Leben in Unsicherheit: Ukrainer*innen in Zeiten des bewaffneten Konfliktes und der Pandemie

Analyse

Die Lage vieler Menschen in der Ukraine ist in hohem Maße von Unsicherheit geprägt. Besonders problematisch wahrgenommen werden Fragen der gesundheitlichen Versorgung, der existenziellen materiellen Absicherung und der persönlichen Sicherheit.

Angler am Dniepr in Saporizhja

Die Lage vieler Menschen in der Ukraine ist in hohem Maße von Unsicherheit geprägt. Besonders problematisch wahrgenommen werden Fragen der gesundheitlichen Versorgung, der existenziellen materiellen Absicherung und der persönlichen Sicherheit. Die Bedingungen sind tendenziell umso schlechter, je näher die Menschen an der Kontaktlinie in der Konfliktzone im Donbas leben.

Trotz insgesamt unzureichender Informationen über die realen Bedingungen in den besetzten Gebieten und auf der Krim lassen sich auf Basis von Berichten und Monitoring-Aktivitäten von Menschenrechtsorganisationen gravierende Beeinträchtigungen der politischen Rechte der Menschen feststellen, insbesondere derjenigen Bürger/innen mit pro-ukrainischen Einstellungen und der Krimtataren.

Die andauernde humanitäre Krise in den besetzten Teilen des Donbas bedeutet für Millionen von Menschen eine Einschränkung ihres Zugangs zu Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung und verursacht psychologische Traumata. Häufige Verletzungen der Waffenruhe und die Belastung weiter Landstriche mit Munition und Minen bedrohen das Leben der Menschen in der Region unmittelbar.

Die hohe Unsicherheit, insbesondere die fehlende wirtschaftliche Entwicklung und die unzureichende persönliche Sicherheit, behindert die Herausbildung von sozialem Kapital in der Ukraine. Die Menschen sind vielfach mit der grundlegenden Absicherung der Bedürfnisse ihrer Familien belastet und müssen mehrere Jobs jonglieren. Der Zustand der Unsicherheit macht den Aufbau eines funktionierenden Gemeinwesens schwieriger, wenn Überlebensängste die Logik des sozialen Miteinanders bestimmen. Unverständnis komplexer Einflussfaktoren auf die Lebenswirklichkeit der Menschen erzeugt Zukunftsangst und verhindert breiteres gesellschaftliches Engagement.

Mit Ausnahme von Freiwilligeninitiativen vertrauen die Menschen fremden Organisationen oder Institutionen wenig. Angesichts der schwachen Leistungsfähigkeit der staatlichen Verwaltung bei der Erbringung von Dienstleistungen für die Bürger*innen, chaotischer Reformprozesse, Ungewissheit und der anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen ist es für die Menschen zentral, sowohl als Individuen als auch als politisches Gemeinwesen Resilienz zu entwickeln. Reformen werden kurzfristig kaum merklich die menschliche Sicherheit verbessern. Die Menschen nehmen kaum greifbare Resultate der Reformprozesse wahr, für ein Viertel überwiegen sogar die negativen Ergebnisse. Selbstorganisation und bürgerschaftliches Engagement bleiben wichtige Elemente, auch wenn nur von einer Minderheit getragen. Relative politische Freiheit ermöglicht ein Wachstum einer aktiven Bürgerschaft mit mehr lokaler politischer Beteiligung und freiwilligem Engagement, lokalen Medien und effektivem gemeinsamen Eintreten für ein öffentliches Interesse.  Es ist ein langer Weg, aber er ist organisch und demokratisch. Ein Mehr an bürgerschaftlichem Engagement bedeutet einen unmittelbaren Beitrag für eine Verbesserung lokaler Politik und Administration und infolgedessen für ein höheres Niveau menschlicher Sicherheit. Die Zusammenarbeit engagierter Bürger*innen und der Verwaltung stärkt das Vertrauen in das Gemeinwesen durch die gemeinsame und transparente Bestimmung von Regeln und durch das Erzielen sichtbarer Erfolge und Resultate. Die Fortsetzung der Dezentralisierung unterstützt diesen Trend und führt zu resilienteren Gemeinden. Um dieses Potenzial zu nutzen, sollte Kiew v.a. smarte, ambitionierte und auf die Bevölkerung orientierte Projekte umsetzen, die zu einer Modernisierung des ganzen Landes beitragen und auf die Gemeindestrukturen ausstrahlen. Die internationalen Partner der Ukraine unterstützen diesen Trend bereits. Angesichts der Herausforderungen für die menschliche Sicherheit sollten diese Bemühungen gestärkt und noch besser zwischen den zahlreichen Gebern koordiniert werden, um wirksam in die ukrainischen Regionen hineinzuwirken.

 

>> Die komplette englischsprachige Studie "Living with insecurity: Ukrainians at times of armed conflict and the pandemic" können sie auf der Webseite unseres Auslandsbüros in Kiew als PDF downloaden.