Transatlantisch? Traut Euch!

Aufruf

Für eine Neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika.

Aufruf Traut Euch

Der Aufruf versteht sich als ein Diskussionspapier. Es vereint verschiedene Perspektiven. Nicht alle Positionen werden innerhalb der Stiftung und nicht von allen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern geteilt.

Darüber hinaus haben Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie Alumni der Heinrich-Böll-Stiftung einen Diskussionsbeitrag dazu veröffentlicht.

1. Neustart: Warum und wie?

Die Erosion der transatlantischen Beziehungen ist eine strategische Krise für Deutschland. Die Trump-Jahre haben sowohl die Verwundbarkeit Deutschlands als auch die Unverzichtbarkeit des Bündnisses der Demokratien offenbart. Ohne dieses Bündnis lässt sich weder ein stabiles Europa bauen, noch die internationale Ordnung gestalten.

Mit dem neuen Präsidenten Joe Biden bietet sich die einzigartige Chance, diese Krise zu überwinden und das westliche Bündnis so zu erneuern, dass es weit über die nächsten vier Jahre trägt. Dazu sollte die Bundesregierung unverzüglich auf die künftige amerikanische Regierung zugehen und eine Neue Übereinkunft treffen.

Diese Übereinkunft muss gemeinsame Ziele und Maßnahmen bestimmen. Und zwar so, dass Deutschland und Amerika ihre Verantwortung für den Zusammenhalt und die Gestaltungskraft der Gemeinschaft liberaler Demokratien insgesamt annehmen. Insbesondere muss über Amerikas Rolle und Präsenz in Europa und Deutschland neue Einigkeit erzielt und diese Abmachung über die Amtszeit des künftigen Präsidenten hinaus gesichert werden. Zudem bedürfen Menschheitsgeißeln wie die Corona-Pandemie und die Erderwärmung dringend gemeinsamer Lösungen. Auch muss die Zusammenarbeit auf eine neue generationelle und zivilgesellschaftliche Basis gestellt werden.

Jetzt ist der Moment, um zu handeln. Die Bundesrepublik braucht dazu Führung, politischen Willen, Ideen und einen Plan – ausgehend von dem vitalen Interesse Deutschlands, dass Amerika eine europäische Macht bleibt.

Und zwar nicht allein, weil die Bundesrepublik nur bedingt verteidigungsbereit ist und sogar zusammen mit den europäischen Partnern nur auf sehr lange Sicht eigenständig verteidigungsfähig werden könnte. Sondern auch wegen der oft übersehenen zweiten wichtigen Rolle Amerikas: als Rückversicherer der europäischen Einigung und damit als Friedensbewahrer Europas.

Nach Jahrhunderten europäischer Kriege galt das größte Misstrauen eines jeden Staates allzu oft dem eigenen Nachbarn. Erst amerikanische Präsenz und amerikanisches Engagement haben die geopolitische Konkurrenz auf dem europäischen Kontinent eingehegt; und die amerikanische Garantie bleibt bis heute eine Voraussetzung der europäischen Integration.

Kein Land hat von der amerikanischen Rolle in Europa mehr profitiert als Deutschland. Wegen seiner Größe, Geschichte und Wirtschaftskraft schlagen keinem Land Europas mehr nachbarschaftliche Aufmerksamkeit, Vorbehalte und sogar Misstrauen entgegen als Deutschland. Amerikas Rückversicherung für Europas Stabilität und Einigung ist deshalb die wichtigste geostrategische Grundlage des deutschen Nachkriegsglücks. Nicht zuletzt, weil Amerika sich Europa öffnet, bleibt die deutsche Frage geschlossen.

Es hat somit den innersten Kern von Deutschlands nationalem Interesse verletzt, dass Präsident Trump die Spaltung Europas vorantrieb und das europäische Integrationsprojekt in Frage stellte. Trotz aller Appelle zur europäischen Geschlossenheit als Antwort auf Trump trat das Gegenteil ein: Die Risse quer durch den Kontinent wurden nur noch vertieft. Die erneute Offenlegung der eigenen Fragilität und Spaltbarkeit ist Europas bitterste Lehre aus der Präsidentschaft Donald Trumps.

Deshalb kommt es für Deutschland jetzt darauf an, gemeinsam mit dem künftigen Präsidenten Joe Biden und den europäischen Partnern Amerikas Rolle in Europa neu zu definieren und längerfristig zu festigen. Und dies unter dramatisch veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen: Deutschland wie Europa müssen erst noch damit zu leben lernen, dass nach 500 Jahren nun Ostasien das strategische Zentrum der Welt ist und nicht mehr der europäische Kontinent. Das bedeutet: Amerikas Aufmerksamkeit und Ressourceneinsatz wird nicht vornehmlich Europa gelten. Es gibt kein plausibles Szenario der europäischen Zukunft, in dem seine Nationen – Deutschland in erster Linie – nicht deutlich mehr für die Sicherheit und die Stabilität des eigenen Kontinents tun müssen.

Die entscheidende Veränderung gegenüber der Amtszeit Donald Trumps wird sein, dass dieser Prozess nun nicht länger disruptiv, ohne strategische Begründung und per Ukas aus Washington stattfindet. Vielmehr werden Deutschland und Europa einen Partner an ihrer Seite wissen, der die neue transatlantische Aufgaben- und Verantwortungsbalance gemeinsam mit den Europäern entwickeln wird. Denn Amerika selbst wird langfristig nur durch die enge Zusammenarbeit mit einem stabilen, demokratischen, prosperierenden und gemeinsam handlungsfähigen Europa die eigene Weltmachtrolle erhalten können – genauso wie Europa die gemeinsame Handlungsfähigkeit nur erhalten und ausbauen kann, wenn sie transatlantisch abgesichert ist. Europäische Idee und atlantische Orientierung gehören deshalb zusammen, auch in Zukunft.

Die Bundesregierung könnte es sich einfach machen und in den Gestus einer abwartenden Kooperationsbereitschaft verfallen. Sie würde sich dann schlicht in jene Agenda einbringen, die der neue Präsident vorgibt. Das ist nicht falsch, denn große Teile von Bidens Programm klingen, als seien sie in Berlin erdacht worden: Pariser Klimaziele verfolgen und verschärfen, Rüstungskontrollinitiativen starten, Iran-Verhandlungen wieder aufnehmen, die Verteidigung der Demokratie neuerlich in den Mittelpunkt der Außenpolitik rücken.

Aber Abwarten und dann Mitmachen ist nicht genug. Deutschland muss nun selbst aktiv werden und, in Abstimmung mit den europäischen Partnern, schnell ein Ideenpaket vorlegen, das auf den Kern der transatlantischen Übereinkunft zielt und sie zukunftsfest macht. Die Zeitspanne für Gespräche über die Neuausrichtung ist erschreckend kurz. Es wird Monate dauern, bis Joe Biden seine wichtigsten Mitarbeiter ernannt und vom Senat bestätigt haben wird. Bald danach beginnt in Deutschland der Bundestagswahlkampf. 2022 wird in Frankreich ein neuer Präsident oder eine Präsidentin gewählt. In den Vereinigten Staaten sind im selben Jahr wieder Kongresswahlen. Zwischen all diesen Ereignissen müssen die Zeitfenster gefunden werden, in denen konkrete Vereinbarungen zu erzielen sind.

Das Ideenpaket der Bundesregierung sollte fünf Themen enthalten, die für die zukünftige Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten entscheidend sein werden: Klima, NATO, China, Handel und Technologie.

  • Klima: Eine klimapolitische Annäherung ist absehbar und verspricht schnellen transatlantischen Mehrwert – sofern sie klug gesteuert wird. Amerikas neue Ambition sollten Deutschland und Europa mit eigenen Anstrengungen beantworten und so klimapolitisch eine Neue Übereinkunft begründen. Nach Amerikas Wiedereintritt in das Pariser Klimaabkommen muss die transatlantische Koordination auf den Glasgower Klimagipfel zielen. Eine Vielzahl gemeinsamer Initiativen sollte den ökologischen Strukturwandel befördern, von einer europäisch-amerikanischen Clean Energy Bank bis zu einer transatlantischen Batterieallianz.
  • NATO: Wenn sich Amerikas strategischer Schwerpunkt nach Fernost verlagert, wird das zu einer Neubestimmung der Rollen- und Lastenteilung zwischen Amerika und seinen europäischen Verbündeten führen. Die transatlantische Sicherheitspartnerschaft braucht eine Neue Übereinkunft: Amerikas erneuertes Engagement für die NATO muss verbunden werden mit einem deutlich höheren Beitrag der Verbündeten, vor allem Deutschlands, für die Verteidigung Europas. Damit geht eine ambitionierte Fähigkeits- und Ausgabenplanung einher.
  • China: Der archimedische Punkt der künftigen transatlantischen Beziehungen wird die China-Politik sein. Auch hier braucht es eine Neue Übereinkunft. Beide Seiten müssen sich der Vorstellung annähern, wenn auch von unterschiedlichen Ausgangspunkten, dass es keine wirtschaftliche Entkopplung von China geben sollte, der Handel mit China aber technologischen und sicherheitspolitischen Vorbehalten unterliegt. Gemeinsam sollten die transatlantischen Partner in ihrer China-Politik menschenrechtspolitische mit ordnungspolitischen Überzeugungen verknüpfen.
  • Handel: Die Bundesregierung sollte zusammen mit der EU-Kommission darauf drängen, dass die USA ihre Blockade des Berufungsgremiums im Streitschlichtungsausschuss der Welthandelsorganisation aufgeben. Im Gegenzug geht die Europäische Union auf amerikanische Vorstellungen zur Reform der Welthandelsorganisation weiter ein. Mit dieser Neuen Übereinkunft wird ein potentes Instrument schrittweise geschärft, um gemeinsam gegen das chinesische Unterlaufen der internationalen Handelsordnung und ihrer Prinzipien vorgehen zu können.
  • Technologie: Europa und Amerika verschenken ihre Chance, die Zukunft zu gestalten, weil sie in Fragen der Digitalpolitik und neuer Technologien unzureichend zusammenarbeiten. Dabei geht es um den Schutz der gemeinsamen Werte offener Gesellschaften gegenüber chinesischem Führungsanspruch. Deswegen sollten EU und USA rasch Einigkeit über den transatlantischen Datenaustausch erzielen, gemeinsame Leitlinien zum Umgang mit Fake News und Propaganda vereinbaren und die Regulierung von Künstlicher Intelligenz harmonisieren.

Zusammen genommen können diese Maßnahmen (Details unten) bewirken, dass das transatlantische Verhältnis den weltpolitischen Veränderungen angepasst und damit zukunftsfähig gemacht wird.

Die Neue Übereinkunft wird aber nur tragfähig sein, wenn sie die neuen zivilgesellschaftlichen Entwicklungen in unseren Ländern erkennt und berücksichtigt. Gerade junge Menschen und vielfältige Minderheiten (die in ihrer Summe gerade in den Vereinigten Staaten schon mehrheitsfähig sind) haben in den vergangenen Jahren neue Bewegungen gegründet und Energien entfaltet, die Amerika nachhaltig verändern werden. Ungeachtet einzelner Positionen repräsentieren diese Bewegungen in ihrer emanzipatorischen Ausprägung das Herz dessen, was Amerika schon immer attraktiv und stark gemacht hat – die ständige, umkämpfte Annäherung an ein demokratisches Ideal.

In Deutschland und Europa sind solche Bewegungen – beispielsweise zur Bekämpfung des Klimawandels und der Überwindung von Rassismus und Sexismus, aber auch mit Blick auf Themen wie den Wandel der Arbeitswelt – anschlussfähig. Vor allem weisen sie weit über die bestehenden, „klassischen“ transatlantischen Eliten, die vor allem handels- und sicherheitspolitisch geprägt sind, hinaus und ergänzen diese. Politik und Zivilgesellschaft in Deutschland sollten daher verstärkte Anstrengungen unternehmen, solche neuen, zukunftsweisenden Querverbindungen zu schlagen.

Die Annäherung an jüngere, diversere und weniger „klassische“ Akteure wird die transatlantische Erzählung fortschreiben. Das ist nötig, weil die Erinnerung an die Befreiung von der Herrschaft der Nationalsozialisten, die Erzählung von der Dankbarkeit über schützende, unterstützende Begleitung in Richtung Wohlstand, Demokratie und Einheit nicht mehr genügt. Die nach 1980 Geborenen haben ein ganz anderes, aber nicht weniger zutreffendes Amerika-Bild als ihre Vorgänger. Und umgekehrt wandelt sich auch das Deutschland-Bild in Amerika – vornehmlich in Richtung schwindender Kenntnis und schwindenden Interesses.

Grundlage dieser neuen transatlantischen Erzählung sollte die Solidarität unter Demokratien sein. Das Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung für die Menschenrechte, daheim wie weltweit, wie sie unter den aufklärerischen Bedingungen von individueller Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, und demokratischen Wahlen am ehesten gelebt werden kann. Und das Bewusstsein, dass eine Ordnung auf der Basis westlicher und universeller Werte nicht vom Himmel fällt, sondern von Menschen geschaffen und stets gegen innere und äußere Kräfte verteidigt und aufs Neue gewonnen werden muss. Das ist es, was die Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks verbindet, heute und in Zukunft.

Während die hier vorgeschlagene Agenda großenteils nicht im Handumdrehen umgesetzt werden kann, braucht der neue Präsident zugleich schnelle Erfolge. Er muss seinen Wählern zeigen, dass Kooperation bessere Ergebnisse zeitigt als Konfrontation mit den eigenen Alliierten. Aus dem Teufelskreis der vergangenen vier Jahre sollte eine Engelsspirale werden.

Einer der Gründe für Bidens Wahlsieg war die globale Pandemie und die Unzufriedenheit vieler Wähler mit der Reaktion der amtierenden amerikanischen Regierung auf den Ausbruch der neuartigen Viruskrankheit Covid-19. Biden wird zeigen wollen und müssen, dass internationale Zusammenarbeit die Pandemie und ihre (auch sozialen) Folgen besser bekämpft als Isolationismus und Impfstoff-Nationalismus. Dabei kann die Bundesregierung Biden helfen, und sie sollte es schon aus eigenem Interesse tun. Aber sie muss zügig handeln. Gleich nach der Amtseinführung sollte sie – gemeinsam mit der britischen Präsidentschaft – eine G-7 Initiative zur internationalen Zusammenarbeit bei der Pandemie-Bekämpfung starten. Um ihre Reichweite zu erhöhen, sollte sie auch von der italienischen G-20 Präsidentschaft aufgegriffen und weiterverfolgt werden.

Dies wäre eine Art Startrampe für Deutschland, um die tägliche intensive Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten neu auszuprobieren, einzuüben und ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stellen.