Eine Studienreise in Berlin führt Historiker:innen und Vertreter:innen von NGOs und Museen aus Ländern des Westbalkans an erinnerungspolitische Gedenkorte und in den Austausch zu eigenen Historiografien.

Öffentliche Geschichte - Was ist das?
Zeit der Erinnerung hat Olga Manojlović Pintar, eine serbische Historikerin, den Beginn des 21. Jahrhunderts benannt – „die Zeit, in der revolutionäre Visionen der Zukunft durch Rückblicke in die Vergangenheit ersetzt werden“. Vergangenheitsbewältigung, merkt sie an, hat sich zu einem wichtigen sozialen und politischen Konzept entwickelt, und die Geschichte selbst hat einen gewissen Marktwert gewonnen. Erklärungen und Legitimationen für die aktuellen sozialen und politischen Gegebenheiten werden in vorgeblich authentischen geschichtlichen Interpretationen gefunden. Historische Symbole und Erinnerungsstücke sind in der heutigen Gesellschaft weit verbreitet. Deshalb sind Praktiker:innen und Vertreter:innen der Geschichtswissenschaft zunehmend gefordert, bei ihrer historischen Arbeit „über die Grenzen des traditionellen Schulunterrichts hinauszugehen“.[1] Anders ausgedrückt: Öffentliche Geschichte steht für die Interpretation der Vergangenheit außerhalb eines spezialisierten akademischen Umfelds, wobei Geschichte der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll, und nicht nur Akademiker:innen oder Fachleute im Blick hat.
Herausforderungen öffentlicher Geschichte
Eine aktive Kommunikation in der Öffentlichkeit ist mit zahlreichen Herausforderungen und Hindernissen verbunden. Aufführungen, bei denen historische Ereignisse authentisch inszeniert werden, Jahrestage und Gedenkfeiern, (Wieder-)Errichtungen von Denkmälern und Gedenkstätten finden kaum ohne öffentliche Debatten oder hitzige Diskussionen und Kritik statt. Es gibt Bemühungen, historische Zusammenhänge zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen, um heutige Phänomene erklären zu können. Die öffentliche Geschichte muss, um ihrer Rolle gerecht zu werden, mit traditionellen historischen Methoden brechen und oftmals nach alternativen Wegen suchen, um die Diskrepanzen zwischen Geschichtswissenschaftler:innen, zeitgenössischen Analytiker:innen und der Öffentlichkeit zu verringern.[2]
Die These des französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwach über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Erinnerns berücksichtigt die Bedeutung des gemeinsamen Gedächtnisses, das in den Strukturen von Familie, Religion und Gesellschaftsgruppierungen stattfindet. Daher existiert nicht nur das individuelle Erinnern, sondern auch ein Gruppengedenken, das über die Einzelperson hinaus existiert und fortlebt. Folglich ist das Verständnis einer Einzelperson in Bezug auf die Vergangenheit stark mit ihrem Gruppenbewusstsein verknüpft und wird durch die in der Gruppe bestehenden Ansichten und Werte geprägt.[3] Vor diesem Hintergrund betont Aleida Assman, eine deutsche Wissenschaftlerin für Kulturanthropologie und kulturelles und kommunikatives Gedächtnis, dass die Wahrnehmung der Vergangenheit durch die Identitätsbrille auch immer mit Affekten und starken Emotionen einhergeht.[4] Deshalb besteht die größte Herausforderung für öffentliche Geschichte in der Antwort auf die Frage, was aus dem kollektiven Gedächtnis verloren geht und was bleibt. Daran anschließend muss sie erklären, wie diese bereits ausgewählte Vergangenheit gefeiert/erinnert werden wird.
Ein instagrammtaugliches Bild von „Uns“ - Deutschlands museologische Praktiken
Im Mai 2022 erhielten Historiker:innen und Vertreter:innen verschiedener Museen, Gedenkstätten und NGOs aus Ländern des ehemaligen Jugoslawiens auf einer Studienreise nach Berlin die Gelegenheit, mit ihren deutschen Kolleg:innen über Erinnerungskultur und Gedenkpolitiken zu sprechen.
Der erste Besuch führte sie ins Ethnologische Museum im Humboldt-Forum. Im Museumsbestand finden sich ethnografische, archäologische und kulturhistorische Objekte aus Afrika, Asien, Amerika und Ozeanien. Bereits am Eingang wurde deutlich, dass es sich nicht um eine typische Ausstellung handelt, die sich mit einer wohlbekannten kolonialen Thematik beschäftigt. Als Einführung in die Ausstellung werden mediale Arrangements mit einer bunten Auswahl von Objekten gezeigt, die Fragen zur Geschichte der Objekte formulieren und die Sammlungen in den Kontext der heutigen Zeit bringen. Bestimmte Teile der Ausstellung und Räume stellen sehr anschaulich den aufreibenden Kampf mit der Kolonialvergangenheit dar. Der Gesamteindruck ist jedoch, dass die Botschaft über den Kolonialismus ziemlich schwer zu verstehen ist, und es ist ungewiss, ob weniger informierte Besucher:innen das Hauptziel der Ausstellung und ihre Hinterfragung des Kolonialismus und seiner Folgen aus heutiger Sicht vollständig verstehen könnten. Die Ausstellung ist sehr „instagrammtauglich“, wie ein Mitglied der Gruppe treffend formulierte, was bedeutet, dass diejenigen, die die kontroverse und teilweise tragische Vergangenheit der ausgestellten Objekte nicht sehen möchten, dies nicht zu tun brauchen, was die Ausstellung visuell ansprechend macht und sie damit gut für Fotos und Beiträge in den sozialen Medien geeignet ist. Ungeachtet des sehr überzeugenden antikolonialen Diskurses der Einführung in die Ausstellung und der faszinierenden Reflektionen, welche sich auch durch restliche Ausstellung ziehen, bleibt die Kritik an der Kolonialvergangenheit aufgrund der Attraktivität der Objekte und ihrer Darstellung (zumeist ohne Erklärungen, wie sie ihren Weg nach Deutschland gefunden haben) in dem restaurierten neoklassizistischen Gebäude, das einen Hauch von imperialistischen Zeiten verströmt, relativ unverständlich.
Der zweite Besuch führte in das ehemalige Stasi-Gefängnis, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Hier stehen persönliche Geschichten der in diesem vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR kontrollierten Gefängnis Inhaftierten im Mittelpunkt. Diese Stätte offenbart eine Seite der DDR-Geschichte und ihrer willkürlichen Methoden im Strafvollzug. Im Gegensatz zur Ausstellung im Ethnologischen Museum wird die Botschaft an die Gefängnisbesucher:innen sehr deutlich. Im Vordergrund stehen die politischen Gefangenen, die einem unerbittlichen Regime zum Opfer fielen. Jedoch fehlt hier der breitere Kontext. Die Politik der UdSSR wie auch der DDR erlebte in den fast fünf Jahrzehnten des Bestehens dieses Gefängnisses erhebliche Veränderungen. Gleichzeitig waren die Häftlinge, die Gründe für ihre Inhaftierung und die Behandlung, die sie erfuhren, nicht vergleichbar. Die Chronologie, die in der Gedenkstätte präsentiert wird, ist recht undeutlich, und so fehlt die erforderliche Einordnung in den Kontext. In Verbindung mit der Entscheidung des Kuratoriums, ehemalige Häftlinge durch die Ausstellung führen zu lassen, kann dies zu einer einseitigen und selektiven Betrachtung verleiten.
Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin bietet einen sehr umfassenden Einblick in äußerst kontroverse und sensible Themen wie Zwangsmigration. Als multi-perspektivische und methodisch sehr gut organisierte Ausstellung mit inklusivem Zugang für Besucher:innen unterschiedlicher Generationen werden komplexe Fragen über Identität und nationale Rollen in der Vergangenheit erörtert und es wird versucht, sämtliche Identitäten der Deutschen zu „versöhnen“. Die intensive Bemühung, dieses Thema so weit wie möglich abzudecken, ist zwar spürbar, doch mit dem Ziel, alle Aspekte der Zwangsvertreibung in ihrer Gesamtheit zu behandeln, haben es die Kreator:innen der Ausstellung versäumt, die ausgestellten Beispiele in einen breiteren Kontext zu stellen. Es ist zwar beeindruckend, dass dieses komplexe Phänomen auf so verständliche Weise erklärt wird, aus historischer Perspektive betrachtet fehlen jedoch ein paar entscheidende Erklärungen zu den Ursachen, die die Wahrnehmung vollkommen verändern.
Bei den Besuchen aller drei Einrichtungen kam es zu sehr konstruktiven und offenen Gesprächen, und die Bereitschaft der Kurator:innen, ihre eigenen Konzepte zu überdenken und zu reflektieren, war spürbar.
Kampf mit dem „Kleinen Kolonialismus“ - öffentliche Geschichte im postjugoslawischen Raum
Zum anderen ist das Konzept des „Kleinen Kolonialismus“ in den performativen Praktiken der politischen Eliten in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens präsent. Dies wurde von dem bulgarischen Philosophen Stanimir Panayotov als ideologische Position einer Gruppe definiert, die einst eine Vormachtstellung gegenüber einer anderen Gruppe besaß. Nun kann sie die aktuelle Emanzipation der zuvor beherrschten Gruppe nicht verstehen, sodass das verlorene Machtverhältnis in den historischen Strukturen der Vergangenheit aufs Neue inszeniert wird.[5] Von Skopje bis nach Belgrad und im gesamten Raum werden Denkmäler und Gedenkstätten errichtet, um entweder die glorreiche Vergangenheit der Dominanz zu feiern oder um an die eigene Opferrolle zu erinnern. Allerdings wehren sich gewisse nichtstaatliche Institutionen und Organisationen gegen diese Art von Gedenkpolitik.
Nach dem Besuch diverser Gedenkstätten in Berlin präsentierten einige der Teilnehmenden aus dem Balkan im Verlauf der Studienreise ihre Werke und zeigten dabei durchaus differenzierte Stimmen und innovative Sichtweisen. Beispielsweise kombiniert das Zentrum für öffentliche Geschichte (CPH - Centre for Public History) in Belgrad wissenschaftliche Forschung mit Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, um Geschichte zum Nutzen der Gesellschaft anzuwenden, kritisches Denken über historische Vorgänge anzuregen und eine Friedenskultur zu entwickeln. Im Mittelpunkt stehen Holocaust und Völkermord (Tötungsorte, Antisemitismus und Antiziganismus, Gedenkveranstaltungen) sowie die Gedenkkultur (der Zweite Weltkrieg und der Antifaschismus, Jugoslawien und der Sozialismus als Erblast, der Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens, der Widerstand gegen den Krieg) (https://www.cpi.rs/en/). Die Wissenschaftler:innen, die für das CPH aktiv sind, können heute als die wahren Aktivist:innen für öffentliche Geschichte bezeichnet werden.
Darüber hinaus gab es eine Präsentation des Museums der Kriegskindheit von Sarajewo. Diese unabhängige, von jungen Menschen geleitete Einrichtung ist das einzige Museum, das sich ausschließlich mit dem Thema der Auswirkung von Krieg auf Kindheiten beschäftigt. Hier wird eine Perspektive aufgezeigt, die keine nationalen Grenzen kennt und die Vision von gegenseitigem Verstehen auf kollektiver Ebene hat, um zu persönlicher und sozialer Entwicklung beizutragen (https://warchildhood.org/).
Das Museum der 1990er Jahre
Zu guter Letzt wurde über eine neue Initiative, die aus Belgrad kommt und darauf abzielt, dort ein Museum der 1990er Jahre einzurichten, gesprochen. Da dieses Jahrzehnt nicht nur durch die politische und ideologische Auflösung des sozialistischen Jugoslawiens, sondern auch durch einen tiefgreifenden Umbruch des gesamten Wertesystems der Nachfolgestaaten gekennzeichnet ist, zielt die Initiative darauf ab, einen gänzlich perspektivenreichen und grenzenlosen Überblick über diese Zeit zu bieten. Durch die Schaffung einer Plattform, auf der alle möglichen Quellen in Bezug auf die unterschiedlichen Akteure, Ereignisse und Phänomene, die für das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts maßgeblich waren, zu finden sind, sollen eine Datenbank für künftige Wissenschaftler:innen aufgebaut und pädagogische Tools entwickelt werden, mit denen ein derart kontroverses und sensibles Thema auf unvoreingenommene Weise gelehrt werden kann.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Studienreise nach Berlin zählt, dass öffentliche und offene Gespräche über die Vergangenheit und das Gedenken für das zukünftige Gemeinwohl wesentlich sind. In der Gesellschaft ist Geschichte bereits durch historische Konventionen, kulturelle Traditionen sowie gesellschaftlich vorgegebene Antworten präsent und lebendig, sie prägt Denkweisen und schafft Bürger:innen. Darum ist es vielleicht an der Zeit, öffentlicher Geschichte eine Chance zu geben...
[1] I. Hadjievska, „The Trouble with National History: the case of North Macedonia’s EU accession“, Analysis, Eastern Europe, Politics, 4.
[2] Ibid, 188.
[3] M. Albvaks, Društveni okviri pamćenja, Mediterran publishing, Novi Sad 2013.
[4] A. Asman, Duga senka prošlosti. Kultura sećanja i politika povesti, Biblioteka XX vek, Belgrade 2011, 44.
[5] O. Manojlović Pintar, „On Public/Applied History”, Tokovi istorije 3/2018, 173-176.
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