Eine giftige Müllkippe und das kulturelle Erbe der armenischen Minderheit

Hintergrund

2015 gingen die Menschen in Beirut aufgrund des Mülldesasters auf die Straße. Daraufhin wurde die Müllkippe in Burj Hammoud wieder eröffnet. Doch wer zahlt den Preis dafür?

Armenisches Viertel in Beirut
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Armenisches Viertel in Beirut

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Clean it up! Müll in Nahost und Nordafrika".

Lebte er noch, Herr Hammoud wäre entsetzt über das Umweltverbrechen, welches sich in seiner Stadt zuträgt – darüber nämlich, dass der Küstenstrich sich in eine Müllkippe verwandelt, die im Jahr 2020 bereits 600.000 m² umfassen soll. Die Müllkippe von Burj Hammoud, die rasch wächst und nach Osten erweitert wird, zerstört nicht nur die Umwelt, sie hat auch verheerende Folgen für das armenische Erbe der Stadt.

Im Jahr 2015 kam es in Beirut zu Demonstrationen, da die Müllabfuhr nicht funktionierte, worauf man die mehr oder weniger „wilde‟ Müllkippe von Burj Hammoud wieder öffnete. Die sich verschärfende Krise bei der Müllentsorgung hat dazu geführt, dass bestimmte Bräuche und Traditionen, an denen die Armenier von Burj Hammoud zäh festgehalten haben, heute bedroht sind.

„Die Giftigkeit unserer Stadt‟

Selten wird darüber gesprochen, wie giftig die Müllkippe von Burj Hammoud ist, und ähnlich ist es um den Schaden bestellt, den das kulturelle Erbe der ursprünglichen Bevölkerung nimmt. Burj Hammoud ist das Armenierviertel von Groß-Beirut, und eben dort befindet sich die gewaltige Müllkippe, aus der nach Schätzungen von Umweltschützer/innen jährlich 120.000 Tonnen Sickerwasser ins Mittelmeer fließen.

Zwar schwanken, je nachdem welcher Quelle man glaubt, die Mengen des täglich dort abgelagerten Mülls stark, die Müllkippe für Groß-Beirut spielt jedoch eine wichtige Rolle im Hinblick auf die katastrophalen Zustände, die bei der Müllentsorgung im Libanon herrschen, und um die man sich seit Beginn der 1990er Jahre kaum gekümmert hat. Nachdem die Müllkippe 2016 wieder in Betrieb genommen wurde, hat sich der Zustand der Umwelt dort radikal verschlechtert, und das gesamte armenische Leben der Stadt ist mittlerweile bedroht.

Heute liegt ständig ein Gestank über dem Ort. Das war nicht immer so, und ganz sicher sah es anders aus, als sich 1924 die ersten Armenier in Burj Hammoud niederließen, welche dieses Viertel dann nach und nach zu einem Knotenpunkt des Handels und der armenischen Kultur machten. Geflohen waren sie vor dem Völkermord und der Verfolgung und die Stadt wurde zu einem Zufluchtsort. Zunächst für Armenier, später auch für andere verfolgte Volksgruppen wie Palästinenser, Kurden, Assyrer und, seit 2011, auch für viele Syrer. Unter den 10.000 syrischen Flüchtlinge, welche nach Burj Hammoud kamen, befanden sich 4.000 syrische Armenier.

Unter den armenischen Siedlungen im Nahen Osten hat Burj Hammoud nicht nur die höchste Bevölkerungsdichte, sie ist auch am „armenischsten‟, wozu beigetragen hat, dass im Jahr 2016 Tausende von Menschen mit armenischen Wurzeln aus Aleppo flohen, jener Stadt, wo zuvor die größte armenische Bevölkerungsgruppe in der Levante gelebt hatte. Daneben leben in Burj Hammoud viele libanesische Arbeiterfamilien sowie zahlreiche Migrant/innen, was dem Viertel einen ganz eigenen und vielfältigen Charakter verleiht und es deutlich von anderen Bezirken Groß-Beiruts abhebt, wo sich Bevölkerungsgruppen oft feindlich gegenüberstehen.

Da die Einwohner/innen sich mit ihrem Viertel stark identifizierten, entwickelte sich Burj Hammoud im Lauf der Zeit zu dem, was es heute ist, nämlich zu einem kulturellen Bezugspunkt für alle Libanesen mit armenischen Wurzeln und zu ihrer Heimat. Der Müll jedoch ist für das Viertel eine schwere Bürde, und es wäre blauäugig zu glauben, ein Abfallentsorgungsplan, dessen Auswirkungen nie richtig bewertet wurden, könnte dem Viertel nützen. Anwohner/innen und Ortsfremde meiden die Gegend heute gleichermaßen. Die Umweltverschmutzung hat dazu geführt, dass viele hier weder ihre Kinder zur Schule schicken mögen, noch Geschäfte tätigen, essen oder spazieren gehen.

Viele der Frauen, mit denen ich mich auf den Straßen von Burj Hammoud unterhielt, sagten mir, ihre Kinder besuchten Schulen anderenorts, so wie beispielsweise L.K., Mutter zweier Kinder aus Burj Hammoud: „Es ist uns nicht leicht gefallen, die Kinder auf eine andere als eine armenische Schule zu schicken, aber nur so können sie der Umweltverschmutzung entkommen. ‟ Eine andere Frau, Hasmig Krikorian, sagte: „Es ist sehr bedauerlich, wie kaputt die Umwelt hier ist. Heute halten sich unsere Kinder und wir so wenig wie möglich hier auf – und das bei einem Ort, an den ich so viele gute Erinnerungen habe! ‟

Der Druck auf die armenischen Schulen und die westarmenische Sprache

Geht man durch Burj Hammoud, hört man überall Armenisch. Die Armenier von Burj Hammoud und in anderen Teilen des Libanon sprechen einen Dialekt, der sich von dem Armenisch, wie es in Armenien gesprochen wird, unterscheidet, nämlich das „Westarmenische‟. Die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) hat diese Sprache als „bedroht‟ klassifiziert, denn beunruhigenderweise wird sie weltweit von nurmehr 250.000 Menschen gesprochen, von denen die meisten im Nahen Osten oder andernorts in der Diaspora leben.

Im Lauf der Zeit ist die Zahl der armenischsprachigen Bevölkerung im Libanon geschrumpft, und zwar auf Kosten anderer Sprachen wie Arabisch, Englisch und Französisch. Zwar lernen die meisten Libanesen armenischer Abstammung die Sprache im familiären Umfeld, richtig beherrschen sie die Sprache jedoch erst, nachdem sie eine armenische Schule besucht haben. Die armenischen Schulen im Libanon haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, den westarmenischen Dialekt am Leben zu erhalten und zu tradieren. Armenische Schule gibt es zwar in allen Teilen des Libanon, aber in Burj Hammoud befinden sich mit aktuell sechs die meisten.

Da die Umwelt in Burj Hammoud in einem derart schlechten Zustand ist und die armenischen Schulen sich unweit der Müllkippe befinden, mögen viele armenische Eltern ihre Kinder nicht länger nach Burj Hammoud schicken. Genaue Zahlen für den Zeitraum zwischen 2016 und heute sind jedoch kaum zu bekommen, da die Umweltfolgeabschätzung der Regierung noch nicht abgeschlossen ist. Die armenischen Schulen liegen nur zehn Autominuten von der größten Müllkippe des Landes.

Da der Bezirk als Arbeiterviertel gilt, sind die Schulen dort eher erschwinglich als in anderen Vierteln von Groß-Beirut, in denen ärmere Familien die Schulgebühren kaum bezahlen können. Da die Umweltverschmutzung in Burj Hammoud jedoch gravierend ist, schicken viele Eltern ihre Kinder mittlerweile auf erschwingliche, teils öffentliche Schulen, in denen kein Armenisch unterrichtet wird. Die Folge ist, dass unter den Jüngeren die Zahl jener sinkt, die die westarmenische Sprache gut beherrschen, und viele sind ihrer bereits kaum mehr mächtig.

L.K. bestätigt das, als sie mir sagt: „Wir leben in Burj Hammoud, aber meine Kinder besuchen eine nicht-armenische Schule, die anderswo liegt. Da können sie dann wenigstens frische Luft atmen. ‟ Und sie fügt hinzu: „Meine Kinder können Armenisch sprechen, es aber weder lesen noch schreiben. ‟

Leider glauben viele Eltern, ihre Kinder könnten sich, gehen sie in Burj Hammoud zur Schule, mit einer „Krankheit‟ infizieren. Insgesamt geht es den armenischen Schulen in Burj Hammoud nicht gut – ihre Zahl sinkt, und viele haben sich zusammengeschlossen. Im Jahr 2011 gab es in Burj Hammoud und der näheren Umgebung neun armenische Schulen – und früher noch weitaus mehr. Heute wird an sechs Schulen Armenisch unterrichtet, und einige davon werden wohl kaum überleben.

Die armenische Esskultur steht auf der Kippe: „Gibt es sonntags bald keinen Kebab mehr?‟

Die Schäden, welche die Müllkippe von Burj Hammoud verursacht, beschränken sich nicht auf die Schulen, sie betreffen auch eine der wichtigsten Traditionen der Stadt, nämlich die armenische Esskultur. Dieses kulturelle Erbe zeigt sich in den vielen Restaurants und Märkten von Burj Hammoud, aber am stärksten ausgeprägt ist es in den armenischen Haushalten, wo sich die westarmenische Küche über lange Zeit erhalten hat.

Burj Hammoud, bekannt auch als das „Klein-Armenien‟ des Libanon, ist eines der wenigen Viertel im Großraum Beirut, wo man kulinarische Entdeckungen machen kann, was an den zahlreichen Marktständen für Gewürze, Trockenfrüchte und frisches Gemüse liegt, aber auch an den Straßenhändlern, Imbissen und Restaurants, in denen traditionelle Fleischgerichte zubereitet werden. Armenier genießen es, Kebab zuzubereiten. Zwar gibt es in Burj Hammoud eine lebendige Esskultur, diese wird aber von der Müllkippe und ihren Giftstoffen gefährdet, weshalb immer weniger Lokale und auch Privatleute in der Lage sind, diese traditionellen Leibgerichte herzustellen.

Traurigerweise ist in Burj Hammoud durch Umweltverschmutzung und Gestank die Esskultur heute weniger vielfältig als früher, und die armenischen Lokale haben zunehmend Probleme. Herr Leon, der seit dreißig Jahren einen Kebab-Imbiss in Burj Hammoud betreibt, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Müllkippe geht, die unweit seines Geschäfts liegt:

„Die Leute glauben, wir verkaufen hier Müll. Dabei gibt es diesen Imbiss seit 1989! In meinem Laden war immer viel los, und die Kunden wuselten wie die Ameisen. Aber seit die Müllkippe wieder offen ist, kommen immer weniger Leute. Wie lange ich das noch durchhalte – ich weiß es nicht. ‟

Der Laden von Herrn Leon heißt „Urfali‟, das heißt „aus Urfa‟, einer Stadt im Südwesten der heutigen Türkei. Die westarmenische Küche in der Levante hat meist enge Verbindungen mit der Geschichte und der Herkunft der Armenier aus Ostanatolien. „Meine Eltern‟, erzählt Herr Leon, „kamen während des Völkermords aus Urfa in den Libanon. Ich weiß noch, wie sehr mich mein Vater, der leidenschaftlich gerne kochte, für die Kochkunst begeistert hat. Er wollte allerdings nicht, dass ich Koch werde, aber heute mache ich den besten Kebab der Stadt!‟ Besonders stolz ist er auf das von ihm kreierte Sandwich, das er für das beste in Burj Hammoud hält. Als ich ihn nach seiner Kundschaft frage, sagt er: „Ich verstehe das total. Mir fiele es auch schwer, mein Essen zu genießen, wenn überall der Gestank von dem Müllberg da drüben in der Luft liegt. ‟ Wie er das sagt, zeigt er nach Westen, Richtung Meer.

Die katastrophalen Umweltprobleme in Burj Hammoud hindern viele der Einwohner/innen daran, wie gewohnt zuhause zu grillen – eine wichtige Tradition in der armenischen Kultur. Für Armenier ist es so etwas wie ein „geheiligtes Ritual‟, zusammen mit der Familie sonntags das Essen zuzubereiten.

Die 55 Jahre alte Serpouhi Jenanian, die mit ihrer Familie in Burj Hammoud lebt, sagt mir: „Ich kann mich nicht erinnern, wann wir zuletzt auf dem Balkon gegrillt haben. Ständig zieht der Gestank von der Müllkippe herüber, und nichts kann man mehr genießen! ‟

Schon lange beschweren sich die Einwohner/innen von Burj Hammoud über den Gestank der Müllkippe – auch bevor sie 2016 wiedereröffnet wurde. Vergangenen Mai klagten Fischer, deren Boote im Hafen von Burj Hammoud (dem zweitgrößten des Libanon) ankern, dass die unerträgliche Verschmutzung des Hafens, zu der es durch die rücksichtslose Müllentsorgung kommt, sie arbeitslos gemacht habe.

Konjunkturflaute oder Fortschritt: Wohin geht es mit Burj Hammoud?

Anstatt immer heftiger über den Bau von Müllverbrennungsanlagen am Rand von Burj Hammoud zu diskutieren, sollte man sich besinnen und Revue passieren lassen, mit welchen gravierenden Umweltprobleme die Stadt zu kämpfen hat.

Im Jahr 2016 bekannten sich viele Staaten, darunter auch der Libanon, auf der alle 20 Jahre stattfindenden Habitat-Konferenz dazu, die sogenannte „New Urban Agenda‟ umzusetzen. Obgleich der Libanon dieses nicht bindende Abkommen unterzeichnete, bleibt unklar, ob das Land in seinem Geiste handelt, oder sich an andere, bindende Umweltabkommen hält, wie die von Basel und Barcelona, die der Libanon gleichfalls unterzeichnet hat.

Im Falle von Burj Hammoud ist das kulturelle Erbe der armenischen Minderheit bedroht. Die Müllkippe von Burj Hammoud ist nicht nachhaltig, und sie verseucht nicht nur ihre unmittelbare Umgebung, sondern beeinträchtigt die Wirtschaft und Gesellschaft des gesamten Landes.

So lange, wie tonnenweise Müll an der Küste abgeladen werden, werden die Probleme von Burj Hammoud weiter wachsen. Reformen in Sachen Nachhaltigkeit sind dringend nötig, aber bislang gibt es kein landesweites Abfallmanagement. Zwar erhielten die Behörden in Burj Hammoud ein Budget von 25 Millionen US-Dollar, bislang wurde jedoch nur wenig unternommen, um die Situation vor Ort zu entschärfen, damit die Besucher zurückkehren und sich die wirtschaftliche Lage bessert.

Die Gefährdung des kulturellen Erbes der Armenier ist nur eines von vielen Beispielen für die Probleme, welche die Müllkippe von Burj Hammoud verursacht. Was Not tut, ist eine neue Geisteshaltung, denn nur dann kann es gelingen, die Umweltprobleme, wie auch die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen anzugehen, mit denen Burj Hammoud zu kämpfen hat. An erster Stelle sollten bei solchen Reformen jedenfalls die Interessen, das Wohl und die Verbesserung der Lage der betroffenen Einwohner/innen stehen.

Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Version. Die englische Langfassung erschien in dem Magazin Perspectives #14. Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann. Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Clean it up! Müll in Nahost und Nordafrika".