An einem Sportkomplex in Fukushima hat Greenpeace außergewöhnlich hohe Strahlenwerte festgestellt. Ausgerechnet dort soll im März der Fackellauf der Olympischen Spiele in Tokio starten. Die Reaktionen der Regierung wecken starke Zweifel an ihren Bemühungen um Transparenz.
„Eine meiner schockierendsten Entdeckungen in jahrzehntelangen Strahlungsmessungen“
Die beunruhigende Entdeckung sollte eigentlich noch nicht veröffentlicht werden – bis Greenpeace Japan am 4. Dezember feststellte, dass es dazu keine Alternative gab und eine Presseerklärung mit folgender Überschrift herausgab: „Hotspots mit hohen Strahlenwerten am J-Village festgestellt, dem Startpunkt für den Olympischen Fackellauf in Tokio 2020“.
In Japan wird der Geschichte kaum Beachtung geschenkt, aber sie wirft ernsthafte Fragen hinsichtlich des öffentlichen Gesundheitswesens, der Transparenz und der Rechenschaftspflicht auf, die über die Grenzen des Landes hinweg bis in die Schweiz und nach Argentinien reichen. Sie versetzt auch dem Narrativ der japanischen Regierung „alles gut in Fukushima“ einen schweren Schlag, während Tokio sich auf die Olympischen Spiele 2020 vorbereitet. Die Region Fukushima wurde von der dreifachen Kernschmelze im gleichnamigen Atomkraftwerk auf immer verseucht.
Grundsätzlicher betrachtet zeigt die Abfolge von Ereignissen auf, dass offenbar etwas verschleiert werden soll. Normalerweise würde das zu einem PR-Fiasko führen – vorausgesetzt, die über das Thema berichtenden Medien würden die richtigen Fragen stellen, Zusammenhänge herstellen und ein vollständiges Bild liefern.
„Dies ist eine meiner schockierendsten Entdeckungen in jahrzehntelangen Strahlungsmessungen“, sagt Shaun Burnie, Greenpeace-Experte für Atomkraft, der seit der dreifachen Kernschmelze im März 2011 die Arbeit der Umwelt-NGO in Fukushima leitet. „Ein Grund dafür ist, dass der Fackellauf der Olympischen Spiele in Tokio am 26. März von genau dieser Stelle aus starten soll.“
Ein Symbol der Dekontamination nach Fukushima
Der Ort, an dem die radioaktiven Hotspots entdeckt wurde, nämlich das J-Village, hat in Japan hohen Symbolwert. Dutzende Millionen Menschen erfuhren am Höhepunkt der Atomkrise von Fukushima zum ersten Mal davon, als Truppen des japanischen Militärs, die in einem allerletzten Versuch, die Situation unter Kontrolle zu bringen, den Sportkomplex in ein Forward Operating Base umfunktionierten. Die Lage des J-Village etwa 20 Kilometer südlich des Atomkraftwerks Fukushima-Daiichi war ideal: genau an der Grenze des Sperrgebiets, dessen Evakuierung die Regierung angeordnet hatte.
In den folgenden Jahren wurde J-Village zu einem Logistikzentrum für die Dekontamination von Gebieten, die durch radioaktives Fallout vom Atomkraftwerk verseucht waren. Und im April 2019 wurde die Wiedereröffnung des vollständig renovierten Nationalen Trainingszentrums J-Village zum Eckpfeiler einer großen PR-Kampagne, die signalisieren sollte, dass die Dekontamination nach Fukushima endlich vollendet war.
Daher überrascht es nicht, dass die Regierung von Premierminister Shinzo Abe am 26. März 2020 J-Village als „großen“ Startpunkt für den Fackellauf auswählte, der in 121 Tagen alle 47 Präfekturen Japans durchqueren wird – ähnlich wie die 50 US-Bundesstaaten.
Viele in Japan betrachten die Olympischen Spiele in Tokio als einmalige Gelegenheit, sich auf der internationalen Bühne optimal zu präsentieren. Genau wie die Olympischen Sommerspiele in Tokio 1964 den Aufstieg des Landes aus der Asche des Krieges markierte, werden die Spiele 2020 besonders im Inland mit Bezug auf die dreifache Katastrophe vom März 2011 als „Olympische Spiele des Wiederaufbaus“ vermarktet.
Eine unerwartete Entdeckung
Am 26. Oktober hatte ein Team von Greenpeace-Fachleuten an mehreren Stellen in der Umgebung des Sportkomplexes außergewöhnlich hohe Strahlenwerte festgestellt. Die Messungen waren Teil einer Studie, die Greenpeace in den wichtigsten kontaminierten Gebieten von Fukushima seit 2011 jährlich wiederholt. Dabei werden mit hochpräzisen Sensoren, die auf Drohnen, Fahrzeugen und Handheld-Geräten montiert sind, Zehntausende Messungen durchgeführt.
Der höchste Wert, 71 Mikrosievert pro Stunde in Bodennähe, wurde auf einem Parkplatz gemessen. „Ich stand weniger als einen Meter vom Hotspot entfernt und zwei Meter von einem geparkten Auto, aus dem eine Frau gerade ausgestiegen war“, erinnert sich Teamleiter Shaun Burnie. „Fußballteams saßen in nur 30 bis 40 Metern Entfernung auf dem Asphalt und aßen zu Mittag. Fans, Familienmitglieder und Coaches waren auch da.“
Nach Angaben von Greenpeace ist der Wert 71 Mikrosievert pro Stunde „1.775mal höher als die 0,04 Mikrosievert pro Stunde aus der Zeit vor der dreifachen Kernschmelze des Reaktors Fukushima Daiichi“. Nach dem Unfall hat die japanische Regierung die umstrittene Entscheidung getroffen, den Grenzwert für die maximale Exposition von Zivilpersonen in Fukushima von 1 Millisievert (= 1.000 Mikrosievert) pro Jahr – dem von der Weltgesundheitsorganisation und der Internationalen Atomenergie-Organisation empfohlenen Wert – auf 20 Millisievert pro Jahr anzuheben. 71 Mikrosievert pro Stunde entsprechen auf das Jahr umgerechnet fast 622 Millisievert – selbst wenn man den erhöhten Wert von 20 Millisievert pro Jahr zugrundelegt, entspricht das also einem 31mal höheren Wert.
„Es wird sicherlich niemand ein Jahr lang an einem Hotspot stehen, aber dies zeigt auf, dass ein Kontaminationsproblem besteht,“ sagt Burnie. „Das viel ernsthaftere Risiko besteht darin, cäsiumreiche Mikropartikel einzuatmen. Die langfristigen Risiken sind weiterhin eine große Unbekannte.“
[Anmerkung: Bei den Gesundheitsrisiken, die auf derart hohe externe Strahlenbelastung zurückzuführen sind, handelt es sich um ein hochkomplexes und umstrittenes Thema, das den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Dieser Artikel in der Zeitschrift Scientific American über die Rückkehr von Menschen in die Region Fukushima, die von der Nuklearkrise vertrieben wurden, behandelt das Thema zum Teil.]
Verschiedene Optionen
Das Greenpeace-Team verbrachte nur etwa zwei Stunden vor Ort, identifizierte jedoch rasch sechs Hotspots, die weniger als etwa 100 Meter voneinander entfernt sind. „Derart hohe Werte festzustellen, besonders an öffentlich zugänglichen Orten, war gelinde gesagt unerwartet,“ sagt Burnie.
Das Team diskutierte umgehend drei Optionen und wog sie gegeneinander ab: 1) die Informationen sofort zu veröffentlichen, 2) die Behörden zu informieren und sie zum Handeln aufzufordern und 3) die Informationen festzuhalten, die Daten aus der gesamten Fukushima-Studie zusammenzustellen – dieser Prozess dauert ein bis zwei Monate – und den jährlichen Bericht wie geplant Ende Februar oder Anfang März zu veröffentlichen (siehe z.B. den Bericht von Greenpeace Japan vom März 2019).
„Wegen der hohen Strahlungswerte haben wir die dritte Option sofort ausgeschlossen,“ sagt Burnie. „Die erste Option war sehr verlockend, aber wir wollten der Regierung, der Präfektur Fukushima und den für J-Village zuständigen Behörden die Gelegenheit geben, sofort zu handeln.“ Greenpeace entschied sich für die zweite Option in Form eines Briefs an Umweltminister Shinjiro Koizumi, der auch an den für J-Village zuständige Gouverneur der Präfektur Fukushima, den Präsidenten der Japanischen Olympischen und Paralympischen Komitees, den Präsidenten des Internationalen Paralympischen Komitees und schließlich auch an das mächtige Internationale Olympische Komitee (IOK) in Lausanne ging.
Der Beginn eines PR-Fiaskos
Am 18. November übergab Greenpeace den Brief einem Beamten der PR-Abteilung des Umweltministeriums und versandte ihn an die anderen Adressaten per Einschreiben. Darin verwies die NGO auf „dringende Bedenken“, legte die Methodologie und die Ergebnisse der Studie dar und empfahl „sofortige und umfangreiche“ Messungen in den öffentlich zugänglichen Bereichen in und um das J-Village.
Es folgten zwei Wochen vollständiger Funkstille, obwohl Greenpeace regelmäßig bei der PR-Abteilung des Umweltministeriums und des J-Village telefonisch nachfragte. Und dann erhielt Greenpeace Japan am Montag, den 2. Dezember einen Anruf von der Tageszeitung Sankei Shimbun, die (wohl weit) am rechten Rand des politischen Spektrums steht. Dabei weigerte sich Greenpeace, die Studie zu bestätigen oder zu dementieren.
Am Dienstag rief dieselbe Zeitung erneut an und nannte die genaue Zahl 71 Mikrosievert pro Stunde. Die Katze war aus dem Sack, und der Artikel in Sankei sollte am Mittwoch in Druck gehen. Dies war die Veranlassung für Greenpeace, am 4. Dezember mit einer umfassenden Presseerklärung an die Öffentlichkeit zu treten.
Atomkraftexpertin Kazue Suzuki zufolge hatte die NGO ursprünglich vorgehabt, bis Mitte Dezember abzuwarten, sodass die Regierung und J-Village in der Lage wären, sachgerecht zu antworten. Nach Angaben von Suzuki hatte Greenpeace zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Texts (8. Dezember 2019) von der PR-Abteilung des Umweltministeriums lediglich mündlich zugesichert bekommen, „darauf hinzuarbeiten, bis zum 19. Dezember eine Antwort geben zu können“.
Zu dem Zeitpunkt hätte man durchaus davon ausgehen können, dass die Behörden einfach auf Zeit spielten, umso mehr, weil Greenpeace Japan sich wegen seiner Kampagnen gegen den japanischen Walfang und seiner höchst kritischen Haltung zum Thema nukleare Dekontamination nicht gerade großer Beliebtheit in Regierungskreisen erfreut. Der Sankei-Artikel vom 4. Dezember enthielt aber auch Enthüllungen, die ein ganz neues Bündel Fragen aufwerfen.
Ein diskreter Paukenschlag
Der Sankei-Artikel unter dem Titel „Startpunkt des Olympischen Fackellaufs erneut dekontaminiert“ zitierte „mehrere Regierungsquellen“, die die Ergebnisse der Greenpeace-Studie bestätigten, einschließlich des Höchstwerts von 71 Mikrosievert pro Stunde. Er gab auch zum ersten Mal der Öffentlichkeit die Existenz eines Briefs bekannt „mit der Bitte um Handeln seitens des Umweltministeriums, des Japanischen Olympischen Komitees und des IOK“ – ging jedoch nicht so weit zu erwähnen, dass der Brief bereits 2 Wochen zuvor verschickt worden war.
„Die Regierung nimmt Studienergebnisse aufgrund möglicher Sicherheitsbedenken der an den Olympischen Spielen teilnehmenden Länder ernst“, hieß es im Artikel, um daraufhin diese entscheidende Information zu liefern: „Am 2. Dezember haben Vertreter/innen des Umweltministeriums, der Gemeinde, der Tokyo Electric Power Company (Tepco) und J-Village eine Sitzung abgehalten, und am 3. Dezember hat Tepco [kontaminierten] Boden aus dem umgebenden Gelände entnommen.“
Was noch wichtiger war: der Sankei-Artikel machte plötzlich klar, wenn auch zwischen den Zeilen, dass weder die Regierung noch die Präfektur Fukushima noch Tepco – die sich alle wiederholt auf größere Transparenz bezüglich radioaktiver Kontamination verpflichtet hatten – es für notwendig gehalten hatten, die Öffentlichkeit über die Hotspots oder über ihre Entscheidung, diese Bereiche zu dekontaminieren, zu informieren.
Rätselhaft ist zudem das Schweigen des Gouverneurs von Fukushima, Masao Uchibori, der als Präsident des J-Village den Greenpeace-Brief direkt erhalten hatte. Falls seine Wählerinnen und Wähler von dieser Angelegenheit erfahren sollten, würde seine Verwaltung aller Wahrscheinlichkeit nach wütenden Eltern, deren Kinder im J-Village Ferienlager besuchten, und anderen besorgten Bürgerinnen und Bürgern Rede und Antwort stehen müssen.
Mehr noch: es besteht keinerlei Anzeichen dafür, dass die Behörden überhaupt beabsichtigen, im gesamten J-Village-Komplex sofort und umfassend Strahlungsmessungen durchzuführen, wie Greenpeace Japan dringend angeregt hatte. „Wenn es sich hier um eine Nuklearanlage handelte,“ sagt Burnie, „hätte die Angelegenheit sofort als Störfall gemeldet und das Gebiet abgesperrt werden müssen.“
Zurückhaltende Medienberichterstattung
Anders als in Ländern mit viel Atomkraft wie Frankreich oder den Vereinigten Staaten zu erwarten wäre, hielten keine der Mainstream-Medien in Japan diese Geschichte für so wichtig, dass sie darüber prominent berichtet hätten.
Der kurze Sankei-Artikel war auf Seite 26 versteckt, was möglicherweise erklärt, warum nur wenige andere japanische Medien, etwa Mainichi Shimbun, die Geschichte aufgriffen, alle in ähnlich zurückhaltender Weise. Die Schlagzeilen waren von Formulierungen wie „Regierung verschleiert radioaktive Hotspots am J-Village“ weit entfernt, und die Artikel stellten auch keine Fragen nach Transparenz oder Rechenschaftspflicht.
Meist wurde sogar die Bezeichnung Greenpeace durch „ein Umweltverband“ ersetzt, trotz seiner herausragenden Rolle als Whistleblower, der als erster die Regierung über die Angelegenheit informiert hat.
Bloomberg und AFP gehörten zu den wenigen nicht-japanischen Medien, die die Geschichte aufgriffen; Einzelheiten über die Chronologie der Ereignisse oder die weiterreichenden Auswirkungen waren aber auch bei ihnen nicht zu finden.
Wussten die Behörden von Hotspots am J-Village oder in dessen Nähe, bevor sie den Brief von Greenpeace erhielten? Wenn nicht, warum haben sie es versäumt, sie festzustellen? Warum zogen sie es vor, nichts zu sagen, nachdem sie feststellten, dass die Strahlungswerte eine Intervention erforderten? Sind sie in der Lage zu garantieren, dass J-Village bis zum olympischen Fackellauf sauber bleiben wird? Ist es zu vertreten, in der Anlage Sporttraining und Wettbewerbe mit Kindern durchzuführen?
Keine dieser Fragen ist bislang thematisiert worden, und es ist unklar, ob das jemals geschehen wird.
Dies ist nicht das erste Mal, dass japanische Medien Nachrichten im Zusammenhang mit dem Atomunfall in Fukushima Daiichi absichtlich oder unabsichtlich unbeachtet ließen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Regierung sich dazu entschieden hat, Angelegenheiten, die für die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit direkt relevant sind, nicht offenzulegen.
Einige anschauliche Beispiele: in den ersten 6 Wochen nach dem Nuklearunfall verwendeten die japanischen Medien das Wort „Kernschmelze“ nicht, sondern die weniger furchteinflößende Formulierung von Tepco und der Regierung, nämlich „Teilschäden an Brennstäben“; die Medien berichteten im Allgemeinen nicht über Aussagen von Evakuierten, die ihr Misstrauen gegenüber Daten der offiziellen Messstellen offen zum Ausdruck brachten (manche behaupteten, sie hätten gesehen, wie Arbeitskräfte den Bereich im direkten Umfeld der Sensoren regelmäßig dekontaminierten, vermutlich um sicherzustellen, dass die gemessenen Werte niedrig sein würden); und die Enthüllung im Februar 2012, dass die japanische Regierung in der dunkelsten Stunde erwogen hatte, Tokio zu evakuieren.
Außerhalb von Japan: die argentinische Perspektive und das IOK
Wie der Sankei-Artikel unterstreicht, scheint sich die Sorge der japanischen Regierung international betrachtet darauf zu konzentrieren, wie die an den Olympischen Spielen in Tokio 2020 teilnehmenden Länder reagieren könnten. Es gibt jedoch auch weitere Fakten, die weder japanische noch ausländische Medien bislang in Zusammenhang gebracht haben: J-Village war während der Rugby-Weltmeisterschaft, die Japan 2019 ausgerichtet hat, ein wichtiger Standort und diente weniger als 6 Wochen vor Entdeckung der Hotspots als Trainingsplatz für die argentinische Nationalmannschaft.
Einem Reporter von Argentiniens führender Tageszeitung La Nacion zufolge, der während der WM über das Team berichtete, trainierten und übernachteten Los Pumas (wie die Fans das Team nennen) Mitte September mindestens eine Woche lang im J-Village. Hätten sie das getan, wenn es irgendwelche Verdachtsmomente bezüglich der Strahlung gegeben hätte?
Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Texts stand weder die argentinische Nationalmannschaft noch die Argentinische Rugby Union für eine Stellungnahme zur Verfügung. Bereits am 4. Dezember wurde dem Reporter von La Nacion Einzelheiten zu dieser Geschichte und ein Angebot zur Zusammenarbeit übermittelt, aber eine formelle Antwort darauf steht bislang aus.
Auch in der Schweiz gibt es eine Perspektive, die verfolgt werden sollte, nämlich die des Hauptquartiers des Internationalen Olympischen Komitees in Lausanne.
Das IOK ist eine der Institutionen, die den Brief von Greenpeace Japan per Einschreiben erhalten haben. Und genau wie die Institutionen in Japan hat es noch nicht darauf reagiert – geschweige denn, dass es die Öffentlichkeit über die Ergebnisse informiert hätte. Dies wirft einige Fragen auf, u.a.: was ist die Position des IOK in der Angelegenheit der radioaktiven Hotspots? Wie stellt es sich dazu, am J-Village ein groß angelegtes öffentliches Event wie der Start des Fackellaufs zu veranstalten, ohne dass im Vorhinein eine umfassende Studie durchgeführt wird?
Eine schweizerische Tageszeitung, La Liberté, wurde direkt kontaktiert und mit detaillierten Informationen versorgt, besonders im Zusammenhang mit dem IOK, aber die Redaktion entschied, das Thema nicht aufzugreifen.
Analyse des Autors
Es ist für einen Journalisten ungewöhnlich, seine persönlichen Gedanken in einen Bericht einfließen zu lassen. Der Autor teilt die Philsophie von Citizen Truth und glaubt „an die Macht gewöhnlicher Menschen, die ihre Nachrichten, Gedanken und Erfahrungen teilen“ – wie alle anderen Journalistinnen und Journalisten ist auch er ein gewöhnlicher Bürger – und er möchte an dieser Stelle in die Ich-Form wechseln, um mit den Leserinnen und Lesern ein paar Überlegungen zu teilen und diese gleichzeitig von der Geschichte selbst getrennt halten.
Ich habe mehrere Jahre lang als Reporter für Nuclear Intelligence Weekly über den Atomunfall in Fukushima berichtet und gelegentlich auch für andere nicht-japanische Medien, darunter Time, the Independent und die kanadische CBC. Ich habe Evakuierte interviewt, insgesamt eine Woche mit einem Bauern in der Sperrzone verbracht, bin mit einem industrietauglichen Geigerzähler herumgelaufen, habe für das Asia-Pacific Journal eine umfangreiche kritische Einschätzung der Dekontaminationsbemühungen in Fukushima geschrieben und habe sogar auf einem von der Tokyo University of Marine Science and Technology betriebenen Forschungsschiff an einer Studie auf See vor Fukushima Daiichi als Beobachter teilgenommen.
Was sind meine wesentlichen Erkenntnisse daraus? Um nur einige wenige im Zusammenhang mit diesem Artikel zu benennen: die japanischen Medien schrecken notorisch davor zurück, negative Informationen zu veröffentlichen, die nicht von der Regierung oder anderen offiziellen Quellen bestätigt worden sind; es ist sehr aufwändig, Strahlungswerte und ihre Bedeutung zu verstehen; und es bestehen weiterhin erhebliche Zweifel über die Bereitschaft der Regierung, mit den Zahlen transparent und offen umzugehen, besonders wenn sie dem Narrativ „alles gut in Fukushima“ widersprechen.
Trotz der ständigen Zusicherungen der japanischen Regierung werden die Folgen der Nuklearkrise in Fukushima in der nächsten Zeit nicht verschwinden, und das trifft auch auf die Radionuklide zu, die über große Teile der Präfektur verstreut sind. Man muss sich nur eine Landkarte ansehen, um festzustellen, dass 70 bis 80 Prozent des Gebiets, das am stärksten von radioaktivem Fallout betroffen ist, aus Bergen und Wäldern besteht, die per Definition nicht „dekontaminiert“ werden können, ohne dabei gewaltige Umweltschäden anzurichten. Die direkte Folge ist, dass radioaktive Partikel weiterhin über Gebiete verstreut werden, die als „für die Rückkehr sicher“ designiert sind, und obwohl die Hintergrundstrahlung abnimmt, wird sie auch in den wieder zugänglich gemachten Teilen Fukushimas noch jahrzehntelang höher als normal sein.
Für mich ist es nicht überraschend, dass diese Geschichte offenbar im Keim erstickt oder zumindest erst einmal neutralisiert wurde. Das einzige für mich vorstellbare Szenario, das die japanischen Mainstream-Medien dazu bringen würde, sie wieder aufzugreifen, wäre ein offizieller Protest seitens eines anderen Landes oder einer anderen Institution, zum Beispiel der Argentinischen Rugby Union. Was tatsächlich geschehen wird, bleibt abzuwarten.
Erstveröffentlichung am 8. Dezember 2019 auf Citizen Truth.
Übersetzt aus dem Englischen von Sandra H. Lustig
Update von Migual A. Quintana (24. Jan. 2020):
Als die Geschichte ans Licht gekommen war, hat das japanische Umweltministerium am 12. Dezember eine ausführliche Presseerklärung veröffentlicht. Sie bestätigte die grundlegenden Tatsachen und die Abfolge der Ereignisse, die Greenpeace dargelegt hatte, meldete die Entdeckung eines weiteren Hotspots, der zügig dekontaminiert wurde, und veröffentlichte Informationen zu Strahlungswerten „im und um das J-Village“ auf Grundlage zusätzlicher Messungen.
Die Presseerklärung endete mit der folgenden Aussage: „Notwendige Maßnahmen werden ergriffen und die Öffentlichkeit wird informiert werden, in Kooperation mit im Zusammenhang stehenden Organisationen, wenn in Bereichen, in denen Dekontaminationsarbeiten durchgeführt werden, eine Erhöhung der Luftdosisleistung bestätigt wird.“
In der Presseerklärung wurde nicht angesprochen, warum die Behörden mehr als 4 Wochen gewartet hatten, bevor sie die Existenz von Hotspots öffentlich bestätigten, während Kinder, Teenager und ihre Familien weiterhin an Sportveranstaltungen im J-Village teilnahmen. Ebenfalls wurde nicht erläutert, wie es dazu gekommen war, dass die besagten Hotspots vor der Greenpeace-Studie der Entdeckung entgangen waren.
5 Tage nach der Presseerklärung des Umweltministeriums reagierte Greenpeace mit einer eigenen Erklärung und argumentierte, trotz der Maßnahmen der Regierung sei die „radioaktive Kontamination beim J-Village nicht unter Kontrolle“. Heinz Smital, Atomphysiker und Strahlungsspezialist bei Greenpeace Deutschland, sagte bei einem Aufenthalt in Fukushima: „An der Fähigkeit der Behörden, Strahlungshotspots korrekt und konsequent festzustellen, scheint es ernsthafte Zweifel zu geben.“ Er rief die Behörden dazu auf, „zügig und effektiv zu handeln, um einen umfassenden Aktionsplan für die Dekontamination vorzulegen, der die Öffentlichkeit beruhigen kann.“
Weitere Informationen zum Thema:
The Guardian: Radiation hotspots 'found near Fukushima Olympic site'
Greenpeace Japan: High-level radiation hot spots found at J-Village, the starting point of Tokyo 2020 Olympic Torch Relay