Nicht-binär. Aus Mykolajiw. Das Interview fand im April 2023 statt.

Hallo, ich bin Michiko. Auf Japanisch bedeutet das „ein kluges, schönes Kind“. Ich lebe in Mykolajiw. Na ja, richtig leben ist anders... Ich überlebe hier. Ich mag Jungs, aber ich mag Mädchen mehr. Und ich liebe Anime. Ich denke, das geht aus dem Namen hervor, den ich mir gegeben habe. Es ist unmöglich, Anime nicht zu mögen. Vor allem, weil es darin keine völlig schlechten Charaktere gibt. Anders als im richtigen Leben...
Ich erinnere mich an einen Tag im letzten Sommer, an dem wir 24 Einschläge in einer Nacht hatten! Der Eingang unseres Gebäudes wurde zertrümmert. Schulen, Krankenhäuser – alles in Trümmern. Und der Beschuss findet fast immer nachts statt. Deshalb versuche ich, früh ins Bett zu gehen. So gegen sieben oder acht Uhr abends. Wenn man Glück hat, kriegt man noch ein paar Stunden Schlaf, bevor die Explosionen losgehen.
Früh schlafen gehen, bevor die Explosionen losgehen
Es ist einfach unmöglich, nachts zu schlafen. Du liegst nur da und fragst dich, wie nah die letzte Explosion war. War es ein einfaches Projektil oder eine Rakete? War es nur eine, oder kommen noch weitere? Auch wenn die Nacht mehr oder weniger ruhig vergeht, fragt man sich ständig: „Wann passiert es wieder? Wann?“ Und man spürt sogar eine gewisse Erleichterung, wenn der Telegramkanal „Mykolajiwsky Vanyok“ schreibt: „Kätzchen, Zeit zum Verstecken.“ (Anm: Katzen stehen in der Ukraine sowohl für junge Männer als auch für die ukrainische Armee). Es heißt, dass Kim selbst diese Nachrichten schreibt (Anm.: Vitalii Kim, Gouverneur der Region Mykolajiw). Er schrieb einmal, dass wir seit Beginn des großflächigen Kriegs nur 20 ruhige Nächte hatten. Aber ich erinnere mich nicht daran. Ich habe das Gefühl, dass es jede Nacht Beschuss gab.
Was sollte ich denn sonst tun? Zu Hause bleiben? Nein danke. Ich war besser in der Arbeit aufgehoben.
Ich erinnere mich jedoch daran, wie ich wach wurde, als meine Mutter rief: „der Krieg hat begonnen!“. Mein Chef schrieb sofort in den Arbeits-Chat, dass wir das Nötigste packen sollten. Ich kam zur Arbeit in die Werkstatt (ich arbeite in einer Näherei). Dort saßen die Frauen und arbeiteten. Was sollte ich denn sonst tun? Zu Hause bleiben? Nein danke. Ich war besser in der Arbeit aufgehoben. Das hat mich abgelenkt. Aber wir wurden gleich in den „Urlaub“ geschickt. Zehn Tage später bot uns ein Freiwilliger an, den ukrainischen Streitkräften zu helfen. Er sagte, er habe Stoffe und Zubehör. Damit sollten wir für die Jungs an der Front nähen, denn die seien praktisch nackt. Wir verbrachten zwei Monate damit, Plattenträger (Anm: Weste für kugelsichere Platten) und taktische Westen (Anm.: für Munition) für die Soldat*innen zu nähen. Erst später begannen wir, auch Uniformen zu nähen.
Im April jedoch gab es einen Einschlag neben der Werkstatt. Es war nachts, die Werkstatt war leer. Jemand dachte sich wohl schon, dass wir an Aufträgen für das Militär arbeiteten. Nach dem Beschuss sah ich ein mit mehreren Menschen besetztes Auto. Sie fuhren langsam und versuchten, etwas auszuspionieren. Es ist nämlich eine Angewohnheit von mir, mich immer umzusehen, ob ich etwas Ungewöhnliches entdecke. Ich weiß nicht einmal, wann dies begonnen hat. Wahrscheinlich, als ich zum ersten Mal wegen meiner sexuellen Orientierung verfolgt wurde. Damals wurde meine Adresse einigen Gruppen zugespielt. Ich wurde bedroht, verschiedene „Botschaften“ wurden an die Wände im Eingangsbereich meines Hauses geschrieben.
Blumenbeete in Raketenkratern
Es ist heute noch genauso beängstigend wie damals, aber ich denke absolut nicht daran, die Stadt zu verlassen. Die Mutter meiner Freundin liegt im Krankenhaus. Meine Freundin ist also hier, und ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Ich glaube, Menschen können so hartnäckig sein wie Katzen. Man sagt, dass ein*e Ukrainer*in selbst in der Hölle einen kleinen Garten anlegt. Stellen Sie sich vor: In unserem Haus wohnt eine Frau, die ein Blumenbeet in Raketenkratern angelegt hat.
Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.