Kontinuität und Veränderung: Gesellschaftlicher Wandel im Spiegel der Wahlen 2021

Veranstaltungsbericht

Wie viel Veränderung erfordern die gesellschaftlichen Herausforderungen und was ist nach der Bundestagswahl möglich? Die Online-Herbsttagung der Grünen Akademie am 8. Oktober 2021 nahm das Bundestagswahlergebnis zum Anlass, nach Kontextbedingungen und Handlungsfeldern des gesellschaftlichen Wandels zu fragen und die Potenziale politischer Gestaltung zu reflektieren.

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Das Wahljahr 2021 steht wie kein anderes für eine politische Auseinandersetzung über Kontinuität und Veränderung. Haben sich die Wähler*innen am Ende stärker am Status quo orientiert oder für einen Veränderungskurs entschieden? Wie viel Veränderung erfordern die gesellschaftlichen Herausforderungen, und was ist nach der Bundestagswahl möglich? Die digitale Herbsttagung der Grünen Akademie am 8. Oktober 2021 nahm das Bundestagswahlergebnis zum Anlass, nach Kontextbedingungen und Handlungsfeldern des gesellschaftlichen Wandels zu fragen und die Potenziale politischer Gestaltung zu reflektieren.

Wahlergebnisse im Zeichen von Status quo und Wandel

Eine erste Einordnung der Wahlergebnisse bot die Eröffnungsdiskussion mit vier Impulsen aus Wissenschaft und Politik. Jochen Müller (Humboldt Universität Berlin/ Grüne Akademie) fragte zunächst nach den Bewertungsmaßstäben für Erfolg und Misserfolg bei der Bundestagswahl. Neben Umfragen und Wahlergebnis müssten auch kleinteiligere Indikatoren in den Blick genommen werden. Interessant sei es etwa, so Müller, die Veränderung von themenbezogenen Kompetenzwerten in Folge einer Aktion oder Plakatkampagne zu untersuchen. Anhand solcher Indikatoren ließe sich der Erfolg verschiedener Wahlkampfstrategien isoliert betrachten. Stefanie John (Heinrich-Böll-Stiftung) präsentierte eine Analyse des Wahlergebnisses von Bündnis 90/Die Grünen – und zwar mit Blick auf die Unterschiede zwischen urbanen und ländlichen Räumen. Anna Lührmann (MdB/Grüne Akademie und Juniorprofessorin für Politikwissenschaft) berichtete über ihre Erfahrungen als Wahlkämpferin in Hessen und die Herausforderungen für Bündnis 90/Die Grünen in ländlichen Wahlkreisen, die unter anderem aus einer schwächeren Parteiorganisationsdichte resultieren. Mit Blick auf die anstehende Regierungsbildung bot Niko Switek (University of Washington/Grüne Akademie) den Teilnehmer*innen eine Einordnung aus der Perspektive der Koalitionsforschung und richtete den Blick vor allem auf die Rolle von Bündnis 90/Die Grünen und die FDP, die mit ihrem Aufruf zur gemeinsamen Wahl der Kanzlerpartei eine besondere Dynamik in die Koalitionsbildung brachten.

Auf Grundlage der vier Impulse folgte eine intensive Diskussion zwischen den Mitgliedern der Grünen Akademie. Besonderes Interesse galt dabei der Fragmentierung der Parteienlandschaft, den Differenzen zwischen strukturstarken und strukturschwachen Regionen sowie den urbanen und ländlichen Räumen. Vor dem Hintergrund der Stadt-Land-Differenz, mit der sich die Akademie bereits seit Jahren auseinandersetzt, fragten die Mitglieder, was es für die politische Kultur der Bundesrepublik bedeute, wenn zukünftig mit Bündnis 90/Die Grünen und der FDP zwei Parteien mit vornehmlich städtisch geprägten Wählerbasis an der zukünftigen Bundesregierung beteiligt sein sollten.

Weiterhin debattierten die Mitglieder über die anhaltende Bedeutung von Versammlungsöffentlichkeit und persönlicher Präsenz der Parteipolitiker*innen auf lokalen Events wie Dorf- und Stadtteilfesten auch in Zeiten von Pandemie und Online-Kampagnen. Aus Sicht einiger Akademiemitglieder könne Präsenz vor Ort helfen, Wählerpotenziale auszuschöpfen, bedürfe jedoch auch einer organisatorischen Verankerung im ganzen Land. Dies sei entscheidend für einen langfristigen Erfolg von Bündnis 90/Die Grünen, weil erst ein „gesundes Wachstum“ erlaube, die organisatorischen Kapazitäten der Partei auszubauen und neue Wähler*innen langfristig zu binden.

Themenforen

Im Anschluss an die Eröffnungsdiskussion boten drei digitalen Themenforen den Mitgliedern der Akademie die Gelegenheit, unterschiedliche Fragen des gesellschaftlichen Wandels weiter zu vertiefen.

Im ersten Themenforum diskutierte Michael Thöne (Universität zu Köln/Grüne Akademie) mit Michael Knoll (Verein Berliner Kaufleute und Industrieller/Beirat Grüne Akademie) die Herausforderungen für eine nachhaltige, investive Finanzpolitik und stellte in diesem Rahmen auch den Bericht des finanzpolitischen Arbeitskreises 2021 der Heinrich-Böll-Stiftung vor. Im Gespräch mit Stefanie John (Heinrich-Böll-Stiftung) spürte Kathrin Ackermann (Universität Heidelberg) in einem zweiten Forum den neuen und alten gesellschaftlichen Konfliktlinien nach. In der Debatte wurden diese oft fluiden, teils subtilen Bruchlinien im Spiegel der Wahlen betrachtet und daraus folgende gesellschaftliche Implikationen beleuchtet. In einem dritten Forum fragten Johannes Kode (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg/Grüne Akademie), Claudia Müller (MdB/Beirat Grüne Akademie) und Gabriele Abels (Eberhard-Karls-Universität Tübingen/Grüne Akademie) nach den Veränderungen des deutschen Föderalismus in den letzten Jahrzehnten sowie nach unterschiedlichen Sichtweisen zur Zukunft des Föderalismus innerhalb der grünen Strömung.

Epochenwechsel: Wie viel Veränderung ist möglich

Die zweite Debatte der Tagung eröffnete die Historikerin Hedwig Richter (Universität der Bundeswehr München) mit einem langen Vortrag. Richter verknüpfte die Bundestagswahl mit dem historischen Narrativ der bürgerlichen Mitte und seiner Fortschrittsgeschichte, in die sie auch die grüne Strömung einzuordnen wusste. Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 haben aus Richters Sicht die Bedeutung der bürgerlichen Mitte unterstrichen. Bei der Wahl habe sich diese Mitte zu einem signifikanten Anteil für zwei moderate linke Parteien – SPD und Bündnis 90/Die Grünen – entschieden. Die Stärke der politischen Mitte zeige sich auch darin, dass enttäuschte CDU-Wähler*innen nicht etwa zur AfD, sondern in großen Zahlen zur SPD abgewandert seien. Anzeichen für eine heftige Polarisierung ließen sich aus diesem Ergebnis schwerlich ableiten. Konflikte etwa zwischen urbanen und ländlichen Wähler*innen seien zwar erkennbar. Davon, dass diese das Land zerrissen, könne aber kaum gesprochen werden: „Wir leben nicht in apokalyptischen Zeiten“, konstatierte Richter. Auch den Niedergang der Volksparteien wolle sie nicht in ein Krisennarrativ einordnen. Die nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland aus den USA übernommene Annahme, dass der Wettbewerb zwischen zwei großen Parteien die beste Form der Demokratie sei, werde von der neueren Demokratieforschung in Frage gestellt. Der Trend gehe stattdessen hin zu diversen, global vernetzten Demokratien, in denen eine Mehrzahl von Parteien als Repräsentanten verschiedenster Interessen miteinander im Wettbewerb stünden.

Demokratie, Bürgerlichkeit und Grünes Erbe

Wenn wir die demokratische Mitte begreifen wollen, so Richter, müsse diese zunächst in ihrer Bürgerlichkeit verstanden werden. Bürgerlichkeit sei eine zentrale Kategorie der deutschen Politik. Dies werde nicht zuletzt darin deutlich, dass es der AfD nicht gelungen sei, das Label „bürgerlich“ für sich zu vereinnahmen, weil andere Parteien, einschließlich der Grünen, ebenfalls Anspruch darauf erhoben hätten. Historisch sei die Demokratie eine bürgerliche Institution; sie lebe vom Diskurs, schriftlichem Austausch und respektvollem Umgang miteinander. Dabei trage die Demokratie zugleich einen elitären Zug in sich. Intellektuelle setzten Impulse, welche die demokratische Gesellschaft als ganze voranbringen könnten. Aktuelle Beispiele seien etwa die Forderungen nach mehr Klimaschutz oder geschlechtergerechter Sprache. Von jeher bestünde zudem eine enge Verbindung der Expansion von Bildungsmöglichkeiten und demokratischen Beteiligungsformen. Der Einsatz der Sozialdemokratie für die sog. Volksbildung etwa sei ein entscheidender Faktor für den Demokratisierungsschub dieser Zeit gewesen. Diese paradigmatische Verbürgerlichung der Sozialdemokratie sei nach Richter das Produkt eines massenhaften Bildungsaufstieges, der mit einer Abkehr vom Revolutionsideal einhergegangen sei. Bürgerlichkeit bedeute in diesem Sinne auch Toleranz. Eine bürgerlich-demokratische Partei erkenne an, dass die Rollen der Unterdrücker und Unterdrückten nicht immer klar verteilt seien. Ein vergleichbarer Prozess lasse sich auch für die grüne Bewegung feststellen. Entstanden als Produkt einer zweiten Demokratie- und Bildungsexpansion in den 1970er-Jahren sei sie auch elitär gewesen, weil sie vor ihrer Zeit die zukünftigen Herausforderungen der Umwelt- und Klimafrage erfasst habe. Die zunehmende Reformorientierung der grünen Partei offenbare dabei im Besonderen ihr bürgerliches Erbe. Eine solche bürgerliche Perspektive lasse schließlich keinen Raum für eine dichotome Weltsicht, weil diese den Blick auf eine komplexe Gemengelage verstelle und konstruktive Lösungsversuche für die Probleme des 20. und 21. Jahrhundert verhindere. An der Geschichte der grünen Bewegung und ihrer Auseinandersetzung mit der Umweltfrage lasse sich daher der reflexive Charakter der bürgerlichen Demokratie demonstrieren. Aus Wohlstand und Sicherheit heraus, so Richter, übten Bürger*innen Kritik und formulierten radikale Forderungen. Insofern entbehre es nicht einer gewissen Ironie, dass den protestierenden Jugendlichen von Fridays for Future ausgerechnet ihre bürgerliche Herkunft vorgeworfen werde. Dennoch sei das ungleiche Beteiligungsverhalten zwischen Mitte und Unterschicht eine stete Herausforderung für die Demokratie. Um die Jahrhundertwende wie auch heute gelte es, solchen Demokratiedefiziten mit einer Ausweitung von Bildungschancen zu begegnen. Der Blick auf die von ihr skizzierte Geschichte der bürgerlichen Demokratie, so schloss Richter ihren Vortrag, gebe Anlass zum Optimismus. Eine liberale Demokratie mit einer starken bürgerlichen Mitte sei dafür die beste Voraussetzung für die Lösung aller Zukunftsherausforderungen.