Erinnerung an die Zukunft - Andenken an Beirut

Libanon

„Mitte Oktober 2019 glich die Stimmung im Land dem Anfang eines Romans, von dem man weiß, dass er traurig enden wird. Aber dann, am 17. desselben Monats, kam unerwartet etwas ins Rollen, etwas, das die Handlung des Romans ändern sollte“, erinnert sich Abraham H. Zeitoun, obwohl das mit Erinnerungen so eine Sache ist – vor allem im Libanon.

Lebanon

Kapitel 1
Vom Verschwinden der Katze

Genki Kawamura erzählt in seinem Roman „Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden“ von einem Mann, der nur noch wenige Monate zu leben hat. Eines Tages macht ihm der Teufel, der in Gestalt eines exaltierten Doppelgängers des Protagonisten auftritt, ein Angebot, das zu verlockend ist, um wahr zu sein: Für alles, was der Mann aus der Welt verschwinden zu lassen bereit ist, verlängert der Teufel sein Leben – um einen Tag.

Der Tauschhandel funktioniert zunächst reibungslos. Bis der Sterbende gezwungen ist, auch solche Dinge verschwinden zu lassen, die die Welt seiner Ansicht nach auszeichnen. Er ist hin und her gerissen und steht vor einer grundlegenden Frage: Worauf kommt es im Leben an? Der Charakter eines Menschen offenbart sich vor allem in diesen Momenten der Fehlbarkeit, wenn auf der Stelle Entscheidungen getroffen werden müssen, wenn wir, die Leserinnen und Leser, in die Rolle der Hauptfigur schlüpfen und beginnen, uns in der Geschichte lebendig zu fühlen.

Aber was, wenn diese Geschichte wahr und der Teufel unter uns ist, inmitten unseres scheinbar ganz normalen Lebens? Was, wenn man uns die Dinge, die uns am wichtigsten sind, von jetzt auf gleich wegnehmen könnte? Wenn wir nur die Figuren einer Geschichte wären, die ohne unsere Zustimmung geschrieben wurde? Worauf kommt es im Leben an?

Auf Würde – vielleicht. Auf das Leben selbst – mindestens.

Was wäre, wenn wir zwischen beidem wählen müssten? An einem Ort, an dem sich Leben und Würde ausschließen?

Was, wenn in Beirut heute weder das eine noch das andere zu haben wäre? Was, wenn die Stadt ein Schatten ihrer selbst geworden wäre? Was, wenn in ihr ein Klima herrscht, in dem sich alles Lebendige einer rosa-orange Wolke anpassen muss, die der Mittelmeerwind über die Stadt trägt?

Manch eine/r wird mich zu pathetisch finden. Aber tief in meinem Innersten bin ich überzeugt davon, dass ich – wir – noch viel mehr Pathos brauchen. Nur dauert es eben, bis man seine Traumata verstanden und verarbeitet hat. Außerdem sind wir im Libanon mit zu vielen Traumata gleichzeitig beschäftigt. Sie lassen sich nicht alle auf einmal verarbeiten.

Traumatisch war nicht zuletzt der 4. August 2020, als im Hafen von Beirut eine Lagerhalle mit fast 3000 Tonnen Ammoniumnitrat explodierte. Vielleicht haben Sie in den Nachrichten davon gehört. Vielleicht haben Sie sogar die Bilder der rosa-orangen Rauchwolke gesehen. Vielleicht wollten sie genauer wissen, was passiert ist, und haben sich informiert. Falls der Vorfall an Ihnen vorbeigegangen ist, schlage ich vor, dass Sie ein wenig recherchieren und sich damit vertraut machen.

Ich habe die Explosion zwar selbst erlebt, aber ich werde Ihnen nicht erzählen, was genau an diesem Tag geschehen ist. Es gibt keine Worte für die unerträgliche Ungeheuerlichkeit der Gefühle und Instinkte, die bei einer solchen Katastrophe noch aus der letzten Faser eines menschlichen Körpers hervorbrechen.

Stattdessen möchte ich Sie darum bitten, den 4. August 2020 zum Ausgangspunkt für jene kurze Geschichte zu nehmen, die wir jetzt und hier gemeinsam erleben, eine Geschichte voller Wendungen, in der ich und Sie die Figuren sind. Bevor wir anfangen, möchte ich Sie bitten, sich eine kleine graue Katze vorzustellen, die auf einer Fensterbank sitzt und in den Garten eines verlassenen Gebäudes aus der Mitte des letzten Jahrhunderts schaut. Der Garten liegt auf dem Nachbargrundstück. Der Himmel ist klar. Der Schatten eines gläsernen Hochhauses fällt in ihr Zimmer. Sie liegen im Bett, wachen von einem späten Nickerchen auf und betrachten, wie sich Ihre Freundin, die Katze, in der Sonne räkelt.

Plötzlich kommt der Schatten des Hochhauses näher, die Katze rennt davon und versteckt sich, der Boden beginnt zu beben, und alle losen Gegenstände beginnen mit unheimlichem Nachhall zu klappern, bis das ganze Gebäude in Bewegung gerät und Ihr Schlafzimmer in sich zusammenstürzt. Aber seien Sie versichert: Sie leben noch.

Ihre Katze hat dieses Glück nicht gehabt, so wie ein paar hundert andere Wesen auch nicht, die innerhalb von Sekunden um ihr Leben gebracht wurden.

Abschließend sollten Sie wissen, dass all dies nicht hätte passieren dürfen. Dass es leicht hätte vermieden werden können. Dass wir wissen, wer die Verantwortung trägt. Und dass zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes noch immer niemand zur Verantwortung gezogen wurde.

Kapitel 2
Erinnerungen aus Staub

Erinnerungen sind Informationen, die von unserem Gehirn kodiert und bei Bedarf abgerufen werden. Als solche beeinflussen sie unsere zukünftigen Handlungen. Wenn Erinnerungen nicht mehr abrufbar sind, weil wir das Pech haben, vergesslich zu sein oder unter Amnesie zu leiden, werden wir daran gehindert, uns weiterzuentwickeln.

Aber Erinnerungen sind immer auch individuelle und kollektive Konstruktionen. Manche Erinnerungen, die an uns weitergegeben werden, betrachten wir als unsere eigenen Erinnerungen. Die Wahrnehmung unseres kollektiven Gedächtnisses spielt eine wichtige Rolle bei der Ausbildung unserer Identität. Das kollektive Gedächtnis steht für die spezifische Art und Weise, wie wir vergangene Ereignisse auf Grundlage bestimmter Werte, Narrative und Vorurteile einschätzen. Es handelt sich dabei um einen anderen Prozess als den der Geschichtsschreibung, deren Ziel darin besteht, ein umfassendes und genaues Bild von der Vergangenheit zu zeichnen, eine Aufgabe, die vor allem dort oft unmöglich erscheint, wo eine solche Arbeit noch nie geleistet wurde.

Erinnerungen sind jedoch problematisch, insofern als sie vergänglich sind. Sie erodieren mit der Zeit, werden durch neue Erinnerungen überschrieben oder sind plötzlich wie ausgelöscht, wenn auch nur vorübergehend, aufgrund von Vorgängen, die sich unserer Kontrolle entziehen, aufgrund höherer Gewalt. Wie können wir der Unzuverlässigkeit von Erinnerungen etwas entgegensetzen, nachdem es zu einem so zerstörerischen Ereignis gekommen ist? Darauf habe ich keine Antwort.

Wäre Beirut eine Erinnerung, es wäre unmöglich, sie in ihre Bestandteile zu zerlegen. Die Stadt ist ein Produkt ihrer Vergangenheit, sie ist gemacht, wie viele der Erinnerungen, die an uns weitergegeben und reproduziert wurden, die unwirkliche Erinnerungen sind, Betrügerinnen, die unser Innerstes durchdringen. Die Stadt macht es einem schwer, zu unterscheiden, was wirklich ist und was imaginär, weil sie vor unseren Augen unaufhörlich neu erfunden wird. Es ist nicht leicht, an einem Ort Hoffnung zu haben und sich verwurzelt zu fühlen, dessen urbanes und soziales Gefüge so schnellen, oft explosiven Veränderungen unterliegt, wo der Traum von Stabilität über kurz oder lang zu Staub zerfällt.   

Aber der Staub ist wirklich, und er wird nicht so schnell wieder verschwinden. Wir leben im Staub. Der Staub wird sichtbar im Licht, das in unsere Zimmer fällt, er sammelt sich in den Ecken der Räume und wird immer mehr, weil auch unser Körper, die Schuppen unser Haut, zu Staub zerfallen. Aber selbst dann, wenn uns die Stadt immer wieder aufs Neue dazu zwingt, uns anzupassen, existiert unser altes Selbst weiter und wartet auf den Tag, an dem der Wind der Veränderung stark genug wehen wird, damit wir die Kontrolle übernehmen können.

Kapitel 3
Eine normale Kindheit

Ich erinnere mich noch lebhaft an den ersten Tag im Libanon, an den Geruch, das Abwasser, das auf die Straße quoll, als wir vom Flughafen in die Stadt fuhren, an die Hochhäuser überall. Meine Eltern hatten mich und meine Geschwister lange auf den großen Umzug von Sydney nach Beirut vorbereitet. Aber nichts hätte uns auf die ungeheuren Unterschiede vorbereiten können, mit denen wir hier konfrontiert wurden.

Wir waren Außerirdische, gelandet an einem fremden Ort, der uns zwar irgendwie vertraut vorkam, aber trotzdem unendlich viele erste Eindrücke hervorrief. Wir wussten, schon als Kinder, dies ist die Dritte Welt. Wir wussten auch, dass wir mit kulturellen Unterschieden, Sprachbarrieren, Problemen im Alltag und unendlich vielen anderen Schwierigkeiten konfrontiert werden würden. Als australisches Kind mit libanesischen Wurzeln fiel es mir anfangs schwer, mich zu integrieren. Ich konnte kein Arabisch, ich hieß Abraham, und ich wusste nicht, dass der Libanon erst vor kurzem einen langen Krieg hinter sich gebracht hatte. Ich war aufgeschlossen und schüchtern zugleich. Und es kam mir so vor, als hätte ich kein Recht dazuzugehören.

Trotzdem hatten die neunziger Jahre im Libanon unendlich viel zu bieten. Viele Kinder in meinem Alter waren, so wie ich, im Ausland zur Welt gekommen und fanden sich plötzlich in einem fremden Land wieder, das sie ihr Zuhause nennen sollten. Wir sprachen verschiedene Sprachen. Wir erzählten uns von den Städten und Ländern, aus denen wir kamen. Die meisten von uns fühlten sich entwurzelt und hatten Heimweh. Aber wir waren uns so nah, dass sich die Stadt wie unser Zuhause anfühlte. Langsam aber sicher lernten viele von uns, sich zu integrieren, Beirut zu lieben und zu verstehen. Wir wussten zu schätzen, dass uns der Libanon etwas schenkte, das vielleicht nur hier zu haben war. Und natürlich hat man immer wieder versucht, uns davon zu überzeugen, dass wir nach dem Krieg unseren Teil zur Verjüngung des Landes beitrugen, und in gewisser Weise stimmte das auch.

Ein Jahrzehnt später, der Libanon hatte zahlreiche Rückschläge hinter sich, war ich ein junger Erwachsener und fühlte mich Beirut verbunden. Ich verliebte mich zum ersten Mal. Ich erlebte meinen ersten Liebeskummer. Und ich entdeckte die Stadt – immer wieder aufs Neue. Ich unternahm Roadtrips. Und ich las: Geschichtsbücher, Gedichte und erzählende Literatur über und aus dem Libanon. Ich machte neue Bekanntschaften, lernte, mich allein zurechtzufinden, prägte mir Straßen, Stadtteile, Gerüche und Farben ein.

Was mir von den prägenden Jahren im Libanon in Erinnerung geblieben ist, hat seinen Sinn für mich verloren. Die Erinnerungen gehören einer fernen Vergangenheit an und haben im Grunde nichts mehr mit mir zu tun. Die Stadt, die einst unser Spielplatz war, ist feindseliger geworden. Die Lebensfreude und die Widerstandsfähigkeit der Menschen – Eigenschaften, auf die man hier immer sehr stolz war – haben in den letzten zwei Jahrzehnten nachgelassen. Schuld daran sind der zügellose Kapitalismus, die allgegenwärtige Korruption und die schwelenden Konfessionskonflikte. All diese Dinge haben das Land verändert, wie es aussieht, wie es sich anfühlt, wie es ist, hier zu leben. Auch die Stadtlandschaft hat sich verändert. Die Orte, an denen ich so oft gewesen bin, haben sich den neuen Verhältnissen angepasst, so sehr, dass ich sie kaum noch wiedererkenne. Manche Orte sind einfach verschwunden. Der Großteil meiner Freunde hat den Libanon aus genau denselben Gründen verlassen wie viele andere Menschen vor ihnen auch. Weil sie ein richtiges Zuhause brauchen, einen Ort, an dem man sich sicher fühlen, Geld verdienen, ein weitgehend normales Leben führen kann. Ich fühle mich inzwischen wieder wie ein achtjähriger Junge – in einer verwaisten Stadt.

Ich habe nicht vor, Vater zu werden, aber eines weiß ich genau: Wenn ich Kinder hätte, würde ich sie ohne zu zögern im Libanon der 90er Jahre großziehen wollen. Auf keinen Fall im Libanon der Gegenwart. Aber viele Menschen können sich nicht aussuchen, wie sie ihr Leben leben. Man tut, was man kann, mit dem, was einem zur Verfügung steht.

Kapitel 4
Meine Götter sind besser als eure

Mitte Oktober 2019 glich die Stimmung im Land dem Anfang eines Romans, von dem man weiß, dass er traurig enden wird. Aber dann, am 17. desselben Monats, kam unerwartet etwas ins Rollen, etwas, das die Handlung des Romans ändern sollte.

Überall im Land gingen Menschen auf die Straße, mit einer Wut im Bauch, die sich schon eine ganze Weile in ihnen aufgestaut hatte. Sie forderten Veränderungen. Viele verlangten eine grundlegende Neuordnung des durch und durch zersplitterten und korrupten politischen Systems. Zuerst waren wir sprachlos angesichts der Massenproteste. Aber dann begannen wir wieder zu hoffen, ein Gefühl der Entschlossenheit stellte sich ein, und in den Folgemonaten weitete sich der Protest auf alle Bevölkerungsschichten aus. Die unterschiedlichsten Menschen kamen auf den Straßen und Plätzen zusammen. Ökonomische, konfessionelle und soziale Unterschiede schienen keine Rolle mehr zu spielen. Wir forderten Veränderungen auf ganzer Linie: die Anerkennung unserer Rechte als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsstaats, Autonomie, wirtschaftlichen Wohlstand und ein Recht auf Würde. Endlich, so glaubten wir, würden wir autonom leben können, unabhängig von freiwilligen oder erzwungenen Gruppenzugehörigkeiten.

Der Aufstand vom 17. Oktober 2019 hatte sich angekündigt. Immer wieder war es in den Jahren zuvor zu Proteste gekommen, größtenteils in und um Beirut, aber nie von einem solchen Ausmaß. Die Zuversicht und die Energie waren berauschend. Gruppendiskussionen fanden statt, die Menschen eroberten sich den öffentlichen Raum, viele von uns hatten das Gefühl, dass unsere Städte jetzt wirklich uns gehörten – uns allen. Wir wollten unsere Schicksal in die eigenen Hände nehmen, die traditionellen Parteien sollten entmachtet, Korruption und staatliche Gewalt verfolgt werden. Ich habe mich damals schwer damit getan, die Vorgänge als „Revolution“ zu bezeichnen. Das Wort hat mir nicht behagt, noch heute zucke ich zusammen, wenn es jemand leichtfertig in den Mund nimmt. Das Namenlose hat mehr Potenzial. Weil man es immer wieder hinterfragen, weil man es sich ganz bewusst zu eigen machen muss, damit es sich nach den eigenen Vorstellungen entwickelt, so lange wie man will.

Die Bewegung erlebte zahlreiche Rückschläge, bis die Pandemie den Aufstand schließlich zum Stillstand brachte. Allerdings hatte das gewaltsame Vorgehen der herrschenden Elite und ihrer zahlreichen Unterstützer die Stärke der Bewegung schon lange vor dem Virus in Mitleidenschaft gezogen. Wir begriffen schnell, dass mit den Machthabern, insbesondere der Hisbollah, ein Leben in Würde, so wie wir es uns vorstellten, nicht möglich war. Der Einsatz für ein Leben in Würde nach unserer Vorstellung hätte Gewalt, Ungerechtigkeit und Demütigungen für uns bedeutet. Würde am Gängelband, wie man sie uns versprochen hatte, war mit unserem Streben nach kollektiver Autonomie und kollektivem Wohlergehen unvereinbar. Diese „Würde“ erfordert die Unterwerfung unter Gott und Gottes Apologeten (im Falle des Libanon den Klerus und die politische Klasse), die Einhaltung eines strengen Moralkodex und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, ob man will oder nicht. Ein solches Verständnis von „Würde“ gibt es in verschiedenen Ländern dieser Weltregion.

Unabhängig davon, an welchem Punkt wir, die wir uns erhoben haben, heute stehen, eines ist sicher: Die Stellvertreter des formellen und informellen Staats regieren den Libanon nach wie vor mit eiserner Faust. Sie haben neue Ängste geschürt und den jahrzehntealten Status quo aufrechterhalten. Nach wie vor sehen viele Menschen in ihren Clanchefs so etwas wie regionale Gottheiten. Diesen Gottheiten kommt eine ähnliche Bedeutung zu wie allen Gottheiten, die im Lauf der Geschichte angebetet wurden. Die Zugehörigkeit zu einem Clan oder einer Gemeinschaft und die Verehrung einer einflussreichen Person müssen für sich genommen nicht problematisch sein. Die Unmöglichkeit dagegen, ein Leben außerhalb solcher Loyalitätsverhältnisse zu führen, ist zutiefst problematisch, und die Unmöglichkeit, eine Gottheit, die von den Massen verehrt wird, strafrechtlich zu verfolgen, billigt eine extreme Form der Ungerechtigkeit als Norm. Wir sind kaum oder gar nicht handlungsfähig, weil uns unsere Handlungsfähigkeit von unseren regionalen Gottheiten genommen wurde oder weil wir uns ihnen gebeugt haben und dies selbst dann noch tun, wenn sie uns alles Wichtige im Leben genommen haben, sogar das Leben selbst.

Aber ob wir, das Volk, oder sie, die Herrschenden, es nun wollen oder nicht: Das Land hat sich verändert. Der alte Libanon ist Vergangenheit, ein für alle Mal. Das Land kann den zahlreichen Krisen, denen es ausgesetzt ist, nichts entgegensetzen. Und dieser Umstand könnte die Herrschenden dazu zwingen, sich dem Druck auf der Straße und auf internationaler Ebene zu beugen. Ich bin mir sicher, dass eines Tages die Gerechtigkeit siegen wird, wenn auch nur teilweise. Dennoch – es kommen bessere Tage.

Kapitel 5
Kriegserklärung eines Ketzers

Wenn ich an die libanesische Führung, ihre Familien und Unterstützernetzwerke denke, kommen mir bestimmte Wörter in den Sinn. Wenn ich mit ihnen „in unverantwortlicher Weise“ auf mächtige Personen abzielen würde, könnten mich die meisten dieser Wörter ins Gefängnis bringen. Es ist interessant, dass diese Begriffe und Slogans auf den Straßen des Libanon skandiert wurden, immer noch skandiert werden und seit dem Aufstand im Oktober 2019 auf Mauern und Plakatwänden zu finden sind. Diese verbotenen und damit umso wichtigeren Zuschreibungen haben sogar Eingang in die Massenmedien gefunden, vor allem ins Fernsehen, wurden dort aber immer als schändliche Ketzerei diskreditiert, die das fragile sozioreligiöse Gleichgewicht im Land gefährdet und die Integrität und Autorität des Staates untergräbt.

Die Libanesinnen und Libanesen sind in der Öffentlichkeit zu anständig. Man erwartet von uns, dass wir uns an bestimmte Umgangsformen halten, selbst in Zeiten der Not und inmitten öffentlichen Aufruhrs, wenn das Land buchstäblich in Flammen steht. Sag nicht dies, tu nicht das. Das Unmögliche wird so gut wie nie möglich, weil wir ständig gezwungen werden, uns für unsere Wut und unsere Wünsche zu geißeln, uns zu mäßigen. Wir bringen uns in Gefahr, allein dadurch, dass wir zum Ausdruck bringen, was die große Mehrheit ohnehin denkt. Wir haben unsere Vorstellungen zum Ausdruck gebracht, ohne sie in die Tat umzusetzen, aber schon offene Worte sind für den Staat so bedrohlich, dass die Unterdrückungsmaschinerie angeworfen wird. Ein einziges Wort kann den Staat zum Einsturz bringen.

Ich bin stolz darauf, ein Ketzer zu sein. Indem ich mich der Ketzerei verschreibe, entwerfe ich Formen des Ausdrucks, die mir entsprechen. Mit den folgenden Worten begebe ich mich in einen Zustand der anders ist, an der Seite meiner Landsleute, die dieselben Ideale mit mir teilen und die darum kämpfen, in einem Land dazuzugehören, das reich und einzigartig ist und das um diese seine Wahrheit von denen, die an der Macht festhalten, beraubt wurde:

Ich spucke auf eure Gräber und entweihe eure Götzen. Ich habe keine Superkräfte, aber in mir lodern tausende Feuer, die ich in eure Häuser schicken möchte – so wie ihr und eure Familien zahllose Häuser und Leben zerstört und weiter euer verschwenderisches Leben geführt habt, ohne einen Funken Reue, ohne irgendetwas zu tun, um das Leid zu beenden, das ihr eurem „eigenen Volk“ zugefügt habt. Wir sind nicht eure Untertanen, wir waschen uns rein von euren Namen.

Das sind Dinge, die ich nicht einfach so sagen kann, weil sie im Libanon von heute als moralisch verwerflich gelten. Andere werden diese Worte sprechen, und ich verbeuge mich schon jetzt vor ihnen.

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Autor: Abraham H. Zeitoun (geboren 1989 in Sydney, Australien) ist ein libanesisch-australischer Grafikdesigner, Künstler und Kommunikationsexperte. Er schloss sein Studium an der American University of Beirut im Jahr 2013 mit einem M1 in Architektur & Nebenfach in Bildender Kunst ab. Seine Projekte decken dabei ein weites Feld im Bereich Design und Kommunikation ab, welches von den darstellenden Künsten und der unabhängigen Kunstszene bis hin zu institutionellen Auftritten und Branding reicht. Seine persönlichen Arbeiten wurden in verschiedenen Publikationen, Magazinen und Websites veröffentlicht. Er wohnt heute in Beirut und Paris.

Übersetzung aus dem Englischen: Gregor Runge, geb. 1981, hat unter anderem am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert. Er übersetzt seit 2007 Texte aller Art, seit 2013 auch Literatur. Er hat unter anderem E.M. Forster, Christopher Isherwood und Yrsa Daley-Ward übersetzt. Im Februar 2021 erscheint im Arche Verlag seine Übersetzung von Hilary Leichters Roman „Temporary“ (dt.: Die Hauptsache).

Kuration: Sandra Hetzl (*1980 in München) übersetzt literarische Texte aus dem Arabischen, u.a. von Rasha Abbas, Mohammad Al Attar, Kadhem Khanjar, Bushra al-Maktari, Aref Hamza, Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Raif Badawi, und manchmal schreibt sie auch. Sie hat einen Master in Visual Culture Studies von der Universität der Künste in Berlin, ist Gründerin des Literaturkollektivs 10/11 für zeitgenössische arabische Literatur und des Mini-Literaturfestivals Downtown Spandau Medina.

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Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie „Blick zurück nach vorn“ . Anlässlich von zehn Jahren Revolution in Nordafrika und Westasien schildern die Autor/innen dabei aus verschiedensten Kontexten, was sie hoffen, wovon sie träumen, was sie sich fragen und woran sie zweifeln. In ihren literarischen Essays wird deutlich, wie wichtig die persönlichen Auseinandersetzungen sind, um politische Alternativen zu entwickeln, und was jenseits der großen Ziele erreicht wurde.

Mit dem anhaltenden Kampf gegen autoritäre Regime, für Menschenwürde und politische Reformen beschäftigen wir uns darüber hinaus in multimedialen Projekten: In unserer digitalen scroll-story „Aufgeben hat keine Zukunft“ stellen wir drei Aktivist/innen aus Ägypten, Tunesien und Syrien vor, die zeigen, dass die Revolutionen weitergehen.