Die Heinrich-Böll-Stiftung befragte in der Vortragsreihe Auf der Höhe – Diagnosen zur Zeit in den letzten Jahren Intellektuelle zu aktuellen gesellschafts- und kulturdiagnostischen Stichworten: von A wie »Authentizität« bis Z wie »Zombie«. Ziel war es, prominente und relevante Diagnosen unserer Zeit zu versammeln, aber genauso – über das Zufallsprinzip der alphabetischen Reihung generiert – neue Perspektiven auf die Gegenwart jenseits des etablierten Vokabulars zu suchen. Entstanden ist dabei eine Art Glossar mit Stichworten unserer Zeit.

Der schmale Grat der Zeitdiagnose
In Zeiten des Umbruchs und der Ungewissheit wächst das Bedürfnis, besser verstehen zu wollen, in welcher Zeit wir eigentlich leben. Dabei gibt es nichts Schwierigeres, als das unmittelbare »Jetzt« verstehen zu wollen, es in der Zeit einzuordnen. Die Diagnosen der eigenen Zeit kommen, entsprechend Hegels geflügeltem Wort von der »Eule der Minerva«, die ihren Flug erst in der Dämmerung ansetzt, gewissermaßen immer zu spät. Erst in der Retrospektive wird sichtbar, worin wir leben – und was vor uns liegt. Gegenüber dem, was »ist«, und dem, was wir »sind«, können wir nur distanzlos sein – zumal, wenn es auf neuen Entwicklungen beruht.
Auf die Möglichkeit von Zeitdiagnosen zum »Jetzt« zu setzen, heißt dann – von der philosophisch-spekulativen Frage nach dem Status dieses »Jetzt« einmal abgesehen –, Dinge aus dem Rückbezug neu zu betrachten. Was wir über dieses »Jetzt« bei allen Einschränkungen sagen können, sind Dinge, die als latente Entwicklungen und Prognosen schon da waren und sich heute neu und anders zeigen. Dabei bedeutet die gedankliche Verlängerung in die Zukunft beides: eine möglichst realistische Einschätzung von wahrscheinlichen Entwicklungen ebenso wie die normativ geleitete Spekulation, die Gefahren und Chancen herausarbeitet.
Die Probe aufs Exempel: Zeitdiagnose in Zeiten der Corona-Pandemie
Verstanden als Neubetrachtung im Rückbezug ist es mehr als lohnenswert, sich im Zuge der Verunsicherung durch die Corona-Pandemie nochmals mit den Zeitdiagnosen zu befassen, die den Jahren dieses Einschnitts vorausgingen. Denn so richtig es ist, dass in jeder echten Krise etwas Neues, Unbekanntes hinzukommt, so zutreffend ist es, dass Krisen oftmals Katalysatoren für die Entwicklungen sind, die bereits zuvor beschrieben wurden.
Die Corona-Pandemie wurde in den ersten Monaten des Jahres 2020 mit Blick auf vielfältige Konsequenzen zu Recht als »Zäsur« bezeichnet. Doch die Corona-Pandemie hebelt damit keineswegs die Relevanz zeitdiagnostischer Anstrengungen aus, die sich vorgängig mit Entwicklungen befasst haben, die gerade durch die Krise offen zutage treten. Der Umgang mit alternativen Fakten beispielsweise ist nicht neu, wie Rainer Forst in seinen Überlegungen zur Wahrheit in diesem Band unterstreicht, aber seine Dringlichkeit zeigt sich gerade in der aktuellen Konjunktur der Verschwörungstheorien. Welche Relevanz die Geschichte einer anti-demokratischen Querfront gegenwärtig hat, aktualisiert die umsichtige Genealogie dieser Querfrontbewegung von Volker Weiß. Wie sehr in einem Shutdown des öffentlichen Lebens die Fragen der Familienorganisation drängen, verdeutlicht besonders Christina von Brauns Beitrag über Patchwork – um hier nur einige der im Glossar vertretenen Diagnosen zu nennen.
Dabei führt die Frage nach der Zeitdiagnose in der Corona-Pandemie auch auf eine Re-Aktualisierung des Verhältnisses zwischen dem Politischen in einem normativen Sinn und der Wissenschaft als empirischer Disziplin. Politische Praxis (und Theorie) ist auf empirische Wissenschaft angewiesen. Die Antwort auf das gesellschaftliche Wollen und Sollen kann Letztere nicht geben und auch nicht beanspruchen. Zugleich sind es auch in der Wissenschaft selbst der Pluralismus und die Kontroverse, die Erkenntnisfortschritte möglich machen. Im Zuge der Corona-Pandemie sehen wir deutlicher als zuvor: Die Idee einer Gesellschaft, die evidenzbasiert entscheidet und deren Organisation auf wissenschaftlichen Tatsachen beruht, stößt an ihre Grenzen, wenn es um eine grundsätzliche Orientierung geht. Sein-Sollen-Schlüsse aus vermeintlich »reinen Fakten« verbieten sich für eine Zeitdiagnose, die Orientierung zwischen den Handlungsoptionen bieten und nicht auf eine Sachzwang-Argumentation zurückfallen will.
In der aktuellen Debatte um den Umgang mit der Corona-Pandemie wurden von den einen Argumentationen vorgetragen und verstärkt, die bereits vor der Corona-Pandemie prägend waren. Für andere steht die Theorie jetzt, in der Corona-Pandemie, quasi am Nullpunkt, und es gelte, die althergebrachten Orientierungen und Begriffe zu suspendieren. Während es für die einen nun eher um die Aktualisierung von normativen Gewissheiten geht, wird von den anderen eine allerneueste Unübersichtlichkeit diagnostiziert.
Armin Nassehi meint zum Beispiel, der »Flickenteppich« von Maßnahmen korrespondiere mit einem »Flickenteppich« von Diagnosen, der Ausdruck einer neuen Konstellation sei: Die Komplexität lädt dazu ein, radikal neu zu sortieren und dafür das, »was wir an den Universitäten in Hauptseminaren seit Jahren lehren«, als »Entscheidungen unter Unsicherheit« auch gesellschaftlich-politisch zu akzeptieren (Philipp May, 2020).
Für Joseph Vogl ist es sogar so, dass unter dem praktischen Entscheidungsdruck die politisch-öffentliche Debatte »mögliche oder wahrscheinliche Aussichten dramatisiert, um im Unübersichtlichen übersichtliche Handlungsoptionen zu gewinnen« (Tomasz Kurianowicz, 2020). Aus dieser Perspektive wirkt die Forderung nach normativer Orientierung, die politische und zivilgesellschaftliche Vorschläge und Abwägungen leitet, beinahe rückwärtsgewandt.
Dem normativen Orientierungsbedürfnis wird von anderer Seite Rechnung getragen, wenn etwa die Pandemie als der »letzte Sargnagel für den Neoliberalismus« (Marcel Fratzscher, 2020) oder als »Krise einer Lebensform« der reinen ökonomischen Effizienz (Rahel Jaeggi, 2020) gesehen wird. Möglicherweise manifestiert sich in den unmittelbaren Reaktionen von Menschen auf die Krise sogar eine Rückkehr der Solidarität, die mehr sein könnte als eine Taktik von Egoisten in der Krise (Heinz Bude, 2019).
Gelungene Zeitdiagnose verbindet nicht nur das Normative und das Deskriptive, sie verbindet auch die Frage nach dem Bisherigen mit der Frage nach dem Neuen. Sie schreibt nicht linear fort, und doch schöpft sie zugleich aus bisherigen Erkenntnissen.
Was sich neu zeigt, war auch vorher schon da und zeigt sich zugleich auf andere Weise: Die Grenzen der Marktförmigkeit im Gesundheitssystem werden unter dem Druck der Pandemie anders sichtbar. Für soziale Teilhabe entscheidende Institutionen wie Kitas und Schulen, Bibliotheken und Jugendzentren werden allenthalben nach der Schließung vermisst und führen durch ihr Fehlen (möglicherweise) zu mehr Einsicht, welchen Stellenwert sie für ein selbstbestimmtes Leben schon vorher hatten. Die Begegnung im öffentlichen Raum wird in ihrer Relevanz für unser Leben nur umso deutlicher, wenn sie zeitweise eingeschränkt werden muss. Die fundamentale Bedeutung von Infrastrukturen tritt uns in der Krise vor Augen, von den Krankenhäusern bis zu den Internetkabeln.
Die Corona-Pandemie wird so zum Brennglas für Entwicklungen und Zusammenhänge, deren Diagnose neu und anders möglich geworden ist. Für die Aufgabe der Zeitdiagnose wird hierbei klar, dass Normen und entsprechende Gesellschaftsbilder aktualisiert werden müssen. Wenn es um die öffentliche Rezeption von empirischer und deskriptiver Wissenschaft in freiheitsbewahrender Absicht gehen soll, brauchen wir eine nicht nur durch wissenschaftliche Empirie informierte, sondern ebenso an normativer Theorie interessierte Zeitdiagnose. Somit erwächst der Philosophie, den Kultur- und Sozialwissenschaften sowie der Literatur die besondere Aufgabe, diese Reflexion immer wieder zu realisieren.
Literatur und Quellen
Philipp May: »Unglaublich schwierig, politisch die richtige Entscheidung zu treffen.« Interview mit Armin Nassehi, in: Deutschlandfunk (22.04.2020), https://www.deutschlandfunk.de/dynamik-in-der-coronadebatte-unglaublich-schwierig.694.de.html?dram:article_id=475201.
Tomasz Kurianowicz: »Die Moral interveniert, wenn man nicht weiter weiß.« Interview mit Joseph Vogl, in: Welt online (23.04.2020), https://www.welt.de/kultur/plus207440963/Joseph-Vogl-Die-Moral-interveniert-wenn-man-nicht-weiterweiss.html.
»Der letzte Sargnagel für den Neoliberalismus«, in: Spiegel.de (30.04.2020), https://www.spiegel.de/wirtschaft/corona-krise-diw-chef-marcel-fratscher-sieht-sargnagel-fuer-den-neoliberalismus-a-9498047e-9d8d-4c1a-a88d-9f688962d3e4; Rahel Jaeggi: Schluss mit dem TINA-Prinzip. In: Philosophie Magazin Online, 09.04.2020.
Heinz Bude: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee, München 2019.