Inauguration Day für eine neue transatlantische Solidarität

Kommentar

Der Sturm auf das Kapitol ist ein Weckruf, den Populismus massiv in die Schranken zu weisen. Mit der neuen Administration von Joe Biden und Kamala Harris öffnet sich ein window of opportunity, die transatlantischen Gemeinsamkeiten neu zu formulieren und zu formatieren.

Flagge der EU und der USA auf einer Wand

Noch nie in der jüngeren Geschichte stabiler Demokratien war der Machtübergang von einer Präsidentschaft zur nächsten in einem derartigen Ausmaß von krisenhaften Polarisierungen und Eskalationen überschattet und gefährdet. Was in den USA, der ältesten Demokratie der Welt derzeit geschieht, ist von hoher Symbolkraft für die globale Auseinandersetzung zwischen demokratischen Gesellschaften und den sie bedrohenden Machtergreifungsversuchen autoritärer politischer Akteure. Die Erstürmung des Kapitols, des Sitzes der wichtigsten Institutionen der Demokratie in den USA - unter begeisterter Anteilnahme des noch amtierenden Präsidenten - hinterlässt tiefe Verunsicherung und ist zugleich ein Weckruf, dem Populismus und seiner Aushöhlung demokratischer Prinzipien nicht nur standzuhalten, sondern ihn massiv in die Schranken zu weisen: Wehrhaftigkeit der Demokratie und Resilienz der Institutionen stehen ganz oben auf der Agenda, und sind nun auch ein zentrales Thema der transatlantischen Solidarität. Mit der neuen Administration von Joe Biden und Kamala Harris öffnet sich ein window of opportunity, die transatlantischen Gemeinsamkeiten neu zu formulieren und zu formatieren. Kein Zurück in gute alte Zeiten, die ohnehin nie tatsächlich so gut waren, wie sie im Rückblick erscheinen.

Zunächst bleibt festzuhalten: Das transatlantische Verhältnis ist eine zentrale Säule deutscher und europäischer Politik, von der Außen- über die Handelspolitik bis zur Gesellschaftspolitik. Die vier Jahre unter dem 45. Präsidenten haben Löcher geschlagen und Brüche produziert, aber die Säule nicht zum Einsturz gebracht. Das transatlantische Verhältnis erscheint heute strapaziert, vielleicht sogar ramponiert, doch die Ursachen sind einerseits in einer US-Regierung zu suchen, die dem europäischen Projekt feindlich gegenüber stand, andererseits aber auch in innenpolitischen Krisen auf beiden Seiten des Atlantiks. Eine ganze Reihe von Missverständnissen und Ärgernissen lassen sich darauf zurückführen, dass beide Partner nicht geklärt haben, welche Rolle sie in der veränderten Weltordnung des 21. Jahrhunderts einnehmen wollen und können.

Eine Wiederbelebung und Neuausrichtung des transatlantischen Bündnisses steht an! Es wird nicht mehr ausreichen, sich auf alte Muster und Argumente zurückzuziehen, in Form eines allgemeinen Verweises auf die Wertegemeinschaft, auf die Dankbarkeit für Demokratie und Freiheit, auf die historisch begründete, kulturelle Verbundenheit und vor allem die Notwendigkeiten und Dominanz der Sicherheitspolitik.

Die grundlegenden demografischen, demokratiepolitischen und sozialstrukturellen Wandlungsprozesse unserer Gesellschaften, hinterlegt mit globalisierungs- und technologiegetriebenen ökonomischen Veränderungen, machen eine Neuausrichtung des transatlantischen Bündnisses in mindestens drei Hinsichten nötig:

1. Menschen einbeziehen, die unsere transatlantischen Beziehungen zukünftig prägen werden!

Die Frage, wer eigentlich in zehn bis zwanzig Jahren das Bündnis tragen soll, liegt auf der Hand. Längst haben zivilgesellschaftlichen Organisationen enge Kontakte geknüpft, längst geht es nicht mehr ohne eine zeitgemäße Weitung der Perspektive junger Generationen, die den kalten Krieg nur aus dem Geschichtsbuch kennen. Längst geht es nicht mehr ohne die Perspektive der Black, Indigenous, People of Colour (BIPoCs). Der neue transatlantische Trägerkreis braucht die jungen Leute, die ein anderes Bild von ihrem Land haben und das überkommene überholen wollen, Frauenbewegungen, die transnational vernetzt sind und Minderheiten, die mit einem differenzierten Bild der USA aufwachsen und globale mit lokalen Themen verbinden. Nicht nur in den USA, sondern auch in der EU sind die Black-Lives-Matter-Bewegung, die Aufarbeitung des kolonialen Erbes und der Einsatz für die Rechte von marginalisierten Gruppen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Klimaschutz ist für junge Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks ein, wenn nicht das zentrale Thema, bei dem es nicht nur um CO2-Emissionen geht, sondern um soziale und globale Gerechtigkeit, Inklusion und einen neuen Gesellschafts- und Generationenvertrag. Ohne diese Menschen, zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Themen wird eine Neudefinition der transatlantischen Beziehungen nicht gelingen. 

2. Der europäische Gedanke ist das Herzstück transatlantischer Beziehungen

Gute deutsch-amerikanische Beziehungen brauchen noch bessere europäisch-transatlantischen Beziehungen. Die Herausforderungen im Klimaschutz, in der Digitalisierung, im Handel können Europäer*innen nicht auf nationalstaatlicher Ebene angehen. Mit der Stärke der Europäischen Union können externe Partnerschaften an Kriterien von Menschenrechten und liberaler demokratischer Verfasstheit gemessen werden. Der europäische Binnenmarkt und die Handelspolitik sind existenziell für die globale Wirkmächtigkeit Europas und eine Basis, mit den Vereinigten Staaten gemeinsame Interessen zu verfolgen. Eine enge europäisch-transatlantische Kooperation und Abstimmung ermöglicht ein wirkungsvolles und koordiniertes Agieren gegenüber Russland und China, in ökonomischen, aber auch in sicherheitspolitischen Fragen wie der Rüstungsexportpolitik oder dem Schutz im Cyberraum. Deshalb war es eine gute Nachricht, als die Europäische Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) kurz nach der US-Wahl gemeinsam ein Papier vorlegten, in dem sie ihre Vorstellungen zur Neubelebung der transatlantischen Beziehungen präsentierten. Das signalisierte europäisches Selbstbewusstsein. Gerade jetzt eröffnen sich Möglichkeiten für länderübergreifende europäische Kooperationen und Projekte. Dazu kommen die Perspektiven von transatlantischen Städte-Partnerschaften und Kommunen, in denen gesellschaftliche Veränderungen als erstes sichtbar werden.

3. Transatlantische Solidarität neu denken

Es geht um so viel mehr als Krisenbewältigung - Coronakrise, Wirtschaftskrise, Klimakrise, Gefährdung der Demokratie durch die Schwächung ihrer Institutionen: Solidarität heißt, die gemeinsame Wertebasis von Demokratie, Freiheit und Vielfalt neu auszubuchstabieren und auf allen Ebenen - weit über die regierungsoffiziellen Kontakte hinaus - starke Verbindungen zu knüpfen. Solidarität als neuen Wertekern zu verstehen, das muss Grundlage der zukünftigen transatlantischen Beziehungen sein – Solidarität mit der Mehrheit der US-amerikanischen Gesellschaft bei der Verteidigung der Demokratie.

Transatlantische Solidarität ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis größerer Unabhängigkeit und Eigenverantwortung Deutschlands und Europas in Hinblick auf Industrie- und Handelspolitik, Geoökonomie, Klimaschutz und die digitalen Angriffe auf unsere Demokratie. Beidseitige Solidarität als Leitmotiv birgt so auch die Chance, die transatlantischen Beziehungen auf zwei starke Füße zu stellen, anstatt die einseitige Abhängigkeit Europas von den USA in den Vordergrund der Debatte zu rücken, von der globalen Gesundheitspolitik über die Welthandelspolitik bis zum Umgang mit dem chinesischen digitalen Totalitarismus.

Das Momentum der Biden-Harris-Administration für ein neues transatlantisches Verhältnis zu nutzen, ist das Anliegen einer überparteilichen Gruppe von Expertinnen und Experten, die der Willen eint, über eine Legislatur hinauszudenken und zu planen.

Der Aufruf versteht sich als ein Diskussionspapier. Es vereint verschiedene Perspektiven. Nicht alle Positionen werden innerhalb der Stiftung und nicht von allen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern geteilt.

Es geht darum, alte Gewissheiten zu transformieren, neue Perspektiven einzubeziehen und gemeinsam das voranzubringen, was Demokratie und Freiheit verteidigt und weiterentwickelt.


(Anmerkung der Red.: Dieser Text wurde ggü. der Fassung vom 18.01.2020 aktualisiert.)