Die Bolsonaro-Regierung und der Ausbau der Atomkraft

Hintergrund

Alle fünf Jahre besteht die Möglichkeit, das deutsch-brasilianische Atom-Abkommen von 1975 zu kündigen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen forderte dies in einem Antrag an den Deutschen Bundestag von der Bundesregierung. Der Antrag wurde am 14. November 2019 abgelehnt.

Deutsch-Brasilianisches Atomabkommen Grafik

Nach einem umstrittenen Wahlkampf und einer mit 58 Millionen Stimmen (55 Prozent) gewonnenen Wahl verkündete der neue Staatspräsident Brasiliens, Jair Bolsonaro, eiligst, die Atomkraft und insbesondere der Uranabbau gehörten zu den energiepolitischen Schwerpunkten seiner Regierung.

Dies belegt auch die für 2026 geplante Fertigstellung des Atomkraftwerks Angra-3. Die Kosten der seit 35 Jahren im Bau befindlichen Anlage sind mittlerweile von 10 auf 26 Milliarden US-Dollar gestiegen. Im Zusammenhang mit dem Bauvorhaben wurden mehrfach Korruptionsvorwürfe erhoben, darunter auch gegen den früheren Staatspräsidenten Michel Temer.

Der Nationale Energieplan (PNE) 2030 sieht den Bau von vier bis acht Atomkraftwerken in Brasilien vor. Dieses Ziel soll im PNE 2050 fortgeschrieben werden. Mit seinem bisherigen Kurs beschleunigt Bolsonaro die Nutzung der Atomkraft, die während der Amtszeit von Lula da Silva und Dilma Rousseff praktisch auf Eis lag, denn beide räumten den großen Wasserkraftprojekten Vorrang ein.

Nach dem politischen Prozess gegen Dilma Rousseff ebnete der frühere Staatspräsident Michel Temer für Bolsonaro den Weg zur Wiederaufnahme des Uranabbaus per Dekret. Die Atomenergie hat derzeit einen Anteil von etwa 3 Prozent an der brasilianischen Energieerzeugung.

Atomabkommen

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert per Antrag die Kündigung des deutsch-brasilianischen Atomabkommens

Das mitten in der Militärdiktatur im November 1975 geschlossene Atomabkommen zwischen den beiden Staaten verlängert sich automatisch um fünf Jahre, wenn es nicht ein Jahr vor Stichtag gekündigt wird. Hier der Wortlaut des Antrags sowie einer kleinen Anfrage zum selben Thema der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen an den Deutschen Bundestag. Der Antrag wurde am 14. November 2019 auf Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie abgelehnt.


Uranabbau

Nach den geltenden Bestimmungen der brasilianischen Verfassung fällt es in die alleinige Zuständigkeit des Bundes, „nukleare Dienstleistungen und Anlagen jeglicher Art zu nutzen und das Staatsmonopol über Forschung, Bergbau, Anreicherung und Wiederaufbereitung sowie die Industrialisierung und den Handel mit Kernbrennstoffen und ihren Derivaten auszuüben“. Bolsonaro will dies ändern, indem er Gesetze unterläuft und ein entsprechendes Dekret bzw. eine Verordnung erlässt, anstatt den Weg über einen Verfassungsänderungsantrag zu nehmen, der von mindestens drei Fünfteln der Abgeordneten in Parlament und Senat angenommen werden müsste. Die Reform der Kommission für die Entwicklung der brasilianischen Atomprogramme durch ein im Juni 2019 veröffentlichtes Dekret Bolsonaros stellte einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar.

Alles deutet darauf hin, dass die brasilianische Regierung eine öffentlich-private Partnerschaft als Modell anstrebt. So könnten sich Unternehmen mit der staatlichen Atomfirma Indústrias Nucleares do Brasil (INB) zusammenschließen, die für die Erkundung, Erforschung und Erschließung der Nuklearbrennstoff-Vorkommen zuständig ist. Auf diese Weise würde der Staat seine Monopolstellung behalten, und die Regierung könnte so die Verfassung umgehen und die Uranabbaugebiete in Brasilien um ein Vielfaches ausweiten.[1]

Eine lange Geschichte von Rechtsverstößen und Unfällen

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Probleme, die durch den Abbau von Uran und durch Bergbauprojekte entstanden sind, gehäuft:

2019 brach in Brumadinho (Minas Gerais) ein Damm des Bergbauunternehmens Vale. 246 Menschen starben, 24 sind bis heute vermisst. Bereits 2015 hatte es bei der Firma Vale – im Zusammenschluss mit dem australisch-britischen BHP-Konzern – einen Dammbruch in Mariana (ebenfalls in Minas Gerais) gegeben. 40 Millionen Kubikmeter Giftschlamm verseuchten damals die Flüsse über eine Strecke von 700 Kilometern und ergossen sich dann in den Atlantik. Die Katastrophe von Mariana gehört zu den schwersten umwelt- und arbeitsrechtlichen Straftaten der brasilianischen Geschichte.

Die Gemeinde Poços de Caldas im Süden von Minas Gerais muss Tag für Tag mit dem Atommüll aus einer alten Uranmine leben, der auf einem 1.500 Hektar großen Gelände lagert. Dies entspricht der hundertfachen Fläche des Maracaná-Stadions. Die Mine wurde von 1982 bis 1995 betrieben. Das dort abgebaute Uran wurde unter anderem als Brennstoff im Atomkraftwerk Angra-1 genutzt. Nach der Schließung des Bergwerks wurde das Areal jedoch nicht dekontaminiert. Eine endgültige Lösung des Problems könnte bis zu 500 Millionen US-Dollar verschlingen und 40 Jahre dauern. Vor diesem Hintergrund reichte die brasilianische Staatsanwaltschaft per Dringlichkeitsantrag eine öffentliche Zivilklage gegen die Nationale Atomenergiekommission (CNEN) ein. Die Kommission wurde daraufhin verpflichtet, die brasilianische Bundespolitik zur Regulierung und Inspektion der Rückhaltebecken für Atommüll zu überprüfen.

Auch der Bundesstaat Bahia leidet unter den Folgen des Uranabbaus. Dort häufen sich bei den Bergarbeitern die Fälle von Lungenkrebs und anderen Krankheiten, und das Grundwasser ist verseucht. Die Analyseergebnisse beweisen, dass dort die Strahlenbelastung über das von der Weltgesundheitsorganisation tolerierte Maß weit hinausgeht.

Kooperationsvereinbarungen mit Deutschland

1975 – mitten in der Militärdiktatur – schloss Brasilien ein Atomabkommen mit der Bundesrepublik Deutschland. Die Vereinbarung mit dem Titel „Abkommen über Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie zwischen Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland" verlängert sich seitdem jeweils automatisch um fünf Jahre, wenn keiner der beiden Staaten mindestens ein Jahr im Voraus sein Interesse an einem Widerruf der Partnerschaft bekundet. Gegenwärtig hat Brasilien noch bis zum 17. November 2019 Zeit, um die Vereinbarung ab 2020 aufzukündigen. Sollte die Regierung eine Aufhebung wünschen, müsste sie dem Parlament einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten und dessen Zustimmung mit einfacher Mehrheit einholen.

Nach dem Wortlaut des Abkommens von 1975 war die Entwicklung eines Atomtechnologieprogramms in Brasilien in Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen unter der Führung der Kraftwerk Union (KWU) vorgesehen. Dazu sollten acht Atomreaktoren gebaut und ein ganzer Industriezweig zur Herstellung von Reaktorkomponenten und Brennstoffen geschaffen werden.

Nach 44 Jahren sind nur die Atomanlagen Angra-1 und Angra-2 in Betrieb. Angra-3 soll bis 2026 fertiggestellt werden. Das umstrittene Abkommen ist immer wieder in Frage gestellt worden, unter anderem auch, weil es keine genauen Bestimmungen über den Umgang mit dem Atommüll enthält.

Bis jetzt hat die Regierung Bolsonaro noch nicht durchblicken lassen, welche Absichten sie im Hinblick auf das Abkommen hegt. Weder das brasilianische Präsidialamt noch das Außenministerium oder das Ministerium für Bergbau und Energie wollten in Gesprächen für diesen Beitrag eine Stellungnahme abgeben. Die Analyse ihrer bisherigen Politik deutet jedoch auf eine Fortsetzung des Abkommens hin. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der neue Minister für Energie und Bergbau ein Vertreter des Militärs ist: Admiral Bento Albuquerque war früher Generaldirektor für Nuklear- und Technologieentwicklung der brasilianischen Marine.

Nach Ansicht des Direktors für Planung, Management und Umwelt von Eletrobrás Eletronuclear, Leonam dos Santos Guimarães, hätte die Aufkündigung des brasilianisch-deutschen Atomabkommens von 1975 durch einen der Vertragspartner kaum praktische Folgen für die beteiligten Staatsunternehmen (Eletronuclear, INB und NUCLEP) und wissenschaftlich-technologischen Forschungseinrichtungen (die Institute der Nationalen Atomenergiekommission – CNEN). Die Beziehungen in diesem Bereich sind derzeit in gesonderten Verträgen geregelt, die nach dem Auslaufen des Abkommens von 1975 nicht automatisch null und nichtig wären. Ebenso stützen sich die Beziehungen zwischen den Staatsunternehmen und ihren deutschen Zulieferern auf spezifische Handelsverträge und wären nicht unmittelbar betroffen.

2008 unterzeichneten Brasilien und Deutschland eine neue Kooperationsvereinbarung über die Zusammenarbeit im Energiesektor, diesmal mit Schwerpunkt auf den erneuerbaren Energien und Energieeffizienz. Explizites Ziel des Abkommens ist die Entwicklung einer nachhaltigen Energieinfrastruktur auf der Grundlage von Wasserkraft, Wind- und Sonnenenergie, Geothermik, Gezeitenenergie, Biomasse, festen Abfällen und Biobrennstoffen. Diese Projekte könnten mit Finanzmitteln von bis zu 52 Millionen Euro zu zinsvergünstigten Bedingungen ausgestattet werden.

Der Schwerpunkt bei der praktischen Umsetzung des Abkommens lag bisher im Bereich der technischen Zusammenarbeit. Dabei stellte die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) der brasilianischen Nationalbank für Wirtschafts- und Sozialentwicklung den Löwenanteil der Fördermittel zur Verfügung. 2014 und 2017 wurden zudem Darlehensvereinbarungen über 477 Millionen US-Dollar zur Finanzierung von erneuerbaren Energien getroffen. Keine dieser Transaktionen hatte bisher Auswirkungen auf das Atomabkommen aus den 1970er Jahren, das noch immer von beiden Staaten in seinen ursprünglichen Bestimmungen vollständig eingehalten wird.

Wo steht die Zivilgesellschaft?

Für die organisierte Zivilgesellschaft steht das Atomenergieprogramm Bolsonaros – bis auf wenige Ausnahmen – derzeit nicht auf der Tagesordnung. Das Thema wird in Brasilien bisher nicht diskutiert, und auf der öffentlichen Agenda taucht es nicht einmal an nachrangiger Stelle auf. Die aktuellen Debatten drehen sich vor allem um die Reform der Sozialversicherung, die zunehmende Abholzung der Amazonasregion, die mit den Entscheidungen des brasilianischen Umweltministers verbundenen Rückschläge beim Waldschutz, das von Justizminister Sérgio Moro geschnürte Paket zur „Verbrechensbekämpfung“[2], die Arbeitslosigkeit und die anhaltende Wirtschaftskrise.

Führende Vertreter/innen sozialer Bewegungen haben zu einem “ethischen Aufstand” gegen die Regierung Jair Bolsonaros aufgerufen, darunter auch der Mitbegründer des Weltsozialforums Chico Whitaker. Sein Standpunkt: “Wenn es gegen unsere Prinzipien verstößt, haben wir das Recht uns zu weigern, so zu handeln, wie es uns aufgezwungen wird – selbst wenn dies durch Gesetze oder höheren Befehl geschieht, wir aber aufgrund unserer ethischen Überzeugungen nicht damit einverstanden sind.“

Im Rahmen der rechtlichen Auseinandersetzungen über die Folgen des Dammbruchs von Brumadinho wurden sowohl im brasilianischen Parlament als auch im Senat und im Parlament des Bundesstaates Minas Gerais Untersuchungsausschüsse gebildet. Überdies ermittelt die Bundespolizei gegen das Unternehmen Vale und versucht, Vereinbarungen mit der Bundesstaatsanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft von Minas Gerais zu erzielen.

Ein weiteres, für die Zivilgesellschaft wichtiges Thema ist die Zukunft des Amazonienfonds, der bislang von der norwegischen Regierung mit 3 Milliarden Reais (BRL) und von der deutschen Regierung mit 192 Millionen BRL gefördert wird. Nach verschiedenen Verlautbarungen und Vorwürfen wegen Unregelmäßigkeiten [die laut der Regierung Bolsonaro bei der Verwendung von Mitteln des Fonds durch NGOs angeblich aufgetreten sein sollen, Anm. d. Red.] und der von Umweltminister Ricardo Salles und Jair Bolsonaro vorgenommenen Umbesetzungen in der Fondsverwaltung sind die zwischenstaatlichen Beziehungen belastet. Dutzende Projekte von zentraler Bedeutung für den Umweltschutz in Brasilien sind dadurch gefährdet. Nur eine ständige Mobilisierung der Zivilgesellschaft und Bündnisse mit internationalen Akteuren können unter den derzeitigen Rahmenbedingungen der von der Regierung Bolsonaro betriebenen Politik der Umweltzerstörung und des Sozialabbaus entgegenwirken.

Aus dem Spanischen übersetzt von Beate Engelhardt

 

[1] 2015 wurde die Uranproduktion in Brasilien eingestellt, nachdem sich die Mine von Cachoeira als nicht mehr rentabel erwiesen hatte. INB entschied sich daraufhin für Investitionen in ein anderes Bergwerk der Region, das Mitte 2019 in Betrieb gehen soll.

[2] Sérgio Moro, Justizminister im Bolsonaro-Kabinett. Als Ermittlungsrichter war er mit dem Korruptionsskandal „Lava Jato“ befasst und für die Verurteilung von Ex-Präsident Lula da Silva verantwortlich. [Anm. d. Ü.]