EU-Außengrenzen: Grundlegender Werteverlust

Kommentar

In der Krise an der belarussisch-polnischen Grenze zeigt sich, wie Grenzschutz über den Schutz von Menschen gestellt wird.

Grenze

Der Konflikt an der östlichen EU Außengrenze spitzt sich weiter zu. Tausende Migrant_innen harren zwischen Belarus und Polen aus und hoffen, in die EU zu gelangen. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat sie mit falschen Versprechungen hierher gelockt - und bleibt bei seiner Forderung, die EU, allen voran Deutschland, solle die Menschen aufnehmen. Zudem will Lukaschenko sich für die erst viel zu spät gewährleistete Versorgung in dem als Notunterkunft genutzten Lager im belarussischen Brusgi, und für die einsetzende Rückführung von der EU bezahlen lassen. Zuletzt berichteten die Menschen im Lager von Brusgi, es hieße die Halle solle bald geräumt werden - sie seien aufgefordert worden, entweder an die Grenze oder in ihr Heimatland zurückzukehren.

Belarussische Sicherheitskräfte treiben diese Menschen regelrecht gegen die Zäune und in die Wälder und Sümpfe des Niemandslands an der Grenze zu Polen. Die polnischen Grenzschützer, verstärkt von tausenden Soldaten, jagen sie zurück. Etliche der Personen sind entkräftet, verletzt und bei den eisigen Temperaturen gestorben; darunter auch Kinder.

Die baltischen Staaten warnen vor einem Angriff auf das Bündnisgebiet, mit dem sich die NATO befassen müsse. Auch Russlands Präsident Wladimir Putin befeuert den Konflikt. Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki warnt, die Krise an der belarussisch-polnischen Grenze könne „der Auftakt zu etwas viel Schlimmerem“ sein, während auch Lukaschenko mit zunehmender Militarisierung droht.

Einseitige Abmahnung durch die EU-Kommission

Dabei wird Lukaschenko völlig zu Recht verurteilt. Mit weiteren Sanktionen versucht Brüssel deutlich zu machen, dass sich die EU nicht erpressen lässt. Der polnischen Regierung jedoch lässt Brüssel weitgehend freie Hand, obgleich eklatante Rechtsverletzungen durch illegale push-backs und die Aushebelung des Asylrechts von der polnischen Regierung veranlasst worden sind. Die Europäische Kommission schaut geflissentlich darüber hinweg, dass eine humanitäre Notlage geschaffen wird, die neben der Zurückweisung von Lukaschenkos üblem Spiel auch das Ziel hat, Bilder der Abschreckung zu produzieren. Gegen diesen „Freibrief“ für die polnische Regierung protestieren auch polnische Bürgerinnen, die in der Sperrzone leben und ihr Möglichstes tun in dieser humanitären Notlage - wie auch polnische Menschenrechtsaktivistinnen und Anwälte. Hilfsorganisationen, wie etwa dem Roten Kreuz ist der Zutritt zur Sperrzone weiterhin verwehrt.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte inzwischen angekündigt, die derzeitigen Hilfen für Polen, Litauen und Lettland für das Grenzmanagement zu verdreifachen. Im EU-Haushalt bis Ende 2027 stünden insgesamt 6,4 Milliarden Euro dafür zur Verfügung. Die EU finanziere Überwachungstechnik, Patrouillenfahrzeuge, Ausrüstung für Grenzbeamte oder die Einrichtung von Grenzübergängen. Wie eine Belohnung wirkt das. In dieser „Sondersituation“ wollte die Kommission zudem einen Mechanismus anbieten, der es Polen, Lettland und Litauen ermöglichen würde, Asylverfahren direkt an der Grenze und in geschlossenen Lagern durchzuführen, um dann im Falle eines negativen Bescheides schnell wieder abzuschieben. Doch der polnischen Regierung ging dieser Vorschlag des Rechtsabbaus nicht weit genug. Asylverfahren müssten vielmehr gänzlich eingestellt werden, entgegnete der polnische EU Botschafter. Jetzt will man sich in Brüssel darüber hinausgehend mit zwei Reformen der Schengen-Vorschriften beschäftigen, die Möglichkeiten schaffen, „einer politischen Instrumentalisierung von Migranten zu begegnen“. Diese würden  allen Mitgliedsstaaten der EU dann demnächst das Recht einräumen, den Flüchtlingsschutz weiter einzuschränken, eben wenn eine „Instrumentalisierung“ vorliegt; wobei der Begriff bewusst auslegbar bleibt.

Fast gewöhnt man sich in Europa daran, dass Menschen auf Booten zurück ins offene Meer getrieben oder mit Schlagstöcken und anderen Waffen daran gehindert werden, Grenzen zu passieren.

Die Abschaffung des Flüchtlingsschutzes, wie ihn die Genfer Flüchtlingskonvention vorsieht, geht damit in eine sehr kritische Phase. Fast gewöhnt man sich in Europa daran, dass Menschen auf Booten zurück ins offene Meer getrieben oder mit Schlagstöcken und anderen Waffen daran gehindert werden, Grenzen zu passieren. Das kaum eine Regierung mehr bereit ist, aus Seenot Gerettete oder eben im Niemandsland Gestrandete aufzunehmen, lähmt die gesamte Union. Einen „Schiffbruch der Zivilisation“ nannte es Papst Franziskus bei seinem Besuch auf Lesbos.

Grundlegender Werteverlust

Wo Flüchtlinge brutal zurückgewiesen werden, wird mit dem Versprechen von 1951, Verfolgten Schutz zu gewähren, ihnen Rechte zu geben wie Pflichten, grundlegend gebrochen. Dabei gab es gerade in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gute Gründe für dieses Versprechen. Verfolgte Armenier oder Juden hätten gerettet werden können, wäre der Status von Flüchtlingen bereits geklärt und das Schutzversprechen geboten gewesen. Man kann einiges an der Genfer Flüchtlingskonvention, die dieses Jahr 70 Jahre alt wurde, problematisch finden. Im Kern läuft bereits Vieles falsch, wenn Migrant_innen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen Asyl beantragen, weil es keine anderen Möglichkeiten für legale Aufenthalte für sie gibt. Noch mehr läuft offensichtlich falsch, wenn Flüchtlinge und Migrant_innen von Machthabern instrumentalisiert werden, um Erpressungs- und Drohszenarien zu installieren. Schon Gaddafi hatte einst damit gedroht, Menschen auf die Union „loszulassen“, wie auch Erdogan, ungeachtet des „Türkei Deals“. Diesmal scheint die Lage komplexer und ernster, wenn auch nicht unlösbar.

Der Konflikt an der belarussisch-polnischen Grenze zeigt hingegen, dass nicht mehr den Menschen Schutz geboten werden soll, sondern vorrangig den EU-Außengrenzen.

Eins steht jedoch fest: Das Fundament des internationalen Flüchtlingsrechts auszuhöhlen, kommt einem grundlegenden Werteverlust gleich. Das Recht auf Schutz (Asyl) der Verfolgten und das Gebot der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement) müssen zentrale Geltung behalten. Der Konflikt an der belarussisch-polnischen Grenze zeigt hingegen, dass nicht mehr den Menschen Schutz geboten werden soll, sondern vorrangig den EU-Außengrenzen. Die Situation als „hybriden Krieg“ zu bezeichnen, kann in diesem Zusammenhang dazu führen, menschenrechtswidrige Behandlung von Migrant_innen und Flüchtlingen zu „rechtfertigen“. Damit verengen sich die politischen Spielräume rapide  – sie zu nutzen, ist jedoch nun das dringendste Gebot der Stunde!