Der typische Phenolgeruch der Elbe

Es dauerte eine Weile, bis der Druck weg war: Christine Bauer arbeitete zur Wende als Wasserwirtschaftlerin in der Staatlichen Gewässeraufsicht und trat 1989 mit dem Neuen Forum für eine Veränderung des politischen Systems ein.

Das Bild zeigt die Elbe bei Magdeburg
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Die Elbe bei Magdeburg

Ich bin dabei gewesen. Ich habe erlebt, wie sich der Alltag, gewohnte, eingespielte Abläufe, Denkweisen und -muster, Menschen, Gesprächsinhalte, Worte, Zusammenhänge innerhalb kürzester Zeit änderten. Und zwar radikal. Das war vor 30 Jahren. 10 plus 10 plus 10 Jahre.

Es dauert so entsetzlich lang, bis das Bewusstsein kapiert, was Augen gesehen und Ohren gehört haben, bis sich neue Gedanken geformt haben und der Mund zu sprechen beginnt.

Antworten auf die vielen Fragen brauchte ich damals nicht erwarten. Die hatte in dieser Zeit niemand. Das blieb für mich auch eine ganze Weile so. Aber nach und nach kam in den letzten Jahren immer wieder ein Stück Geschichte dazu, wie Puzzleteilchen. Das Bild zu den Geschehnissen und seinen Hintergründen und Ursachen wird deutlicher, verständlicher und verliert seine Vordergründigkeit. Die Abläufe, die Chronologie wird umfassender.

Permanent und penetrant

1989 habe ich bereits ein Jahr gearbeitet. Ich hatte Wasserwirtschaft studiert und war danach mit anderen jungen Kollegen als hoch motivierte Mitarbeiterin Teil der Staatlichen Gewässeraufsicht (Teil der Wasserwirtschaftsverwaltung, dem Ministerium für Umweltschutz der DDR unterstellt).

Wir sahen es als dringend notwendig an, etwas zu verändern. Der Zustand der Gewässer, der Flüsse, Bäche und Seen war katastrophal. Die Bäche waren grauweiß vom Abwasserpilz, weil die Abwässer zum großen Teil ungeklärt in die Gewässer geleitet wurden. Die Elbe führte eine hohe Schmutzfracht und diesen Geruch von Phenol mit sich. Das Grundwasser war verseucht von Schwermetallen, Kohlenwasserstoffverbindungen, Ölen und anderen Verbindungen an Standorten mit Industriebetrieben oder der sowjetischen Armee. Wir konnten nicht viel ausrichten, wir hatten keinen Hubschrauber für die Lokalisierung von Ölfilmen auf der Elbe, wir hatten kein Boot, um raus zu fahren, wir konnten die Umweltsünder auch nicht mit Geldstrafen oder irgendwie anders bestrafen.

Ob jemals Fälle von Umweltkriminalität an die Staatsanwaltschaft zur Weiterverfolgung und Anklage abgegeben wurden, weiß ich nicht. Aber wir hatten den absurden Luxus eines Dienstwagens mit Fahrer. Wir versuchten durch den Zugang zu den Betriebsleitungen und Direktoren der volkseigenen Betriebe, den wir per Gesetz hatten, der Stachel im Fleisch zu sein. Permanent und penetrant. Das war für die dickfelligen Betriebsleiter nicht existenziell bedrohlich, aber unangenehm, weil sie unter dem Druck standen, gegenüber der Parteileitung und der Volkswirtschaft den 5- Jahres-Plan hundertprozentig und ohne Vorkommnisse zu erfüllen.

1989 war ich bereits im vierten Jahr Sängerin im Magdeburger Domchor. Eine der drei Proben in der Woche war montags. Irgendwann bin ich nach der Chorprobe mit zu diesem Gottesdienst gegangen, den der Domprediger anfangs für die Menschen abhielt, die einen Ausreiseantrag nach Westdeutschland gestellt hatten und deswegen durch unterschiedliche Repressalien des Systems, der Kollegen, Freunde und Nachbarn zu leiden hatten. Diese Menschen erhielten hier Zuspruch, wenngleich sie vermutlich nicht alle Christen waren. Die Kirche war etwas, dem sie vertrauten.

An meinen ersten Gottesdienst kann ich mich noch deutlich erinnern. Es waren vielleicht 100 bis 150 Menschen im Dom. Wir standen in Gruppen zusammen und diskutierten. Um uns herum gruppierten sich sehr unauffällig junge Männer in einheitlichen kurzen unauffälligen Jacken.

Da war sie, die Staatsmacht. Mitarbeiter der Staatssicherheit. Wir ignorierten sie. Ich habe an diesem Abend im Alter von 23 Jahren zum ersten Mal vor mir völlig fremden Menschen meine Meinung zur politischen Situation ausgesprochen und hatte den Eindruck, den Anderen ging es ähnlich. Das war ein sehr aufregendes Gefühl.

Ein unerhörter Vorgang. Normalerweise sprachen wir über politische und gesellschaftliche Themen nur innerhalb der Familie. Zu groß war die Befürchtung, dass unter den Zuhörern jemand von der Stasi saß und Gesagtes weitertrug, was einem dann irgendwann fürchterlich auf die Füße fiel.

Die Stimmung war gespannt

Ich war keine Heldin, aber ich habe meine eigene Meinung und meinen Standpunkt vertreten. Das hatte in der Schulzeit schon gereicht, um mich trotz Abitur als nicht zuverlässig für einen Leitungsposten für die sozialistische Wirtschaft einzustufen. Denn Menschen, die sich eigene Gedanken machten und aussprachen, waren suspekt, passten nicht ins Raster. Man konnte sie nicht so einfach lenken und beeinflussen.

Ich bin kurze Zeit später, nach dem ersten Gottesdienst im Dom in das Neue Forum eingetreten, weil ich der Meinung war, dass dieses gesellschaftliche System geändert werden musste und konnte.

Die Montagsgottesdienste wurden im Laufe der Zeit von immer mehr Menschen besucht.
Das waren nicht nur Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, sondern die Menschen, die einfach genügend Wut gegen das System der Unterdrückung und ausreichend Mut hatten, dieses auch zu zeigen.

Am 9. Oktober 1989 gab es einen Gottesdienst, zu dem ich gemeinsam mit meinem Mann ging. Ich war schwanger und deshalb war es etwas gewagt, dorthin zu gehen, weil ziemlich viele Menschen im Dom waren. Ich mochte mir nicht ausmalen, was bei einer möglichen Panik passieren könnte. Wir schätzten so zwischen 8.000 und 10.000 Menschen. Das gesamte Kirchenschiff und der Kreuzgang war überfüllt. Die Stimmung war gespannt, weil auch der Ausgang ungewiss war. Wir wussten nicht, wie weit die Sicherheitsorgane gehen würden.

Zu den Weihnachtskonzerten des Domchores kamen auch immer viele Zuhörer in den Dom. Das waren mehrere Tausend. Aber die füllten das Kirchenschiff noch nicht so wie an diesem Abend. Der Domprediger rief während des Gottesdienstes mehrmals zur Gewaltlosigkeit auf. Er erzählte uns, dass ihm gesagt worden war, dass es Störer unter den vielen Menschen gab, die gezielt die Menge aufhetzen wollen und sollen, und dass wir uns nicht aufhetzen lassen sollen. Ich habe auch öfter den Ruf „keine Gewalt“ gehört von den Besuchern des Gottesdienstes.

Wir haben den Gottesdienst im Dom nicht bis zum Ende verfolgt, weil ich schlicht Angst um mein Kind und mich hatte, da die Menschen so dicht gedrängt standen. Wir gingen raus. Draußen an einem großen Seitentor des Doms haben wir mit anderen gestanden und dem Rest der Predigt oder besser dem Appell des Dompredigers Quast zugehört.

Er beschrieb mit klaren einfachen und eindrücklichen Worten die Situation. Er hoffte auf eine Änderung innerhalb des Systems. Mindestens auf ein Einlenken der Partei- und Staatsführung. Denn auf uns wirkten die alten Männer der Staatsführung starr und stur in ihren Handlungsweisen.

Als wir uns danach auf den Weg zu Fuß nach Hause machten, weil die Straßenbahnen nicht fuhren, führte uns der Weg an der Hauptpost vorbei. Hinter diesem alten Gebäude war ein größerer Platz. Sonst um diese Zeit leer. Jetzt standen hier dicht an dicht Schützenpanzerwagen und drum herum Uniformierte mit Waffen, die sich leise unterhielten. Kampfgruppen. Ehrenamtliche Staatsverteidiger.

Das war ein Schock. Uns war sofort klar, warum die da standen. Ein Ausnahmezustand. Aber wir wurden nicht angesprochen oder behelligt. Am nächsten Tag auf Arbeit haben wir durch das Gespräch mit einigen Kollegen zusammen festgestellt, dass es zwei Ringe von Polizei und Kampftruppen um die Innenstadt von Magdeburg gegeben hatte, um im Falle des Angriffsbefehls losschlagen zu können. Ich war froh, dass bei uns alles friedlich blieb. In Leipzig gab es dagegen regelrechte Straßenschlachten. Wir haben jeden Tag Nachrichten vom ARD und ZDF geschaut, weil hier gezeigt wurde, was in Leipzig los war. Die Demonstrationen sahen schon ziemlich heftig aus.

Furcht vor dem Zurückschlagen

Wir sind auch am 4. November auf dem Magdeburger Domplatz demonstrieren gegangen. Meine Eltern, mein Mann und ich. Der Domplatz war voller Menschen. Wir hörten den Leuten zu, die auf der Tribüne redeten. Einer war ein hoher Funktionär der SED. Was er sagte, war spektakulär offen und ehrlich, klang durchaus glaubwürdig, aber es war zu spät für diese Art der Öffnung. Er wurde massiv ausgepfiffen.

Hinter den Gardinen der umstehenden Häuser konnte man Silhouetten von Leuten sehen. Ebenfalls auf den Dächern der Häuser. Die Staatsmacht. Einer der Redner machte sich über diese Unsichtbaren lustig. Es war eine merkwürdige Stimmung. Furcht vor dem Zurückschlagen der Staatsmacht, Wut über die ganze Misere und das neue Gefühl, Meinung aussprechen zu können. Trotzdem musste der Alltag weitergehen. Essen, trinken, schlafen, arbeiten.

Ich weiß nicht mehr, auf wie vielen Demonstrationen wir waren. Diese Aktivitäten wurden durch meine Schwangerschaft begrenzt. Ich konnte einfach nicht mehr stehen. Gut, dass nicht alle schwanger waren...

Die Aufregung über diese Gesamtsituation ließ uns in diesen Tagen bis in den späten Abend vor dem Fernseher zubringen, sodass wir die Mitteilung von Günther Schabowski am 9. November über die Grenzöffnung mitangesehen haben. Es war schwer zu glauben.

Am nächsten Tag, es war ein Freitag, war ich allein auf Arbeit. Ein Teil meiner Kollegen war zu einer Weiterbildung, und vom Rest wusste ich nichts. Es gab auch keinen Publikumsverkehr. Kein Radio, kein Fernsehen.

Ich konnte Niemanden anrufen, weil alle Telefonate überwacht wurden. Die Weltgeschichte musste ohne mich stattfinden, so war damals in dem Moment mein Gefühl. Diese wenigen Tage hatten eine Eigendynamik in der Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Struktur, wie ich sie später nie wieder erlebt habe.

Am Samstag, dem 11.11.1989, sind wir dann zu viert, meine Eltern, mein Mann und ich zum ersten Mal in unserem Leben nach Braunschweig gefahren. Westdeutschland. Wir wollten sehen, ob das alles so wahr war, was wir über die Öffnung der Grenzen in den Medien gesehen und gehört hatten.

Als wir in Höhe der Grenze waren, haben wir vier alle unsere Personalausweise in der Hand gehabt. Aber ich kann nicht mehr sagen, ob wir kontrolliert wurden oder nicht. Ich erinnere mich daran nicht mehr. Es war plötzlich nicht mehr wichtig!

In Braunschweig schien alles in Aufruhr. Am Straßenrand standen Leute, die Stände aufgebaut hatten und Kleidung verschenkt haben. Was uns etwas befremdete. Zumal wir uns „ordentlich“ gekleidet fühlten. Viele Menschen winkten uns freundlich zu. Vor uns fuhr ein westdeutsches Auto, dessen Fahrer uns heftig zuwinkte, wir sollten ihm folgen. Das haben wir nicht getan. Wir waren auch etwas misstrauisch.

Wir sind zum Rathaus gefahren, weil in den Nachrichten gesagt wurde, Jeder würde 100 DM Begrüßungsgeld erhalten. Das war durchaus eine positive Geschichte, denn mit der Ostmark hätten wir nirgends im Westen bezahlen können. Trotzdem war es auch ein Gefühl der Deklassierung. Warum musste uns jemand Geld geben? Ich musste in meinem Leben noch nie betteln. Was ich bisher gebraucht habe, konnte ich kaufen. Ich wollte nichts Anderes brauchen. Ich hatte mich damit abgefunden. Ich hätte aus wirtschaftlichen Gründen nie einen Ausreiseantrag gestellt.

Im Rathaus in Braunschweig lief alles sehr professionell, freundlich und relativ unaufgeregt ab. Natürlich haben wir uns gefreut. Was mir noch in Erinnerung geblieben ist, war der Umstand, dass die Innenstadt Braunschweigs im Gegensatz zu der Magdeburgs trotz des hohen Verkehrsaufkommens sehr ruhig wirkte und frei von dem Gestank der Autos war, die in Magdeburg durch die Straßen fuhren.

Ein Kind der Revolution

Der gesellschaftlich-politische Umbruch Ostdeutschlands hatte natürlich auch für unsere Familie Folgen. Der sozialistische Großbetrieb VEB Stahlgießerei mit mehr als 6.000 Arbeitern, in der mein Mann und mein Stiefvater gearbeitet hatten, wurde von der Treuhandgesellschaft „abgewickelt“. Die meisten Menschen verloren ihre Arbeit. Mein Mann wurde von einem ehemaligen Vorgesetzten gefragt, ob er in seiner neu gegründeten Firma als Konstrukteur mitarbeiten würde, und mein Stiefvater fand sich in einem Verein Verkehrswacht e.V. wieder, der mehrere Menschen unterschiedlicher Berufe aufgenommen hatte. Meine Mutter ist aus der Poliklinik, in der sie als Physiotherapeutin gearbeitet hatte, ausgeschieden und hat sich mit einer eigenen Praxis selbstständig gemacht. Die Polikliniken wurden auch aufgelöst.

Meine Tochter kam im Januar 1990 auf die Welt. Ein Kind der Revolution. Ich denke, sie hat vieles mitbekommen, mitgehört und mitgefühlt. Ein Vorkommnis, was ich damals schon als dramatisch empfand, bekam ich auf der Entbindungsstation mit. Die Schwestern der Station erzählten uns jungen Muttis, dass gleich nach der Grenzöffnung die Eltern einer jungen Frau, die frisch entbunden hatte, auf die Station kamen und sie einfach mitnahmen. Sie ließen ihr Kind auf der Station zurück und fuhren in den Westen, weil sie Angst hatten, die Grenze würde wieder geschlossen werden.

Die Neugeborenen wurden zu dieser Zeit in einem separaten Raum von speziell ausgebildeten Schwestern betreut und nur zum Stillen zu den Müttern gebracht. Ich empfand die Schwestern durchaus als relativ derb, was wir auch zu spüren bekamen, aber dieser Vorfall hatte sie doch sehr berührt.

Nach der Zeit des Mutterschutzes landete ich beruflich in einer sogenannten Warteschleife. Man hatte mir schriftlich mitgeteilt, keine Verwendung für mich zu haben. Die Verwaltung, einschließlich der Umweltverwaltung, wurde durcheinandergeschüttelt. Leute wurden entmachtet, andere kamen bzw. wurden eingesetzt. Die Entmachtung hatte meistens etwas damit zu tun, dass die Leute in der SED waren oder als inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit gearbeitet hatten. Die Leute, die jetzt an die fachlich verantwortlichen Leitungspositionen gesetzt wurden, waren auch nicht alle dafür qualifiziert. Weder fachlich noch mental als Leitungspersonal.

Übrigens wurden auch 10 Jahre nach dem Umbruch immer noch Leute enttarnt, die ihre Kollegen bespitzelt hatten. Unter anderem auch ein Abteilungsleiter in unserer Fachbehörde. Es wurde erzählt, er wäre sich auch nach der Enttarnung keiner Schuld bewusst gewesen.

Mein Wiedereinstieg in den Beruf war holprig. Mir fehlten die verwaltungsrechtlichen Grundlagen des westdeutschen Systems, die sich meine Kollegen in der Zwischenzeit angeeignet hatten.

Wie Leute zweiter Klasse

Aber insgesamt ging es mit dem Umweltschutz jetzt rapid bergauf. Bedingt durch die Fördergelder des Landes, des Bundes und der Europäischen Union konnte das Land abwassertechnisch erschlossen werden. Abwasserkanäle wurden in den Dörfern und Städten verlegt und Kläranlagen gebaut. Vor der Wende hatte unser Bezirk Magdeburg einen Anschlussgrad an die öffentliche Kanalisation von vielleicht 30 Prozent. Der Industriezweig boomte. Neue Klärtechnologien konnten entwickelt werden. Ich arbeitete jetzt in einer Fachbehörde für Wasserwirtschaft und Umweltschutz. Mitarbeiter von westdeutschen Planungsbüros tauchten in unseren Büros auf und erzählten uns was „vom Pferd“. Viele waren extrem arrogant und behandelten uns ostdeutsche Ingenieure wie Leute zweiter Klasse. Im Gespräch erwies sich dann immer, dass auch in westdeutschen Planungsbüros nur mit Wasser gekocht wurde. Leider konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht so gegenhalten. Ich hatte zwar Haare auf den Zähnen, leider fehlten mir für diese Situationen die richtigen Worte. Das änderte sich mit der Zeit.

Die Wirkungen der Ortserschließungen auf die Gewässerqualität konnte ich innerhalb kurzer Zeit beobachten. Das Erscheinungsbild der Gewässer veränderte sich grundlegend. Der Nährstoffeintrag und -gehalt innerhalb der Gewässer wurde stark reduziert. Die Bäche waren nicht mehr grauweiß, sondern wieder durchsichtig und an den Ufern wuchsen nicht mehr nur Brennnesseln als Stickstoffindikatoren. Die Elbe verlor den typischen Phenolgeruch. Natürlich verbesserte sich die Wasserqualität auch durch die Stilllegungen wichtiger Betriebe, die vorher ihr Abwasser ungenügend geklärt in die Gewässer eingeleitet hatten.

Christine Bauer

Christine Bauer, Jahrgang 1966, aus Magdeburg, arbeitete zur Wende als Wasserwirtschaftlerin in der Staatlichen Gewässeraufsicht. 1989 trat sie dem Neuen Forum bei und trat für eine Veränderung des politischen Systems ein. Nach der Wende gehörte sie zu den Mitbegründern der Deutsch-israelischen Gesellschaft (DIG) in Magdeburg und engagiert sich in der Flüchtlingshilfe. Heute arbeitet sie in einer Wasserbehörde und setzt sich nach wie vor für den Schutz der Gewässer ein.

Der Kontakt zu den Freundinnen und Freunden der Heinrich-Böll-Stiftung und die Teilnahme an „Zeigt her Eure Erinnerungen“ kam durch ihre Tochter zustande, die in ihrem Physikstudium durch ein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt wurde.


Die Perversion des DDR-Systems

Das System und die Leute, die aktiv und passiv für seinen Bestand gewirkt hatten, waren nicht nur nicht gut für den überwiegenden Anteil der Ostdeutschen, sie wirkten mit ihren Bestrebungen gegen das eigene Volk. Vor allem gegen die Menschen, die einen anderen Plan hatten und in der Erreichung der sozialistischen Ziele nicht den Gipfel der Weisheit sahen, also gegen die Menschen, die sich nicht so einfach manipulieren ließen.

Direkt nach dem Umbruch erfuhr ich voller Entsetzen von den Lagern, die die politischen Machthaber errichten ließen, um Demonstranten dort festzuhalten. In Magdeburg gab es davon einige. Das waren meistens Stadien, die viele Menschen fassen konnten.

Es gab also während der politischen Unruhen eine Infrastruktur dafür, Aufrührer in den Augen der Machthaber, Demonstranten und Andersdenkende festzunehmen, zu isolieren und einzuschüchtern. Die Perversion des Systems.

Einige Menschen innerhalb des Systems waren durchaus tapfer und sahen, wie schief das Staatswesen hing. Sie brachten sich ein, um andere Menschen zu schützen. Einer war der Chef der Magdeburger Kripo, der sich dafür einsetzte, dass es in den brisanten Situationen nicht eskalierte zwischen Sicherheitsorganen und Demonstranten. Seine Hilfsmittel waren seine Dienststellung, sein Funktelefon und sein Wille, Schlimmeres zu verhindern. Ebenso der sowjetische Stadtkommandant für Magdeburg, der den deutschen Genossen klar gesagt hatte, dass die Russen, wie wir sie nannten, nicht eingreifen werden. Davon las ich aber erst viel später.

Es dauerte eine Weile, bis wir nach dem Umbruch begriffen hatten, dass der Druck weg war, dass sie uns nicht mehr ihren Willen aufdrücken und uns vorgeben konnten, was richtig oder was gut für uns wäre. Das Nachdenken, die Reflexion zu den immensen Veränderungen kam innerhalb dieser Zeit zu kurz. Es war einfach keine Zeit dafür da. Wir mussten Kapitalismus lernen, mein Kind war wichtig, jeden Tag hörten wir etwas extrem Wichtiges und Neues.

Auch neu war, dass man sich jetzt erzählte, wo was für wenig Geld gekauft werden konnte. Das war vorher egal, weil durch den Einheitspreis die Produkte überall den gleichen Preis hatten.

Nach dem Fall der Mauer sprachen auf dem Domplatz westdeutsche Politiker, ohne mich zu erreichen. Auch bei den meisten westdeutschen Journalisten hatte ich das Gefühl, sie wussten nicht wirklich, worüber sie sprachen, wenn sie über Ostdeutschland redeten. Selbst das Kabarett war nichtssagend und kraftlos. Die Wirklichkeit hatte das Kabarett eingeholt. Ich bin sehr froh und dankbar, dass es die Wende gab und ich sie erlebt habe.