine schwangere Frau floh daraufhin mit Flores, der älteren Schwester Anas, nach Mexiko und kehrte erst vier Jahre später mit den beiden Kindern zurück. Sie verbarg ihr Leid, lebte mit der Angst, dass ihren Kindern das Gleiche wie dem Ehemann passieren könnte und schwieg.

„Über das Verschwinden meines Vaters wurde kaum gesprochen, es war ein Tabu, und mit der Arbeit an ‚Asfixia‘ bin ich in meine eigene Geschichte und die Guatemalas eingetaucht“, erzählt die Regisseurin.

Eine schmerzhafte Geschichte, denn die Suche nach Emil Bustamante blieb bis heute erfolglos – auch ein Familienmitglied mit hohem Rang im Militär wollte bei der Aufklärung nicht helfen. Kein Einzelfall, denn durch viele Familien ziehen sich tiefe Gräben, die auch 22 Jahre nach dem Ende des blutigen Konflikts (1960-1996) noch fortbestehen.

Nicht nur weil 200.000 Menschen starben und weitere 45.000 verschwanden, sondern vor allem, weil die Geschichte des Krieges ein Tabu ist. Auf der Gesellschaft des mittelamerikanischen Landes lastet eine bleierne Glocke der Angst und bestes Beispiel dafür ist die Tatsache, dass es bis heute kein Schulbuch gibt, in dem die Ursachen des Konflikts und die tiefen Wunden, die er riss, erklärt und beschrieben werden, so der deutsche Dokumentarfilmer Uli Stelzner. 

„Weder das Bildungs- noch das Kulturministerium haben daran ein Interesse. Der Genozid an der indigenen Minderheit der Ixil, im Jahrhundertprozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt 2013 eindeutig bewiesen, wird heute von Präsident Jimmy Morales, hinter dem die Militärs stehen, negiert“, erklärt er die aktuelle Situation.

Kein Wunder also, dass seit 2014 das Kinoevent vor allem mit Mitteln aus dem Ausland finanziert wird – vom deutschen Außenministerium, der Schweizer Botschaft, Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam oder der Heinrich-Böll-Stiftung. Um die Finanzierung kümmert sich meist Uli Stelzner, der in Guatemala und Berlin lebt, und das Gesicht des Dokumentarfilm-Festivals ist. Er hat es gemeinsam mit Cineasten und Cineastinnen, kritischen Künstlern und Künstlerinnen sowie Akademikern und Akademikerinnen 2010 aus der Taufe gehoben und ist auch dabei, wenn das Kino-Kollektiv auf Reisen geht. Das ambulante Kino ist Teil des Konzepts, um kritischen Dokumentarfilm auch in abgelegene Regionen des mittelamerikanischen Landes zu tragen.

Kino mit regionalem Bezug

So wie am 10. November als der Kleinbus mit Leinwand, Projektor und Infomaterial zur Muestra auf Tour nach Casillas ging. Dort im Verwaltungsbezirk Santa Rosa, rund sechzig Kilometer von Guatemala-Stadt entfernt, protestiert die lokale Bevölkerung gegen das Bergbauunternehmen San Rafael. Schon bei der Ankunft in Casillas macht der Kleinbus an der Straßensperre halt, wo alle Fahrzeuge in Richtung der Mine kontrolliert werden.

Der Aktivist Juan Monterosa erklärt: „Das Unternehmen hat hier illegal eine Silbermine aufgebaut. Ohne die Bewohner und Bewohnerinnen zu konsultieren, wie es die ILO-Konvention 169 vorschreibt und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen“, so der schlaksige 42-Jährige. Er ist einer von rund 150 Aktivisten und Aktivistinnen, die zum „Widerstand“, zur Resistencia von Casillas, gehören. Einmal pro Woche schiebt er für ein paar Stunden Wache an der Straße, die zur Mine hochführt. Heute gibt er Uli Stelzner und Mónica Mazariegos Rodas ein Interview zur aktuellen Situation, während andere Mitglieder des Widerstands die Fahrzeuge kontrollieren.

„Das ist legitim, denn die Gerichte haben uns Recht gegeben – die Mine ist illegal errichtet worden und muss ihren Betrieb einstellen“, erklärt Monterosa.

Genau das wollen die Menschen im Widerstand durch die Kontrolle der Transporte in Richtung Mine auch durchsetzen, denn das Vertrauen in staatliche und regionale Behörden ist nicht allzu ausgeprägt. Eine Folge der zahlreichen Umwelt- und Bergbaukonflikte, die es in Guatemala gibt und die oft mit der Kriminalisierung der Aktivisten und Aktivistinnen durch die staatlichen Akteure einhergehen. Die agieren meist im Interesse der Investoren, wogegen sich die Betroffenen vor Gericht wehren.

Die Blaupause für den Widerstand in Casillas lieferte der dreijährige, pazifische Widerstand von La Puya gegen die Goldmine Progreso Derivada VII. Der endete mit einem Urteil des guatemaltekischen Verfassungsgerichts und das haben auch die Mitglieder der Resistencia von Casillas erreicht. Sie sind froh, dass das „Cine ambulante“ wie das rollende Kino auf Spanisch heißt, heute mit einem Film zum Thema zu Gast ist. 

„Der Zusammenstoß zweier Welten“ steht als Hauptfilm auf dem Programm und wurde vom Kollektiv hinter dem Dokumentarfilm-Event ausgewählt, um über Rohstoffkonflikte in anderen Ländern zu informieren. „Wir wollen ins Gespräch kommen, nicht nur Filme zeigen und wieder fahren, sondern diskutieren und langfristige Kontakte aufbauen. Unser ambulantes Kino-Programm ist keine Eintagsfliege, sondern will einen Beitrag zur Stärkung der kritischen Zivilgesellschaft leisten“, umreißt Mónica Mazariegos Rodas den Anspruch. 

Kriminalisierung von friedlichen Protesten

In Casillas geht das durchaus auf, denn der Hauptfilm über den Konflikt zwischen der Nationalregierung und indigenen Ethnien um die Erdölförderung in der peruanischen Amazonasregion weist Parallelen zur Situation in Casillas auf. In Peru wie in Casillas wurde die betroffene Bevölkerung nicht gefragt, ob sie einverstanden ist mit der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der damit einhergehenden Kontaminierung von Wasserquellen und Erdreich. Das hat in Peru genauso wie in Guatemala zum friedlichen Protest geführt, der kriminalisiert wurde. Sowohl in Peru als auch in Guatemala laufen Verfahren gegen Umweltaktivisten und -aktivistinnen, die sich schlicht auf ihre Rechte berufen. 

Eine Parallele, die im Anschluss an die Filmvorführung zu regen Diskussionen unter den Zuschauenden und mit dem Veranstaltungskollektiv des ambulanten Kinos führen. Dieser Austausch wird genauso mit der Videokamera dokumentiert wie das Interview mit der Resistencia, denn zum Konzept des ambulanten Kinokonzepts gehört auch die Produktion von Kurzfilmen, die wiederum bei Besuchen in anderen Regionen des Landes oder im Rahmen der nächsten Muestra in der Hauptstadt gezeigt werden sollen. 

Dokumentieren, Informieren und Unterstützen

Dokumentieren, Informieren und Unterstützen von sozialen Bewegungen steht ganz oben auf der Agenda des Cineasten-Kollektivs, das noch zwei weitere Termine mit dem rollenden Kino im November im Programm hat: Vorführungen in Estor am Izabal-See und in Huehuetenango, nahe der Grenze zu Mexiko. 

Auch dort stehen wieder Filme auf dem Programm, die einen direkten Bezug zur lokalen Situation haben. „In Estor werden wir einen Film zeigen, der die Rolle der Frau und die Frage nach der Garantie ihrer Rechte thematisiert. In Huehuetenango ist ein Film über den Bau eines Wasserkraftwerks gegen den Widerstand der lokalen Bevölkerung vorgesehen“, schildert Mónica Mazariegos Rodas die nächsten beiden Vorhaben des Kino-Kollektivs.

Das hat gerade angefangen das Equipment zusammenzupacken, um alsbald die Fahrt zurück nach Guatemala-Stadt anzutreten. Doch zuvor wird noch ein neuer Termin mit den Protestierenden aus Casillas abgestimmt, denn geplant ist es, mit dem rollenden Kino spätestens im Frühjahr zurückzukehren. Dann könnten auch die ersten Kurzfilme aus Estor oder Huehuetenango gezeigt werden oder auch ein Film, der sich mit der Geschichte des Bürgerkriegs in der Region beschäftigt. Das Archiv, auf den das Kollektiv nach fast zehn Jahren Arbeit im Kontext von „Erinnerung Wahrheit und Gerechtigkeit“ zurückgreifen kann, ist stattlich.