Den Stadtverkehr sicher machen

Argumente

Technischer Fortschritt allein reicht nicht aus, um Städte verkehrssicher zu machen. Auch Infrastruktur und Verkehrsregeln müssen fahrrad- und fußgängerfreundlich gestaltet werden.

Kommunale Verkehrswende. Argumente für sicheren Stadtverkehr. Grafik zu Tempo 30

Null Verkehrstote, die sogenannte Vision Zero, haben sich die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag als Ziel gesteckt. Doch Vision und Wirklichkeit klaffen weit auseinander: Allein bei Unfällen im Stadtverkehr sind im Jahr 2017 knapp 1.000 Menschen gestorben. Die meisten Opfer waren Fußgänger/innen (346 Tote) gefolgt von Radfahrer/innen (254 Tote). Will die Bundesregierung der Vision Zero ein Stück näher kommen, muss sie das Straßenverkehrsrecht fußgänger- und fahrradfreundlicher gestalten. Die Kommunen stehen vor der Herausforderung, ihre Infrastruktur sicherer zu machen.

In den vergangenen 20 Jahren konnte die Zahl der Menschen, die jährlich bei Verkehrsunfällen innerhalb von Ortschaften ums Leben kommen, halbiert werden. Das liegt unter anderem daran, dass Autohersteller ihre Fahrzeuge durch Knautschzonen, stabile Fahrgastzellen und Airbags, Servolenkungen, Antiblockiersysteme, elektronische Stabilitätsprogramme und Spiegel gegen den toten Winkel sicherer gemacht haben. Ein Trend, der sich auch in den kommenden Jahren durch den zunehmenden Einbau von Fahrassistenzsystemen wie Einpark- oder Spurwechselassistenten fortsetzen dürfte.

Doch auch wenn der Trend in die richtige Richtung geht, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Eine Viertelmillion Menschen haben sich 2017 bei Verkehrsunfällen innerhalb von Ortschaften verletzt. Viele Opfer überleben nur dank des medizinischen Fortschritts: „Wer früher bei einem Unfall gestorben ist, überlebt heute dank besserer Rettungstechnik und Gesundheitsversorgung oft schwer verletzt. Viele Opfer leiden ein Leben lang unter den Unfallfolgen“, sagt Gerd Lottsiepen, verkehrspolitischer Sprecher beim ökologischen Verkehrsclub VCD.

Tempo 30 für sichere und lebenswerte Städte

Ein großer Schritt Richtung „Vision Zero“ könnte durch die flächendeckende Einführung von Tempo 30 innerorts gelingen. Tempo 30 hat vielfältige Vorteile für die Verkehrssicherheit sowie den Luft-, Lärm- und Klimaschutz. Der Verkehr würde für alle Verkehrsteilnehmer/innen sicherer werden: egal ob sie zu Fuß, auf dem Rad oder mit dem Auto unterwegs sind. In München gilt mittlerweile auf über 80 Prozent der Straßen Tempo 30. Dort sank die Anzahl der Unfälle mit Personenschäden um 62 Prozent, die Anzahl der Schwerverletzten gar um 72 Prozent.

Zudem beschleunigen die Tempolimits ganz nebenbei die Verkehrswende: Da sich die Menschen in einem entschleunigten Umfeld sicherer und wohler fühlen, gehen sie häufiger zu Fuß und fahren öfter mit dem Rad, statt das Auto zu nehmen. Sogar die Fahrgastzahlen von Bus und Bahn – den sichersten Verkehrsmitteln an Land – steigen. Denn Autofahren wird durch Tempo 30 unattraktiver. Dabei verlängern sich die Fahrzeiten durch Tempo 30 gegenüber Tempo 50 für Autofahrer nur unwesentlich, da der Stadtverkehr von Wartezeiten an Ampeln und Stop-and-go geprägt ist. Autos verursachen bei beruhigtem Verkehr weniger Lärm und blasen weniger Schadstoffe in die Luft.

Die Gründe für die gesteigerte Verkehrssicherheit durch Tempo 30 liegen auf der Hand: Der Anhalteweg eines Autos, das mit 50 km/h unterwegs ist, liegt bei etwa 30 Metern, bei Tempo 30 sind es nur 15 Meter. Autofahrer nehmen bei langsamer Fahrt ihre Umgebung besser wahr. Das hilft, viele Unfälle zu vermeiden. Kommt es dennoch zum Zusammenstoß, ist die Aufprallgeschwindigkeit deutlich geringer. Fährt ein Auto mit 50 km/h einen Fußgänger an, liegt seine Überlebenschance bei lediglich 20 Prozent. Bei Tempo 30 steigt sie auf 70 Prozent.

Paragraf drei der Straßenverkehrsordnung (StVO) schreibt innerorts 50 km/h als Regelgeschwindigkeit vor. Will eine Stadtverwaltung auf einer Straße oder in einer Zone Tempo 30 anordnen, geht das in der Regel nur in Wohngebieten oder in Straßen mit großem Fuß- und Radverkehrsanteil. Auf Bundes-, Landes- und Kreisstraßen können Kommunen Tempo 30 nach Paragraf 45 StVO nur in Ausnahmefällen verordnen. Etwa vor Schulen und Altersheimen, um die Sicherheit von Kindern und Senioren zu gewährleisten oder sie vor Verkehrslärm zu schützen. Aber auch wenn die räumliche Nähe der Straße zu einer solchen Einrichtung impliziert, dass hier viele schwächere Verkehrsteilnehmer/innen unterwegs sind, reicht das nicht aus, um ein Tempolimit von 30 km/h anzuordnen. Bei einer Ortsbesichtigung müssen die Kommunalvertreter zuvor die Notwendigkeit des Tempolimits überprüfen und bestätigen. Mit einer Regelung, die 30 km/h zur Basisgeschwindigkeit und Tempo 50 zur Ausnahme auf Hauptverkehrsachsen macht, die begründet werden muss, könnte der Bundesgesetzgeber hier den administrativen Aufwand bei den Kommunen reduzieren und den Verkehr sicherer machen.

Neue Herausforderungen durch E-Bikes

Radfahrer/innen profitieren als einzige bislang nicht von der steigenden Verkehrssicherheit in Deutschland. In den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl der bei Verkehrsunfällen innerhalb von Ortschaften getöteten und verletzten Radfahrenden gestiegen. Etwa 35 Prozent der getöteten Radfahrer/innen sterben bei Unfällen mit Autos, rund 20 Prozent bei Unfällen mit Lastwagen. Verletzungen durch Straßenverkehrsunfälle ziehen sich Radfahrende zu 58 Prozent bei Zusammenstößen mit Pkw zu.

Dabei sind Radler/innen für die meisten Zusammenstöße laut Statistischem Bundesamt nicht verantwortlich. Bei Unfällen mit Personenschaden zwischen Radfahrerenden und Autos lag die Hauptschuld in 75 Prozent der Fälle bei den Autofahrer/innen, bei Unfällen zwischen Radfahrenden und Lkw waren in 80 Prozent der Fälle die Kraftfahrer/innen die Verursacher.

Dass die Unfallzahlen im Radverkehr bislang nicht gesenkt werden konnten, liegt auch daran, dass der Radverkehr zwischen 2002 und 2017 um 29 Prozent zugenommen hat. Einer der Gründe dafür, dass sich mehr Menschen in den Sattel schwingen und dabei längere Wege zurücklegen, ist der Boom der Elektrofahrräder. Vor allem Pedelecs mit einer Tretunterstützung bis zu 25 km/h erfreuen sich in Deutschland großer Beliebtheit. Sie ermöglichen auch untrainierten und älteren Radlern weite Strecken flott zurückzulegen.

Die Zahl der E-Bikes in privaten Haushalten ist 2017 auf 3,1 Millionen gestiegen. Durch die zahlreichen Pedelecs auf den Radwegen und Straßen hat sich ein „Radverkehr der zwei Geschwindigkeiten“ entwickelt. Es kommt häufig zu Situationen, in denen Pedelec-Fahrende vom schmalen Schutzstreifen auf die Straße ausweichen, um nichtmotorisierte Radfahrende zu überholen.

Um die Zahl der Fahrradunfälle zu reduzieren, rät die Unfallforschung der Versicherer (UDV) den Kommunen, ein Netz aus Fahrradstraßen  anzulegen. Diese seien eine sichere Führungsform, die auch bei zum Teil sehr hohem Radverkehrsaufkommen eine geringe Unfallbelastung aufweist. Auf Hauptverkehrsstraßen sind laut UDV auch Schutzstreifen und straßenbegleitende Radwege geeignet, um einen sicheren Radverkehr zu gewährleisten.

Verkehrssicherheit durch technischen Fortschritt

In den ersten acht Monaten des Jahres 2018 sind laut Allgemeinem Deutschem Fahrradclub (ADFC) bereits 26 Radfahrer/innen von abbiegenden Lkw überrollt und getötet worden. Insgesamt passiert ein Drittel der Unfälle zwischen Lkw und Radfahrenden beim Abbiegen. Dabei haben Lkw-Fahrer/innen oft Schwierigkeiten die Radfahrenden rechtzeitig zu sehen, da der tote Winkel ihrer Fahrzeuge deutlich größer ist als beim Auto. Hier können Abbiegeassistenten Abhilfe schaffen. Die Kombination aus Kamera und Bildschirm oder Sensor und akustischem Signal warnt Trucker, wenn sich jemand im toten Winkel des Fahrzeugs befindet.

Eine gesetzliche Pflicht zum Einbau von Abbiegeassistenten gibt es in Deutschland bislang nicht. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer setzt stattdessen auf die freiwillige Selbstverpflichtung großer Supermarktketten und Logistikunternehmen, ihre Lkw mit Abbiegeassistenten auszustatten. Nachrüstsysteme für bestehende Flotten gibt es für 500 bis 1.000 Euro pro Fahrzeug. Die EU-Kommission wird in den kommenden Jahren in ihrer „General Safety Regulation“ (GSR) voraussichtlich den serienmäßigen Einbau von Abbiegeassistenten in Neufahrzeugen vorschreiben. Derzeit überarbeitet sie das Regelwerk.

Doch auch ohne neue Gesetze aus Berlin oder Brüssel können Städte und Gemeinden selbst aktiv werden. Bei Ausschreibungen für Bauvorhaben können Kommunen den Einsatz von Lkw mit Abbiegesystemen einfordern oder die eigenen Fahrzeuge der Müllabfuhr nachrüsten und in Zukunft nur noch Neufahrzeuge mit Abbiegeassistenten anschaffen.