Das neuartige Coronavirus katapultiert uns nicht nur aus unserem Alltag, der Umgang mit der Covid-19-Pandemie führt uns auch die Handlungsunfähigkeit der EU in Krisenzeiten vor Augen. Gestrandet sind nicht nur Menschen auf Flughäfen und Bahnhöfen, gestrandet ist in den letzten Wochen auch die Hoffnung, dass Europa an einem Strang zieht.
Die Situation, in der wir uns derzeit in der Europäischen Union befinden, hätten noch vor einigen Wochen wenige Menschen für möglich gehalten. Die Bilder, die wir seit Tagen sprachlos und besorgt verfolgen, sind dramatisch. Die Zahlen der Infizierten und Todesfälle steigen rasant an, die Gesundheitssysteme sind oder werden perspektivisch überfordert. Italien, Frankreich und Spanien sind derzeit besonders betroffen, aber auch in anderen Mitgliedstaaten mangelt es in Krankenhäusern an Intensivbetten, Pflegepersonal, medizinischem Material und Schutzausrüstung. Die Einführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum führt zu Chaos, langen Wartezeiten und der Störung von Lieferketten. Die Innenstädte der meisten europäischen Hauptstädte sind aufgrund der in vielen Ländern eingeführten Einschränkung der Bewegungsfreiheit leergefegt. Selbstständige und Unternehmen bangen um ihre Existenz, die Szenarien zu den Folgen für die Wirtschaft sind niederschmetternd.
Ungleichzeitigkeit nationalstaatlicher Maßnahmen
Das neuartige Coronavirus katapultiert uns nicht nur aus unserem Alltag, der Umgang mit der Covid-19-Pandemie führt uns auch die Handlungsunfähigkeit der EU in Krisenzeiten vor Augen. Die Ungleichzeitigkeit und Unterschiedlichkeit der von den 27 Regierungen verabschiedeten Maßnahmen, die die Ausbreitung des Virus hinauszögern sollen, sagen viel über den Zustand der EU aus. Gestrandet sind nicht nur Menschen auf Flughäfen und Bahnhöfen, gestrandet ist in den letzten Wochen auch die Hoffnung, dass Europa an einem Strang zieht. Man wird das ungute Gefühl nicht los, dass einige Staats- und Regierungschefs in einen Wettstreit um souveränistische Entschlussfähigkeit und das schnellstmögliche Abflachen der Corona-Kurve getreten sind. Das mangelhafte Krisenmanagement auf EU-Ebene, die unzureichende und zaghafte Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten sowie der Rückzug in nationale Denkmuster und Egoismen wirft bei vielen Bürgerinnen und Bürgern die Frage auf: Welche Rolle spielt in der gegenwärtigen Krise eigentlich die Europäische Union?
Handlungs(un)fähig? Kompetenzen der EU im Falle einer Pandemie
Eine Erklärung für die mangelhafte Koordination liegt in der Tatsache begründet, dass die Gesundheitspolitik in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegt. Gemäß Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) soll die Europäischen Union die Politik der Mitgliedstaaten ergänzen und die Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren sicherstellen. Die Mitgliedstaaten sind in diesem Kontext dazu verpflichtet, ihre Politiken und Programme zu koordinieren.
Mit dem „Beschluss zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren“ wurde 2013 der Rechtsrahmen für die epidemiologische Überwachung und die Kontrolle übertragbarer Krankheiten in der Europäischen Union überarbeitet. Ziel des Beschlusses ist es, die Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten zu unterstützen, um eine bessere Prävention und Kontrolle der Ausbreitung schwerer Krankheiten über die Grenzen der Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Die EU verfügt über einige Instrumente zur Beobachtung, wissenschaftlichen Beratung und europapolitischen Koordinierung, welche in der gegenwärtigen Krise zwar zum Einsatz kommen, aber bisher offensichtlich nicht voll ausgeschöpft werden.
Im Gesundheitssicherheitsausschuss beraten sich Vertreterinnen und Vertreter der Gesundheitsbehörden (HSC für „Health Security Committee“). Aufgabe des HSC ist es, die Bereitschafts- und Reaktionsplanung der Mitgliedstaaten in Abstimmung mit der Europäischen Kommission zu koordinieren. Das Mandat zur Überwachung und Risikobewertung von Gefahren für die menschliche Gesundheit durch übertragbare Krankheiten hat auf EU-Ebene das „Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten“ inne (ECDC für „European Centre for Disease Prevention and Control“). Das Netz zur epidemiologischen Überwachung wird vom ECDC koordiniert. Teil des Netzes ist das „Frühwarn- und Reaktionssystem“ zur Kommunikation und Berichterstattung bei grenzüberschreitenden Gesundheitsrisiken (EWRS für „Early Warning and Response System“).
Hinzu kommt auch der Zivilschutz-Mechanismus, der eine verstärkte Zusammenarbeit bei Notsituationen und Katastrophen in und außerhalb der EU verfolgt (CPM für „Civil Protection Mechanism“). Erwähnt werden muss auch die „Integrierte EU-Regelung für die politische Reaktion auf Krisen“ (IPCR für „Integrated Political Crisis Response“). Die IPCR ist der Mechanismus des Rats zur Reaktion auf sektorenübergreifende und komplexe Krisen mit dem Ziel der europaweiten Koordinierung auf höchster politischer Ebene. Die erwähnten Mechanismen können allerdings nur eine Wirkung entfalten, wenn alle Mitgliedstaaten kooperationsbereit sind – und genau diese Bereitschaft war in den letzten Wochen nur selten zu spüren.
Die IPCR wurde von der kroatischen Ratspräsidentschaft zur innereuropäischen Koordinierung zwar Ende Januar aktiviert, übereinstimmenden Medienberichten zufolge waren die Gesundheitsministerinnen und Gesundheitsminister bei ihrem Treffen am 6. März in Brüssel aber nur unzureichend über die Maßnahmen in anderen Mitgliedstaaten informiert. Empfehlungen seitens der EU wurden ausgesprochen, fanden aber offenkundig nicht den notwendigen Resonanzboden in den jeweiligen Ländern. Letztlich wurden auch innerhalb der nationalen Regierungsapparate eigene Risikoabschätzungen vorgenommen und die länderspezifischen Prioritäten in den Vordergrund gestellt. Ein Rückfall in egoistische Krisennationalismen steht der Koordinierung und Zusammenarbeit auf EU-Ebene bislang im Weg.
Krisenmanagement: Nationale Alleingänge versus europäische Koordination
Als sich die Staats- und Regierungschefs gemeinsam mit Charles Michel, Ursula von der Leyen, Christine Lagarde und Mário Centeno in einer Videokonferenz am 10. März zu einer besseren Abstimmung untereinander verpflichteten, war die gemeinsame Vertrauensbasis bereits beschädigt. Einige Mitgliedstaaten hatten zuvor die Ausfuhr medizinischer Güter blockiert, obwohl das krisengebeutelte Italien schon zu diesem Zeitpunkt dringend auf die Unterstützung der europäischen Partner angewiesen war. Trotz erneuter Zusicherungen auf höchster EU-Ebene folgten unilaterale Grenzschließungen, Reisebeschränkungen und Quarantänemaßnahmen. Der Vorschlag der Europäischen Kommission hinsichtlich gemeinsamer temporärer Einreisebeschränkungen in die EU markiert den verzweifelten Versuch, etwas Struktur in das Chaos nationaler Alleingänge zu bringen.
In den letzten Wochen versuchte der Rat durch tägliche Telefongespräche zwischen den Ministerinnen und Ministern der Gesundheits- und Innenressorts, die Abstimmungsprozesse zu verbessern. Auch erfolgt nunmehr eine europaweite Bestandsaufnahme der Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte sowie der Produktions- und Verteilungskapazitäten. Die zwischenzeitlichen nationalen Ausfuhrbeschränkungen für persönliche Schutzausrüstung wurden wieder aufgehoben. Von der Kommission wurde eine Soforthilfe von zunächst 7,5 Milliarden Euro für die Unterstützung von Gesundheitssystemen, kleineren Unternehmen und schwer getroffenen Wirtschaftssektoren und die Lockerung europäischer Fiskalregeln in Aussicht gestellt. In einer Videokonferenz von Mário Centeno mit den Finanzministerinnen und Finanzministern verwies der Eurogruppen-Chef am 16. März auf den durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zur Verfügung stehenden Kreditrahmen bis 410 Milliarden Euro, um die Märkte zu beruhigen. Solidarische finanz- und wirtschaftspolitische Ankündigungen wurden am darauffolgenden Tag nach einem virtuellen Treffen des Europäischen Rats ebenso bekräftigt wie der bereits erwähnte Impuls der Kommission zu zeitweiligen Einreisebeschränkungen im Schengenraum.
Um den freien Warenverkehr im europäischen Binnenmarkt aufrechtzuerhalten, wurde am 18. März seitens der kroatischen Ratspräsidentschaft zudem ein virtuelles Treffen der Verkehrsministerinnen und Verkehrsminister einberufen. Am selben Tag betonte die Chefin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde nach anfänglichem Zögern, dass „außergewöhnliche Zeiten außergewöhnliche Maßnahmen erfordern“. Der Schutzwall der Europäischen Zentralbank, ein Anleihekaufprogramm von über 750 Milliarden Euro, soll Spekulationen auf eine Illiquidität von Euroländern entgegenwirken. Die Notwendigkeit einer „resoluten, ambitionierten und koordinierten politischen Antwort“ zur Abfederung der schwerwiegenden ökonomischen Folgen wurde am 23. März von den Finanzministerinnen und Finanzministern hervorgehoben.
Diese Erklärungen werden allerdings nur eine Wirkung entfalten, wenn die Regierungen der Mitgliedstaaten zukünftig ihre nationalen Egoismen überwinden. Das virtuelle Treffen des Europäischen Rats am 26. März verdeutlichte leider erneut die Zerstrittenheit der Staats- und Regierungschefs in Bezug auf die gemeinsamen finanzpolitischen Mittel zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Während insbesondere die stark betroffenen Südländer Italien und Spanien, wie bereits in der Eurokrise, gemeinsame europäische Staatsanleihen (sog. Euro- bzw. Corona-Bonds) fordern, stößt dieser Ansatz bei Deutschland und den Niederlanden auf rigide Ablehnung. In den kommenden Wochen sollen die Finanzministerinnen und Finanzminister der Eurogruppe wirtschafts- und finanzpolitische Lösungsvorschläge erarbeiten, eine Einigung auf die sog. Corona-Bonds im Europäischen Rat scheint derzeit allerdings wenig aussichtsreich. Die Position der deutschen Bundesregierung ist in diesem Kontext ignorant und unsolidarisch, weil sie den Ernst der Situation in den Südländern verkennt. Die Tatsache, dass in einigen Krankenhäusern Deutschlands nun Patientinnen und Patienten aus Italien und Frankreich versorgt werden, ist zwar ein wichtiges Signal, ausreichen wird es aber nicht.
Die EU steht vor gewaltigen Herausforderungen
In den letzten Wochen wurde deutlich, dass die Covid-19-Pandemie unsere Gesundheitssysteme überfordert, bzw. kollabieren lässt und die Weltwirtschaft aller Wahrscheinlichkeit nach in eine tiefe Krise stürzen wird. Die bisherigen Reaktionen und unzureichend koordinierten Maßnahmen drohen auch, soziale Ungleichheiten innerhalb der EU zu vertiefen, demokratische Entscheidungsprozesse lahmzulegen und den europäischen Zusammenhalt zu gefährden. Am Beispiel Ungarns wird gerade deutlich, dass der Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus von Staats- und Regierungschefs außerdem instrumentalisiert werden kann, um den Abbau des Rechtsstaats voranzutreiben. Ein von der ungarischen Regierung auf den Weg gebrachtes Notstandgesetz hat in Brüssel für Besorgnis und Kritik gesorgt, da es dem ungarischen Premier Viktor Orbán erlauben würde, zeitlich unbegrenzt per Dekret zu regieren und das Parlament in eine "erzwungene Pause" zu verdammen.
Bis zum 31. Dezember 2020 stehen für die EU wichtige Entscheidungen auf der Tagesordnung, von denen einige wegen der Pandemie mit großer Wahrscheinlichkeit verschoben und deshalb Notfallpläne entwickelt werden müssen: Der neue Mehrjährige Finanzrahmen (2021-2027) soll verabschiedet und die zukünftigen Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich müssen geklärt werden. Vorschläge der Kommission zum Europäischen Grünen Deal und zum neuen Migrations- und Asylpakt sollen in und zwischen den Institutionen verhandelt werden. Derzeit arbeitet die Kommission in zwei Schichten, um die Fortführung der politischen Prozesse zu gewährleisten. Auch das Europaparlament erprobt neue Lösungen, um in den kommenden Wochen eine Verzögerung wichtiger Abstimmungsverfahren zu vermeiden und die demokratischen Entscheidungsprozesse des Parlaments am Laufen zu halten: In einer historischen Plenarsitzung am 26. März stimmten die Europaabgeordneten erstmals per E-Mail für die von der Kommission vorgelegten europaweiten Notfallmaßnahmen, u.a. die Bereitstellung von 37 Milliarden an EU-Geldern aus dem Kohäsionsfond sowie eine Erweiterung des EU-Solidaritätsfonds. Außerdem wählt der Rat neue Wege der Entscheidungsfindung: So sprachen sich die Ministerinnen und Minister für europäische Angelegenheiten in einer Videokonferenz am 24. März dafür aus, Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufzunehmen. Die längst überfällige Entscheidung für die Aufnahme der Verhandlungen wurde zwei Tage später vom Europäischen Rat getroffen.
Am 1. Juli 2020 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Der deutschen Bundesregierung kommt in dieser Zeit innerhalb der EU eine moderierende Aufgabe zu. Im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen und die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie sind mit der anstehenden Ratspräsidentschaft gewaltige Herausforderungen verbunden. Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass die EU koordinierter handelt und solidarische Wege aus der Krise findet. In den letzten Tagen konnte man oft vernehmen, dass die Bewältigung von Krisen auch Chancen für die Zukunft birgt. Uns sollte aber auch klar sein, dass man nicht aus jeder Krise gestärkt hervorgehen muss. Der Zusammenhalt der EU, das zeigt der bisherige Umgang mit der Pandemie, ist äußert fragil. Wir müssen alles dafür tun, dass die EU nicht daran zerbricht.