Viktor, 55 Jahre

Bisexuell. Aus Odesa. Lebt derzeit weiterhin in der Stadt. Das Interview fand im Mai 2023 statt.

Lesedauer: 4 Minuten
Illustration: Person mit lockigem Haar und Brille vor einfarbig rötlich-braunem Hintergrund, Blick zur Seite, trägt Oberteil mit Kapuze.

Ich werde den Namen Viktor wählen. Ich hatte einen Freund – Vitya. Leider ist er tot. Die russischen Truppen haben ihn getötet. Nein, er war nicht schwul. Eher homophob. Und er hatte keine Ahnung, dass sein bester Freund bisexuell war. Er hatte zu Hause ein Stuhlbein, ein großes, nur für den Fall. Vitya hatte oft Besuch, und einmal fing einer seiner Gäste an, mit ihm zu flirten. Also benutzte Vitya dieses Bein, um ihn zu verprügeln. Der arme Kerl hatte nicht einmal die Gelegenheit, seine Schuhe anzuziehen – er ist nur in Socken die Treppe hinuntergerannt.

Vityas Mutter rief mich eines Morgens an. Er war während eines Alarms bei einem Luftangriff an einem Herzinfarkt gestorben. Vitya hat diese verfluchten Alarme immer gehasst, aber er hat ständig auf dem Balkon geraucht, wenn die Luftabwehr im Einsatz war. Ich dachte, Raketen würden ihm keine Angst machen. Es stellte sich heraus, dass er nur so tat, als sei er mutig.

Mir wurde klar, dass ich ihn geliebt hatte. Ich liebte ihn wie niemanden sonst. Obwohl ich es mir vorher nicht hatte eingestehen können.

Natürlich war ich sowohl bei der Beerdigung als auch bei der Totenwache dabei. Alle unsere Freund*innen waren da. Ich habe die Rede gehalten. Wir saßen im Hof, wo wir als Jungen herumliefen, tranken, lachten und uns an unsere Abenteuer erinnerten. Als alle gingen, fühlte es sich nicht so an, als ob wir eine Totenwache verließen. Erst dann, als ich nach Hause kam, wurde mir plötzlich klar – es war Vitya, der gestorben war! Vitya! Ich fing an zu heulen... Tagsüber hatte ich keine einzige Träne vergossen, aber dann – ein Fluss. Wie eine Ehefrau, die einen Brief bekommen hat, in dem sie vom Tod ihres Mannes erfährt. Mir wurde klar, dass ich ihn geliebt hatte. Ich liebte ihn wie niemanden sonst. Obwohl ich es mir vorher nicht hatte eingestehen können.

Outing am Grab des homophoben Freundes

Ich erinnere mich, dass im April der Tairowskij-Friedhof unter Beschuss geriet. Ich dachte, dass Vityas Grab in Stücke gesprengt werden würde. Während der Fahrt dorthin verfluchte ich Putin mit jedem Wort, das ich kannte. Als ich ankam, sah ich, dass die Trümmer auf den alten Friedhof gefallen waren, und dass das Grab von Vitya unversehrt war. Ich setzte mich auf die Bank, die neben seinem Grab stand, und sagte es. „Also“, sagte ich, „Vitya, ich habe dich geliebt.“ Nur so konnte ich es ihm gestehen, und nur ihm.

Wem hätte ich es sonst sagen sollen? Meinen Eltern? Sie sind schon über 80 Jahre alt und haben eine patriarchalische Einstellung. „Traditionelle Werte“, wie sie es nennen. Ich glaube, wenn sie es von mir erführen, bekämen sie auch einen Herzinfarkt. Meinen Geschäftspartner*innen? Auch sie sind Menschen, für die so etwas nicht normal ist, und es ist unwahrscheinlich, dass sie mit Menschen wie mir zusammenarbeiten wollen. Meinen Kolleg*innen? Nein, ich habe damit schlechte Erfahrungen gemacht. 

Einmal war ich betrunken und habe einen Arbeitskollegen auf den Mund geküsst. Ich dachte, er sei auch bi, aber ich hatte mich geirrt. Dann hat er jemandem davon erzählt, und diese Person hat es weitererzählt. Jetzt habe ich also weniger Freund*innen in der Arbeit. Obwohl ich früher den Ruf eines Frauenhelden hatte und sieben Jahre Ehe hinter mir habe, wäre ich jetzt ganz allein, wenn ich mich outen würde.

Ich wünsche mir nur, den Sieg der Ukraine zu erleben. Denn ich habe keine Freude in meinem Leben. Nur Hoffnung.

Ich traue mich nicht, mich zu outen. Muss ich das denn überhaupt? Als Vitya starb, starb mit ihm auch etwas in mir. Ich habe niemanden. Weder Frauen noch Männer. Es ist mehr als ein Jahr her, dass ich mit jemandem etwas hatte. Ich brauche niemanden. Man kann also sagen, dass ich heute nicht mehr bisexuell bin, sondern asexuell. Ich bin fast immer allein. Ich habe mir einen Hund aus dem Tierheim geholt, damit ich wenigstens mit ihm spazieren gehen kann. Zu Hause liegt er neben meinem Stuhl, während ich lese – sonst brauche ich niemanden. Ich wünsche mir nur, den Sieg der Ukraine zu erleben. Denn ich habe keine Freude in meinem Leben. Nur Hoffnung.


Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.

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