Zentralamerika steckt in einer tiefen Krise

Kommentar

Länder wie Nicaragua, El Salvador und Guatemala versinken seit einigen Jahren immer stärker in einem Sumpf aus Machtmissbrauch, Korruption und Gewalt. Die demokratische Zivilgesellschaft hat es schwer, ihre Handlungsspielräume werden immer weiter eingeschränkt. Immerhin gibt es im lange Zeit hoffnungslosen Honduras positive Entwicklungen. Und auch in den anderen Ländern regt sich Widerstand.

Mit dem »Marsch des Hohns« protestierten Student*innen (2019) in Managua gegen das Ortega-Regime. Masken verhindern die schnelle Identifizierung.
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Mit dem »Marsch des Hohns« protestierten Student*innen (2019) in Managua gegen das Ortega-Regime. Masken verhindern die schnelle Identifizierung.

Die Geschichte Zentralamerikas weist zahlreiche Etappen voller autoritärer Regime auf. Zusätzlich zu verschiedenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ursachen haben diese die Region zu einer mit der größten Ungleichheit weltweit gemacht. Die Kennzahlen zu Armut, Gewalt und Ungleichheit sind seit dem Ende der kolonialen Ära kaum gesunken. Zeiten tiefgreifender sozialer Umwälzungen und ein andauernder Kampf ums Überleben für große Teile der Bevölkerung waren die Folge. Immer existierten auch soziale Bewegungen, die auf unterschiedliche Aktionsformen setzten und eine sehr unterschiedliche Stärke entwickelten. Es gab indigene Widerstände, Bauernbewegungen, universitäre Organisationen, die Kämpfe von Arbeiter*innen und bewaffnete Guerillaorganisationen.

Jahrzehntelang haben räuberische Eliten den Staat vereinnahmt und sich der Umwelt, der Wirtschaft und der Politik bemächtigt. Die Folge: Heute dominieren in Zentralamerika autoritäre und populistische Regierungen. Breite Bevölkerungsschichten sind fasziniert von Regierungsmodellen, deren einzige Antwort auf die weit verbreitete Gewalt darin besteht, Rechte zu beschneiden. Mit der Coronapandemie hat sich der Verlust demokratischer Handlungsspielräume in der Region noch verstärkt.

Das Ende der Demokratie in Nicaragua

Noch vor der Pandemie setzte in Nicaragua eine autokratische Dynamik ein, die unumkehrbar scheint. Das Land wurde zum schlimmsten Beispiel für staatliche Repression in der Region, als im April 2018 Polizei, Militär und paramilitärische Regierungskräfte mit direkter und umfassender Gewalt auf die sozialen Proteste in verschiedenen Landesteilen reagierten. Diese hatten viele Ursachen: Steigende Armut. Die Familie des Präsidenten Daniel Ortega, die sich den Staat immer mehr aneignete, um sich zu bereichern. Ungeahndete Umweltvergehen wie der verheerende Brand im Naturschutzgebiet Indio Maíz.

Die widerständische Bevölkerung legte das Land lahm, doch die brutale polizeiliche und militärische Gewalt entfaltete den diktatorischen Charakter der Regierung Ortegas und seiner Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo vollständig. Sie führten immer neue Schläge gegen noch bestehende demokratische Strukturen in Nicaragua aus. Die Bilanz vier Jahre nach den Protesten: mehr als 300 ermordete Menschen, fast 200 politische Häftlinge, weitgehend zerschlagene Oppositionsparteien und eine widerrechtliche Präsidentschaftswahl im November 2021.

All dies provozierte einen massiven Exodus der Nicaraguaner*innen nach Costa Rica und in die USA. Die nicaraguanische Auslandsgemeinde ist heute die einzige Stimme des Widerstands. Der langfristige Zerschleiß des Regimes und interne und wirtschaftliche Konflikte des Regimes gehören derzeit zu den wenigen Optionen für eine Rückkehr zur Demokratie.

Der Weg in den Autoritarismus in El Salvador

Eine ähnliche institutionelle Situation wie in Nicaragua besteht in El Salvador. Das Regime von Präsident Nayib Bukele und seiner Familie ist mit Gruppen verbündet, die den traditionellen politischen Parteien ARENA und FMLN entstammen. Der Familienclan paktiert gewinnbringend mit kriminellen Strukturen, die von den nationalen Banden, den Maras, bis hin zu den transnationalen Interessengruppen hinter den Kryptowährungen reichen. Die Regierungspolitik hat das Land in ein Paradies für Kriminelle verwandelt, das kurz vor dem wirtschaftlichen Bankrott steht. Die Demokratie wird Schritt für Schritt demontiert.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 stimmten (bei einer Gesamtbevölkerung von 6,5 Millionen) etwa 1,4 Millionen Menschen für Bukele. Sie entschieden sich explizit gegen die traditionellen Parteien und für einen höchst populären Kandidaten und seine scheinbar neue Parteioption. Der Sieg von Bukeles Regierungspartei Nuevas Ideas (Neue Ideen) mit absoluter Mehrheit bei den Parlamentswahlen im Februar 2021 verschaffte dem Präsidenten die Möglichkeit, per Dekret das Verfassungsgericht zu entmachten. Bukele erlangte die Kontrolle über alle drei Staatsgewalten, auch aufgrund der Pandemie blieb eine nennenswerte Reaktion der organisierten Zivilgesellschaft aus. 

Diese für jede Demokratie gefährliche politische Realität ist begleitet von einer Pseudolegitimität der Regierung aufgrund der Wahlergebnisse. Geschuldet sind diese unter anderem dem fehlenden Vertrauen in das traditionelle Parteiensystem und der uferlosen Medienmanipulation, die bei Regierungsanhänger*innen und nicht informierten Bevölkerungsgruppen auf fruchtbaren Boden fällt. Unter dem Vorwand der prekären Sicherheitslage üben zudem die Streitkräfte wachsenden Einfluss in der Politik aus.

Diese Dynamik und die weit verbreitete Korruption sind nichts Neues: Traditionell nutzten und missbrauchten die Parteien in El Salvador diese Strategien, um sich an der Macht zu halten. Aber die Regierung der Bukele-Familie und der sie umgebende Machtzirkel haben ein hybrides System entwickelt. Die Wahlen erlauben es ihnen, sich als repräsentative Kraft zu legitimieren. Dazu kommt ein permanenter Populismus, der sich auf Versprechen stützt, die weder durchdacht noch ökonomisch fundiert sind.

Nachdem die schlimmsten Jahre der Pandemie offenbar vorbei sind, ist El Salvador heute das Ideal der politischen und wirtschaftlichen Eliten, die sich an der Macht verewigen möchten. Der Präsident hat die Opposition und den Widerstand auf Kosten der Demokratie erfolgreich ausgebremst. Über ihre mit Steuergeldern bezahlte Medienmaschinerie verbreitet die Regierung Botschaften, die aus regierungskritischen Personen der organisierten Zivilgesellschaft simple „Anhänger*innen“ ausländischer Machtgruppen machen, die US-Regierung eingeschlossen. Eine abweichende Stimme sind noch jene Journalist*innen und Medien, die für Transparenz eintreten.  

Das Verhältnis zur US-Regierung hat sich enorm verändert. Donald Trump bezeichnete die zentralamerikanischen Staaten als „shithole countries“ („Drecksloch-Länder“), aber seine eigene republikanische Regierung erklärte Bukele zum Freund. Ganz anders die Regierung von Joe Biden und Kamala Harris, die mehrere hochrangige Politiker*innen aus Zentralamerika auf die sogenannte Engel-Liste gesetzt hat. Auf ihr befinden sich unter Korruptionsverdacht stehende Personen, die nun nicht mehr in die USA einreisen dürfen. Viele davon kommen aus El Salvador. Beständig warnt die US-Regierung vor immer weiter eingeschränkten Menschenrechten und Verfassungsgarantien in El Salvador.

Der Exodus der Migrant*innen hält an und nimmt zu. Die Menschen verlassen das Land nicht mehr nur aufgrund fehlender wirtschaftlicher Chancen. Auch weil kriminelle Banden wie die Mara Salvatrucha oder die Mara 18 immer stärker die territoriale Kontrolle übernehmen, die die Regierung für sich beansprucht. Verlässliche journalistische Quellen haben aufgedeckt, wie bereits vorherige Regierungen Abkommen mit den Banden geschlossen haben, um bei Wahlen Vorteile zu haben. So verringerten sich an einigen Orten “automatisch“ Morde und Feminizide, mit denen die Banden auf verweigerte Schutzzahlungen reagieren.

Auch die Regierung Bukele hat in ihren ersten beiden Jahren erfolgreich einen solchen Pakt geschlossen und mit öffentlichen Geldern finanziert. Doch dahinter verbirgt sich eine Dunkelziffer zahlreicher verschwundener Menschen, die im Einflussbereich der Maras lebten. Inzwischen ist es durch eine journalistische Recherche der Online-Zeitschrift El Faro gut belegt, wie der Pakt der Regierung mit der größten Mara, der MS-18, im März diesen Jahres zerbrach. Ein Pakt, zu dem auch gehörte, Bandenanführer, die von den USA gesucht wurden, nicht dorthin auszuliefern. Eine Gewaltexplosion mit 87 Morden in nur drei Tagen waren die Folge.

Daraufhin erklärte die Bukele-Regierung den Maras den „Krieg“ und verhängte für 30 Tage einen Ausnahmezustand, den sie im April bereits einmal verlängert hat. Fast 30.000 Verhaftungen folgten bis Mitte Mai, wobei längst nicht alle die Verhafteten Bandenmitglieder sind. Sie haben keine Chance, sich in einem rechtskonformen Gerichtsverfahren juristisch verteidigen zu können.

Angesichts der immer stärkeren Abhängigkeit der Justiz von der Regierung symbolisieren die Massenverhaftungen den autoritären Machtmissbrauch einer Autokratie, die dafür allerdings Unterstützung in der Bevölkerung findet. Die salvadorianische Gesellschaft ist Opfer und Täter zugleich. Indem sie den Bukele-Clan unterstützt, zerfleischt sie sich selbst. Dies erinnert an die schlimmsten diktatorischen Zeiten im Land, in deren Folge es zu tiefgreifenden Konflikten kam und zehntausende Menschen ermordet wurden.

Nicht nur die Maras üben Gewalt aus. Die Regierung hat den Streitkräften und der Polizei freie Hand gegeben, um die Banden unter Kontrolle zu bringen. Zahlreiche unschuldige Opfer, deren verfassungsmäßige Rechte nicht garantiert werden, sind die Folge. In El Salvador existiert der Rechtsstaat nicht mehr. Zugleich sind die oppositionellen sozialen Bewegungen schwach. Das Gespenst der laut Verfassung nicht zulässigen Wiederwahl des Präsidenten geht als Synonym für eine neue Diktatur im Land um. Gefahr droht dieser Diktatur vor allem durch die angespannte und fragile wirtschaftliche Situation: Die Staatsfinanzen stehen kurz vor dem Bankrott.

Guatemala im Sumpf der Korruption

Das Präsidentenpaar Ortega-Murillo in Nicaragua mit 15 Jahren demokratischen Niedergangs und Bukele, der in gerade einmal drei Jahren die Macht vollständig vereinnahmt hat, sind äußerst spezielle Fälle. Aber nicht nur in diesen beiden Ländern driftet die Politik ins Autoritäre ab. In Guatemala besteht der Konflikt zwischen sich an die Macht klammernden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gruppen und einer organisierten Zivilgesellschaft, die sich gegen die Korruption engagiert. In den Jahren 2015 und 2016 gab es enorme Fortschritte in diesem Kampf, auch durch die Arbeit der Internationalen Kommission gegen Straffreiheit (CICIG), die seit 2007 in Guatemala tätig war. Sie wurde von zahlreichen sozialen Organisationen, die für Transparenz und Gerechtigkeit eintraten, unterstützt. Diese Anstrengungen fanden mit dem Anfang 2019 vom damaligen Präsidenten Jimmy Morales erzwungenen abrupten Abzug der CICIG ein trauriges Ende.

Heute gibt es in Guatemala eine Hetzjagd auf (ehemalige) Richter*innen und Staatsanwält*innen, die die Korruption bekämpften und die Verfahren gegen wichtige  Regierungsmitglieder unterstützten. Inzwischen sind Gefängnis und Repression Synonyme für das Justizwesen. Sie bilden die Handlungsgrundlage für Staatsanwaltschaften, das Parlament und ein Verfassungsgericht im Dienste ultrakonservativer Machtgruppen.

Der Staat hat die sozialen Bewegungen, die einst Teil des „guatemaltekischen Frühlings“ waren, entrechtet und unterdrückt sie. Deutlich zeigt sich dies in den Landesteilen, in denen Bergbaukonzessionen und andere Genehmigungen erteilt werden, die schwerwiegende Folgen für die Umwelt haben. Fast nur die großen indigenen Organisationen, die für den Schutz ihrer Territorien kämpfen, leisten Widerstand.

In Guatemala müssen die Staatsgewalten neu strukturiert werden, wobei die Forderungen der indigenen Nationen nach einem plurinationalen Staat bedenkenswert sind. Noch findet diese Idee nicht viel Unterstützung. Aber sie ist eine der wenigen Optionen, um die höchst gewalttätige Herrschaft finanzstarker, politischer und militärischer Machtgruppen zu überwinden.

Hoffnung in Honduras und Enttäuschung in Costa Rica

Immerhin verspricht der Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Honduras vom November 2021 ein bisschen Hoffnung für die zentralamerikanische Region. Zwölf Jahre nach dem Putsch gegen Präsident Manuel Zelaya trat eine Mehrparteienkoalition unter Führung von dessen Ehefrau Xiomara Castro für die Neugründung des Staates an. In den Jahren zuvor hatte Präsident Juan Orlando Hernández zusammen mit den ökonomischen, politischen und militärischen Eliten eine Attacke nach der anderen auf die schwache honduranische Demokratie durchgeführt, den wahrscheinlichen Wahlbetrug von 2017 inbegriffen.

Die Regierung von Präsidentin Castro weist seit ihrem Amtsantritt im Januar 2022 Licht und Schatten auf. Sie schaffte die höchst umstrittenen Sonderwirtschaftszonen (ZEDES) ab und kämpfte erfolgreich um den wichtigen Vorsitz im Parlament – gegen ein Bündnis, das diesen Posten als sein unveräußerliches Recht ansah. Die Machtübernahme, um der Macht eine Grenze zu setzen: Das ist das Paradox einer Regierung, die sich umfassenden Forderungen der Bevölkerungsmehrheit gegenüber sieht.

Costa Rica hingegen schließt sich der zentralamerikanischen Dynamik unsicherer politischer Verhältnisse an. Der seit März amtierende Präsident Rodrigo Chaves kritisierte im Wahlkampf offen die Arbeit der Journalist*innen. Er tritt offensiv für das multinationale Agrobusiness ein, auf Kosten der Umwelt.

Ganz Zentralamerika befindet sich heute in einer komplizierten Phase. Selbst Wahlen, früher Sinnbild der Demokratie, sind Teil der Dynamik, den Staat zu vereinnahmen. Die ohnehin schon verletzlichsten Bevölkerungsgruppen werden von schweren wirtschaftlichen, sozialen, autoritären und ökologischen Krisen besonders betroffen sein, während diejenigen, die die Macht missbrauchen, mit Straffreiheit rechnen können. Die Hauptfolgen der aktuellen Regime bleiben erzwungene Migration und verletzte Menschenrechte. Die einzige Hoffnung besteht darin, dass sich die Bevölkerung angesichts der Krisen organisiert. Die Geschichte Zentralamerikas hat dies ein um das andere Mal gezeigt.

Die sozialen Bewegungen sind in der Region nicht verschwunden, sie sind nur durch Autoritarismus und Pandemien geschwächt worden. Zweifellos werden sie in den wenigen ihnen verbleibenden Räumen nach und nach wieder erstarken und sich neue Räume erkämpfen. Als Reaktion auf die unbefriedigten Grundbedürfnisse und fehlenden Rechte der Bevölkerung. Ihr Ziel wird es sein, den Weg zu neuen demokratischen Werten zu ebnen. 

Aus dem Spanischen von Gerold Schmidt.


Der Artikel erschien zuerst im Südlink 200 (Juni 2022) zum Thema "Zivilgesellschaft unter Druck". Mehr Infos unter: https://www.inkota.de/news/suedlink-zum-thema-shrinking-spaces-erschienen