13. Europäisches Geschichtsforum: Gedenken in disruptiven Zeiten

Veranstaltungsbericht

Wie wird in den Ländern Süd-und Osteuropas an das Schicksalsjahr 1945 erinnert? Kann dieser Jahrestag als Momentum für die Einigkeit des Kontinents fungieren? Oder treten mit den aktuellen geopolitischen Verwerfungen auch in der Erinnerungskultur neue Gräben auf? 

Um Antworten auf diese Fragenkomplexe zu finden, richtete die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zum 13. Mal ihr Europäisches Geschichtsforum (19.-20. Mai 2025) aus, mit dem Titel „80 Jahre Narrative über das Ende des Zweiten Weltkrieges“.

Mehrere Personen sitzen in einem Raum mit Stuhlkreis. Eine Person spricht ins Mikrofon. Im Hintergrund zeigt eine Leinwand Bilder mit dem Titel „Jasenovac and Bleiburg“.

Der Diskurs über das Kriegsende sei „relevanter denn je“ unterstrich der Vorstand der Heinrich Böll Stiftung, Jan Philipp Albrecht, in seiner Grußbotschaft. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine werde auch gegen die EU geführt und gerade jene Regionen, die bereits im Zweiten Weltkrieg massiver Zerstörung und Verbrechen ausgesetzt waren, erlebten neuerlich extreme Gewalt. Gleichzeitig schwinde der Konsens über die Erinnerung an den Weltkrieg, so Albrecht. Umso wichtiger sei eine kritische und verantwortungsvolle Kultur des Gedenkens - Werte, denen sich das Geschichtsforum seit seiner Gründung 2011 verpflichtet fühle.

Dass das Gedenken an das Ende des Weltkrieges mitunter starkem Wandel unterworfen ist, rückte das Eröffnungsgespräch in den Fokus: Walter Kaufmann, Leiter der Osteuropa-Abteilung der Stiftung, erinnerte in diesem Zusammenhang an die historische Rede des damaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der 1985 zum Gedenken an das Kriegsende betont hatte, dass trotz des vielfachen persönlichen Leids, das die Deutschen individuell erlebt hatten, der 8. Mai vor allem ein „Tag der Befreiung“ sei. Weizsäckers Rede, so Kaufmann, habe für die deutsche aber auch für die europäische Gedenkkultur einen wichtigen Meilenstein gesetzt, der für Dekaden Gültigkeit hatte - die aber wegen der aktuellen Entwicklungen nicht mehr vorausgesetzt werden könne. Kaufmann betonte, dass Heinrich Böll die Rede Weizäckers überaus ernst genommen habe. In der Folge habe sich der Schriftsteller dafür eingesetzt, dass Weizsäckers Beitrag zur Deutung des Kriegsendes auch in deutschen Schulbüchern thematisiert werden sollte.

Ukraine und das Gedenken - im Schatten des neuen Krieges

Wie aber hat die aktuelle Aggression in Europa das Gedenken an das Ende des Weltkriegs in der Ukraine beeinflusst? Darauf gab Yaroslav Hrytsak von der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw Auskunft: In der Ukraine sei dem Tag des Kriegsendes wenig gedacht worden. „Unser Gedächtnis wird dominiert von dem anderen Krieg.“ Jeden Tag um 9 Uhr morgens stehe das Land still, der Verkehr, alle Tätigkeiten kämen für eine Gedenk-Minute zum Erliegen. Andererseits, führte Hrytsak aus, sei der Tag des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg vom 9. Mai auf den 8. Mai verschoben worden. Der 9. Mai sei der sowjetische Gedenktag, die Ukraine habe sich bewusst für den 8. Mai als Gedenktag entschieden – ein symbolischer Akt, um zu unterstreichen, dass sich das Land dem europäischen Gedächtnis-Raum zugehörig fühle.

Der Angriffskrieg auf sein Land, so Hrytsak, sei eine „Zeitenwende“, ein Wendepunkt. Aus der Nachkriegszeit sei man neuerlich in eine Kriegsperiode eingetreten. Hrytsak verwies in diesem Zusammenhang auf die „Monopolisierung“ des Gedenkens durch Russland. Putin hatte am 9. Mai mit einer groß angelegten Militärparade an den Tag des Sieges gedacht. Diesmal aber, so Hrytsak, sei der Fokus des Gedenkens ein anderer als in früheren Jahren: Während früher der Kampf gegen die Nazis im Vordergrund stand, dominiere nunmehr das Narrativ des Kampfes gegen den Westen - die Ukraine werde als Teil dieses Kosmos gesehen. Seite an Seite mit Putin hatte der chinesische Machthaber Xi sowie Brasilien als Vertreter der BRICS-Gruppe gestanden. Eine neue „Konfiguration“ habe sich herausgebildet, konstatiert Hrytsak. Vor diesem Hintergrund sei für die Ukraine die Sicherheits-Frage am bedeutendsten: „Das ist unser wichtigstes Anliegen.“

Professor Claudia Weber von der Europäischen Universität Viadrina unterstrich ebenfalls die Veränderungen in der Perzeption des Kriegsendes. Der diesjährige Jahrestag sei durch seine Besonderheit charakterisiert. Durch die aktuelle Kriegssituation seien die Europäer daran erinnert worden, „was Krieg bedeutet“. Weber: Es bedeutet „Tod, Horror, Gewalt.“

Die Gedenkkultur sei in den letzten Jahren etwas stereotyp geworden, nun seien aufgrund des russischen Angriffskrieges viele neue Fragen aufgeworfen worden: Wie soll man mit Russland umgehen? Wie mit der Geschichte der Sowjetunion? Wie geht man mit der Rolle der Ukraine um? Weber appellierte in diesem Kontext eindringlich, mit stärkerem Selbstbewusstsein die Komplexität von Kriegs-Geschichte zu diskutieren. Dies sei der beste Weg, um sich Propaganda entgegen zu stellen. Putin etwa nutze die Glorifizierung des Zweiten Weltkrieges und die von Kriegs-Helden wie zum Beispiel Stalin. So sei im besetzen ukrainischen Mariupol eine neue Stalin-Statue errichtet worden. Weber: „Warum ist unsere Antwort darauf nicht: Es gibt gar keine Helden!“ Morgens ein Held und am Nachmittag ein Täter - „das ist es, was Krieg ausmacht“, so Weber.

Erinnerung an antifaschistischen Widerstand – gegen Widerstände

Was war die Rolle des Widerstands zu Zeiten der Nazi-Okkupation in den Ländern Ost- und Südosteuropas? Und wie wird diesem antifaschistischen Widerstand heute gedacht?

In einem Panel wurden hier im europäischen Diskurs bislang kaum diskutierte Aspekte erhellt: Die Leiterin des Historischen Museums in Sarajevo, Elma Hašimbegović, erinnerte daran, dass auf dem Territorium Bosnien und Herzegowinas entscheidende Kämpfe gegen die Faschisten stattgefunden hätten. Dazu zählt unter anderen die Schlacht in Sutjeska, die eine entscheidende Wende im Kampf der jugoslawischen Partisanen unter der Leitung von Josef Broz Tito brachte.

Das Museum in Sarajevo wurde nur wenige Monate nach der Kapitulation gegründet, im November 1945, mit dem Ziel, die Bildung einer neuen (sozialistischen) Gesellschaft zu begleiten. Seither befasst sich das Museum mit der Erinnerungsarbeit. Nach dem Zerfall Jugoslawiens und den in diesem Kontext stattfindenden Nachfolgekriegen, vor allem dem Bosnienkrieg (1992-1995), sei das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, vor allem aber das Gedenken an den Widerstand jedoch aus dem öffentlichen Raum verbannt worden, beklagte Museumsleiterin Hašimbegović. Die Erinnerung an den Sieg über den Faschismus sei nicht gewünscht. Zwar sei das Museum keinen offenen Repressalien ausgesetzt, aber man „macht uns mundtot, indem man uns nicht finanziert“. Die Erinnerung an „gemeinsames Erbe, gemeinsame Werte und eine gemeinsame Geschichte“ sei damit erschwert, man versuche jedoch, aus der lokalen und toxisch aufgeladenen nationalistischen Politik herauszutreten und die Perspektive des jugoslawischen Widerstands, der unterschiedliche ethnische Gruppen vereint habe, darzustellen. Hierzu gibt es aktuell diese Ausstellung im Sarajewoer Historischen Museum sowie das Buch Wer ist Walter? International Perspectives on Resistance in Europe during World War II. 

Andi Pinari von der Universität Tirana wies auf die vielschichtige Zusammensetzung der Widerstandsgruppen in Albanien hin. Hinsichtlich der Deutungen zum Krieg und zum Kriegsende, vor allem zum Aspekt der Kollaboration, gebe es bis heute starke Konflikte, selbst unter Historikern - man könne sich vorstellen, welche Uneinigkeit bei der Bewertung der historischen Ereignisse unter solchen Voraussetzungen in der Bevölkerung herrsche, so Pinari. Die stalinistisch geprägte sozialistische Diktatur unter Enver Hoxha und der Fall des Regimes prägen bis heute die Debatten: Während die Sozialistische Partei oft das antifaschistische Erbe der kommunistisch angeführten Nationalen Befreiungsfront Albaniens (LNÇ) und damit ihre Rolle in der Absicherung der Souveränität herausstellt, werden vom rechts-gerichteten Politikspektrum die Kontinuitäten der Widerständler und ihre Beteiligung im späteren totalitären System betont. Die Schlussfolgerung, so Pinari, dass alle, die im Krieg beteiligt waren, ein autoritäres Regime wollten, sei jedoch nicht zutreffend. Das Kriegskapitel und der Widerstand sei eigentlich etwas, worauf Albaner stolz sein könnten. Diese Facette fehle jedoch in der aktuellen albanischen Erinnerungskultur, konstatierte Pinari. Die Unentschlossenheit in der Erinnerung spiegele sich am Umgang mit Kriegsdenkmälern im Lande wider. Sie warteten darauf, dass „wir entscheiden, was wir mit ihnen machen“, unterstrich Pinari. 

Auch in Belarus gab es antifaschistischen Widerstand, führte Iryna Kashtalian von der Buchenwald-Gedenkstätte in Weimar aus und wies auf die komplexe Situation im Land hin -  mit sowjetischen Partisanengruppen auf der einen und widerstreitenden Gruppen auf der anderen Seite, die ebenfalls im Untergrund aktiv waren, sowjetischen Einfluss und Herrschaft jedoch ablehnten.

Wie in Bosnien und Albanien waren auch in Belarus die kommunistischen Partisanen nach Kriegsende die dominierende politische Kraft, die in der Folge eine kommunistische Diktatur aufsetzten. Das Gedenken an diese Periode belarussischer Geschichte, so Kashtalian, sei schwierig und nach wie vor Teil der politischen Auseinandersetzungen und Instrumentalisierungen im Land. In ihrem Artikel Strangers at Home: Memorialisation of the Armia Krajowa in Belarus ist von Kashtalian ausgeführt: Der belarusischen Regierung gehe es im Kern um die Wahrung der sowjetischen Ideale, öffentliche Diskussionen behandelten kaum jene Themen, die diesen Ansatz in Frage stellten, wie etwa die Verbrechen des kommunistischen Regimes an der belarussischen Gesellschaft.

Komplexes Erinnern: Geschichten und Mythen von Befreiung und Okkupation

Auch in einer nächsten Debattenrunde wurden die komplexen Schichten von Erinnerung im Kontext von Befreiung und Okkupation von 1945 bis heute diskutiert. Was bedeutet Erinnerung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und in Südosteuropa? Welche Tendenzen gibt es, die Weltkriegs-Erinnerung von ihrer sowjetischen Prägung zu befreien?

Hierzu gab Sergej Rumyantsev vom Zentrum für Unabhängige Sozialforschung in Berlin Auskunft: In Aserbaidschan sei der Tag des Kriegsendes eher zurückhaltend begangen worden. Vor allem Veteranen und ihre Familien besichtigen an diesem Tag die Monumente, dasselbe gelte auch für Georgien. Während in Russland viele Monumente zu Nationaldenkmälern wurden, gelte dies indes nicht für Aserbaidschan und Georgien. Das Gedenken an den Krieg sei hier im Laufe der Zeit regionalisiert und nationalisiert worden. Wer oder was habe welchen Beitrag zum Sieg geleistet - diese Frage sei zentral, so Rumyantsev: Im Falle Aserbaidschans sei es das Öl, für Georgien gelte Stalin als dominierende historische Figur. Der Wandel in der Erinnerungskultur werde vor allem im öffentlichen Raum sichtbar: Die in beiden Ländern vorhandenen Stalin-Statuen, etwa in Aserbaidschans Hauptstadt Baku oder im georgischen Gori, der Geburtsstadt Stalins, wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entfernt. Dass die Dekolonialisierung indes noch nicht vollendet sei, zeige die anhaltende Debatte in Aserbaischdan um den seitens der Öffentlichkeit geäußerten Wunsch, dass Baku von Russland den Titel einer Heldenstadt erhalten solle. Warum aber, fragte Rumyantsev, müsse Russland diesen Status an die Hauptstadt eines unabhängigen Staates verleihen? Die Debatte spiegele exemplarisch die nach wie vor mit Moskau verbundene Erinnerungskultur wider

Für die Ukraine hätten sich Änderungen in der Erinnerungskultur vor allem nach der Majdan-Revolution der Würde 2014 ergeben, skizzierte die ukrainische Historikerin Oksana Khomiak von der Kyiv-Molhyla Akademie und erinnerte an die geltenden Dekolonialisierungs-Gesetze. Der Prozess der Dekolonialisierung von sowjetischer Geschichtsdeutung werde an zwei Beispielen deutlich: Zum einen die Umbenennung des „Nationalmuseums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs“, das 2015 zum „Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg“ umbenannt wurde. Auch die Symboldarstellung wurde geändert: Das Sowjetemblem wurde durch den ukrainischen Trysub (Dreizack) ersetzt - dies sei gerade erst dieses Jahr erfolgt, begleitet von massiven Diskussionen, und zeige, wie lange ein derartiger Prozess dauere, konstatierte Khomiak. Zudem wies sie darauf hin, dass ein anderer zentraler Erinnerungsort ein neues Datum trage: Der Gedenkort trage nun nicht mehr 1941 sondern das Jahr 1939. Ein wichtiger symbolischer Akt, so Khomiak, um zu zeigen, dass die Sowjetunion ebenfalls für den Beginn des Zweiten Weltkrieges mitverantwortlich war - durch den Hitler-Stalin-Pakt und die darin vereinbarte Aufteilung Polens. Khomiak erinnerte zudem an die Darstellung des amerikanischen Historikers Timothy Snyder, der die Ukraine mit Polen und Belarus als „Bloodlands“ bezeichne, in denen Zivilisten extreme staatliche Gewalt sowohl durch die Nationalsozialisten als auch die Sowjets erlitten hätten.

Vjeran Pavlaković von der Universität Rijeka erläuterte zwei dominierende Erinnerungslinien in Kroatien: Der erste mit dem Zweiten Weltkrieg verbundene Erinnerungsort sei das ehemalige kroatische Konzentrations- und Vernichtungslager Jasenovac, das der faschistische unabhängige kroatische Staat (NDH, 1941-45) errichtet hatte. In Jasenovac wurden vor allem Serben, Roma und Juden und politisch Andersdenkende ermordet

Der zweite Erinnerungsort sei der österreichische Ort Bleiburg, in dem Partisanenverbände Truppen des faschistischen kroatischen Ustaša-States sowie Zivilisten umbrachten. Insgesamt gebe es mehrere überlappende Narrative und Erinnerungen, die auch den Krieg der 90er Jahre und die Frage des Umgangs mit dem kommunistischen Regime mit einbeziehen. Ein Beispiel: Bei Gedenkfeiern an den „Heimatkrieg“ der 1990er Jahre würden mitunter auch T-Shirts mit Bezügen zur faschistischen Ustaša-Bewegung verkauft.

Das jugoslawische Gedenken im Sinne von „Bruderschaft und Einheit“ und die transportierte Botschaft, dass sich Jugoslawien selber befreit habe - somit weder die Alliierten noch die Rote Armee den Sieg über die Faschisten errungen haben - spiele dagegen heute im kroatischen Gedenken eine immer geringere Rolle. Während in Kroatien somit ein „Moment der Nationalisierung“, weg von der jugoslawischen Erinnerungspolitik, erkennbar sei, erklärte Pavlaković, erfolge in Serbien unter Präsident Aleksandar Vučić eine Art von Re-Kolonialisierung, indem die Partisanenbewegung Titos gänzlich der Roten Armee zugeordnet würde. Dies sei jedoch eher als „politischer Schachzug“ zu deuten, wertete Pavlaković.

Mit Blick auf die Vereinnahmung des Gedenkens in Bleiburg durch reaktionäre Kräfte aus Kroatien, die hier ein Opfer-Narrativ aufbauen - ohne die historische Einbettung in die Tötungsmaschinerie des faschistischen Ustaša-Regimes vorzunehmen - unterstrich Pavlaković, dass Österreich die jährlichen Gedenkfeiern vor einigen Jahren untersagt habe. Die Folge sei, dass dieser Erinnerungsstrang allmählich zum Erliegen komme

Insgesamt verschwänden in der kroatischen Gesellschaft die Spaltungen in Bezug auf das Weltkriegsgedenken, führte Pavlaković aus. Des ehemaligen KZ Jasenovac werde seitens der kroatischen Regierung mit einem Fokus auf den Holocaust gedacht, die Verbrechen gegen Serben seien davon jedoch ausgenommen. In diesem Sinne gedenke Kroatien in einer „verwässerten Version“.

Bildungsprojekte zu 1945: Neue Darstellungsformen und Perspektiven

Wie lässt sich Geschichte rund um das historische Datum 1945 vermitteln, wie die Facetten, die Komplexität von Geschichtserleben abbilden? Zu diesem Arbeitsfeld wurden auf dem Geschichtsforum vier Projekte vorgestellt, die neue und anschauliche Darstellungsformen sowie interaktive Konzepte edukativer Geschichtsvermittlung vereinen:

  1. Die Online-Plattform dekoder.org verbreitet durch Medienbeiträge und Übersetzungen Expertise zu Russland und Belarus. Sie veröffentlichte 2024/25 auch eine Vielzahl an Texten und Dokumentationen über Perspektiven des Zweiten Weltkrieges, die bislang weitestgehend marginalisiert waren, so etwa die weibliche Sicht auf den Krieg. Die Doku „Der Krieg und seine Opfer“ eröffnet neue Einblicke in Interpretationen des Zweiten Weltkrieges und richte sich an ein junges Publikum, führte die Journalistin und Projektbeauftragte Peggy Lohse aus. Die Motivation zu dem Projekt sei die „enorme Unkenntnis“ über die Realitäten des Krieges auf dem Territorium der Sowjetunion gewesen, die von pro-russischer Propaganda im Kontext des aktuellen Angriffes auf die Ukraine genutzt worden sei, erläuterte Lohse.
  2. Das Copernico-Portal der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg macht mit einer Vielzahl von Textbeiträgen das Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem auch für ein nicht-akademisches Publikum anschaulich. Anne Kluger erklärte, dass es den Projekt-Verantwortlichen darum gehe, diese Texte nicht nur „über die Region“, sondern auch „mit der Region“ zu erarbeiten.
  3. In dem digitalen Erinnerungs-Projekt „Light of the Fireflies“ wurden Jugendliche aus Belgrad und Berlin eingebunden und jene Orte aufgesucht, an denen Opfer von Nazi-Verfolgung stattfanden, die ehemaligen Konzentrationslager Staro Sajmište und Topovske Šupe in Belgrad und das ehemalige Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Branka Pavlović von der NGO Free Zone Belgrad und Nikola Polić haben einen Film und eine App entwickelt, mit der User interaktiv die Gedächtnis-Orte besuchen können.
  4. Daria Reznyk und Anna Yatsenko aus Leipzig und Lwiw stellten zudem ihre Initiative „After Silence“ vor, die Interviews, Ausstellungen, Sommer-Camps und digitale Bildungsangebote beinhaltet. Im Fokus stehen die ukrainischen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und im aktuellen russischen Angriffskrieg. Einer der Schwerpunkte der Projektaktivitäten ist das Schicksal der ukrainischen Zwangsarbeiter - wie etwa die Geschichte der damals minderjähigen Hanna Pastuch, die von 1943-45 in Gelsenkirchen zur Arbeit gezwungen wurde.

Weibliche Perspektiven im Krieg und Widerstand

Wie haben sich weibliche Perspektiven und Erinnerungslinien Bahn gebrochen, wie waren sie in die Geschichtsdeutungen eingebunden? Hierzu wurden auf dem Geschichtsforum zwei Publikationen vom Balkan vorgestellt:

  1. Von der Ethnologin Jana Kocevska, die für die NGO Cinik in Nord-Mazedonien arbeitet, wurde die Publikationsreihe „Makedonka“ präsentiert - ein Organ der Antifaschistischen Front der Frauen (AFZ), das von 1944-1952 publiziert wurde. Hier schrieben weibliche Autorinnen und brachten ihre Perspektiven in den Diskurs ein, Referenzpunkte waren ihre Rollen als Mutter, Hausfrau und Arbeiterin. Sexuelle reproduktive Rechte seien auf das Muttersein beschränkt gewesen, so Kocevska. Eines der Hauptziele der AFZ war es, Bildungsangebote für Frauen zu schaffen. Feminismus sei dagegen als bourgeois charakterisiert worden, als Import aus dem Westen, unterstrich Kocevksa. Das Anliegen der NGO Cinik ist es, das Magazin als Beispiel für eine feministische publizistische Plattform zu digitalisieren und dazu beizutragen, diese Leser*innen auch außerhalb des ehemaligen jugoslawischen Kontextes zugänglich zu machen.
  2. In Albanien existierte seit 1943 das Frauenmagazin „Shqiptarija e Re“ (Die neuen albanischen Frauen), das bis 1991 herausgegeben wurde. Anders als im Rest der Balkanstaaten wurden Frauen hier nicht in ihrer Weiblichkeit dargestellt, vielmehr dominierten maskuline Darstellungsformen. Zudem erlebte das Blatt einen ideologischen Wechsel: In der Phase, in der Albanien zunächst den Schulterschluss mit der Sowjetunion übte, seien in der Publikation sowjetische Kämpferinnen präsentiert worden, später orientierte sich das kommunistische Regime an China, in der Folge sei der Fokus publizistisch auf die Kulturrevolution gelegt worden, erläuterte die Soziologin Ermira Danaj von der American Graduate School of Paris. Dies habe sich auch in der Optik des Magazins niedergeschlagen: Erdfarben überwogen, zudem waren die Motive der Kulturrevolution - Frauen auf dem Land - prägend. Danaj betonte, dass auch in dieser Phase den Frauen die Moral der Männer aufgedrückt worden sei, eine Emanzipation habe es nicht gegeben. Am Beispiel der bekannten albanischen Schriftstellerin und Autorin Musine Kokalari, die die antifaschistische Bewegung unterstützt hatte, wurde deutlich, wie unbarmherzig das kommunistische Regime in Albanien später mit jenen antifaschistischen Kräften umging, wenn diese eine andere gesellschaftliche Vision vertraten. Kokalari hatte sich bei den Alliierten für freie Wahlen eingesetzt - dieses Unterfangen wurde jedoch abgelehnt. Nachdem die Kommunistische Partei mit mehr als 93 Prozent der Stimmen gewann, konnte Enver Hoxha seine Macht absichern. Kokalari, die die patriarchalischen Züge der albanischen Gesellschaft kritisiert hatte, wurde als „Feindin des Volkes“ zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Rückkehr und ihre Folgen: Soldaten, Flüchtlinge und Kriegsgefangene

Mit einer weiteren Facette der Erinnerung befassen sich zwei Projekte aus Armenien und dem früheren Jugoslawien: Dieser Themenschwerpunkt beleuchtete das Ende des Krieges aus der Perspektive von Soldaten, Flüchtlingen und hunderttausenden Kriegsgefangenen. Welche Nachwehen brachte das Kriegsende für diese Gruppen mit sich?

In diesem Zusammenhang stellte die armenische Filmemacherin Seda Grigoryan ihre Dokumentation „Home soon“ vor: Ein Film über Kriegsgefangene, die zu Tausenden nach dem Krieg in das sowjetische Armenien verbracht wurden. „Home soon“ erzählt die Geschichte von Anton Limmer und Konrad Lorenz, dem Tierforscher und späteren Nobelpreisträger. Im Film kommt Limmers Sohn Franz an den armenischen Ort Tumanyan zurück, in dem sein Vater unter widrigsten Bedingungen schwere körperliche Arbeit verrichten musste. Der Film behandelt die universellen Narben, die Kriege hinterlassen, Verwerfungen, Traumata. Grigoryans Dokumentation „Home soon“ will dabei Verständnis und Empathie schaffen, die verschiedenen Schichten von Geschichte und Erinnerung offenlegen. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Aspekt deutlich, der auf dem Geschichtsforum immer wieder als Baustein eines größeren Erinnerungsmosaiks diskutiert wurde: Dass Verbrecher und Soldaten auch zu Opfern werden können.

Korab Krasniqi von der NGO Pro Peace in Pristina stellte das Buchprojekt „Widerstand -  Frauen von Frieden und Gerechtigkeit im ehemaligen Jugoslawien und Albanien“ vor: Es beleuchtet die Lebensläufe von elf Frauen, die eine bedeutende Rolle im Widerstand gegen die Gewalt der 1990er Jahre spielten und sich bis heute für die Erlangung von Gerechtigkeit und Aussöhnung einsetzen, unter ihnen Vesna Teršelić (Kroatien), die 1998 den alternativen Friedensnobelpreis erhielt. Sonja Biserko vom Helsinki Komitee in Belgrad war aufgrund ihrer Arbeit zur Aufarbeitung von serbischen Kriegsverbrechen immer wieder öffentlichen Diffamierungen und Drohungen ausgesetzt. Stanislava Staza Zajović etablierte mit der Organisation „Frauen in Schwarz“ eine starke Stimme in der Region gegen den mordenden Ethnonationalismus. Zu den Porträtierten gehört auch Ajna Jusić, die als Tochter einer Kriegsvergewaltigten die Gesetzgebung in Bosnien und Herzegowina zugunsten von Überlebenden sexualisierter Gewalt beeinflusst sowie die kosovarische Ärztin und Menschenrechtlerin Feride Rushiti, die die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen fordert, um eine Zukunft zu bilden in der „alle Stimmen gehört“ werden. In den Lebensläufen und Familien dieser Frauen finden sich Kontinuitäten von Kriegserlebnissen. Alle diese Frauen hätten Herausforderungen, Leid und Mut durchlebt und bewiesen, dass Justiz und Frieden nicht nur abstrakte Ideale seien, heißt es im Vorwort des Buches, das Krasniqi vorstellte. Mit Blick auf die Familiengeschichten der Frauen wird deutlich, dass traumatische Erlebnisse trotz gesellschaftlicher und politischer Widerstände zur Ausbildung einer Erinnerungskultur und letztlich zu einer eigenen Form des Widerstands führen können, der als Baustein von gesellschaftlicher Resilienz gewertet werden kann.

In einem dritten Workshop zeigte Nare Sahakyan vom Johannissyan Institute in Jerevan anhand einer zeitgenössischen Darstellung auf, wie das sowjetische Regime unter Stalin Einfluss auf die Kunst - und damit das Gedenken an den Weltkrieg - nahm: Eine Heldendarstellung mit religiösen und armenischen Bezügen wurden vom Künstler nach massiver Kritik verändert - ein anschauliches Beispiel für politisch-erzwungene Erinnerungsdominanzen in der Kunst. Eva Yakubovska, vom Pilecki-Institut Berlin, analysierte zudem drei sowjetische Gedenkstätten in Berlin (Tiergarten, Treptower Park und Pankow) und skizzierte die unterschiedlichen Interpretationslinien, die vom Geist der Koalition gegen Hitler-Deutschland über den sowjetischen Heroismus bis hin zu einer russischen Dominanz des Gedenkens seit den 1990er Jahren reichen. Heute seien die russischen Narrative prägend - und das, obwohl etwa im Treptower Park ein Viertel der Begrabenen Ukrainer seien. Für die Gedenkkultur, so wurde diskutiert, stelle sich daher die Frage: „Wie soll man mit diesen Komplexitäten in Zukunft umgehen?“

Schaffung von Gerechtigkeit

Zurück zum Ende des Zweiten Weltkrieges: Wann begann der Versuch, den Holocaust und die anderen begangenen Kriegsverbrechen zu ahnden? Wer war beteiligt, wer trieb die rechtliche Aufarbeitung voran? Diese grundlegenden Fragen zu einem breiten und neuerlich aktuellen Themenfeld wurden zunächst am Beispiel der ehemals okkupierten Länder erörtert: Dominika Uczkiewicz vom Pilecki-Institut in Warschau skizzierte, dass die Nürnberger Prozesse gegen führende Repräsentanten des NS-Staates eine geradezu ikonische Bedeutung einnahmen, mit der das Narrativ der Schaffung von Gerechtigkeit verbunden war. Die Prozesse seien ein bedeutender Meilenstein für die Fortentwicklung des Völkerrechts gewesen. Uczkiewicz erinnerte jedoch an die dominante West-zentrierte Perspektive bei der Entstehung der Nürnberg-Prozesse. Unterzeichnerstaaten der Nürnberg-Charta (Londoner Statut) waren die Alliierten. Die okkupierten Länder seien nicht involviert gewesen, hätten jedoch durch ihre vernetzte Arbeit im Bereich konzeptioneller Ansätze, Dokumentation der Verbrechen und der Sicherstellung der Beweise einen wertvollen Beitrag geleistet, erläuterte Uczkiewicz. Mit der Einrichtung der UN-Kriegsverbrecher-Kommission (20. Oktober 1943) sei bereits vor Kriegsende ein Organ zur Strafverfolgung und Sicherung von Beweisen geschaffen worden. In den besetzten Ländern hätten Widerstandskämpfer konkrete Fälle gesammelt, ihr Beitrag sei für die Nachkriegs-Tribunale von besonderer Bedeutung gewesen: Bereits bei Kriegsende 1945 seien Tausende von Namen von Nazi-Verbrechern dokumentiert, mehr als 8000 Fälle aktenkundig gewesen, so Uczkiewicz. Die Kooperation unter dem Schirm der Kriegsverbrecherkommission zur Verfolgung der Nazi-Verbrechen sei trotz der eskalierenden Polarisierung zwischen Ost und West weitergeführt worden.

Sabina Ferhadbegović, Historikerin vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz, fokussierte sich in ihrem Vortrag auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen durch das sozialistische Jugoslawien. Das Land habe eine „frühe und extensive Arbeit“ bei der Verfolgung von Holocaust-Verbrechen vorangetrieben. Vor allem die Überlebenden hätten in diesem Kontext eine aktive Rolle gespielt - sie wurden in diesem Sinne zu „Aktivisten und Bildungsträgern“. Ihr Überleben habe durch diesen Beitrag im Kontext der juristischen Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen eine weitere Facette erhalten: die des Widerstandes gegen die Täter. Insgesamt habe die Strafverfolgung zwei Ziele verfolgt: Einerseits Bestrafung, andererseits die Legitimierung der Nachkriegsordnung, in diesem Falle des sozialistischen Systems unter Tito. Es habe insofern eine selektive Justiz gegeben, urteilte Ferhadbegović und führte aus, dass die Verbrechen der Partisanen mit Bedacht nicht verfolgt worden seien.

Am Beispiel des Konzentrationslagers Sachsenhausen machte Janine Fubel von der Fern-Uni Hagen deutlich, dass die Alliierten - trotz der zunehmenden Spaltungen in Ost und West - bei der Verfolgung der Täter eng kooperierten, sei es durch die Weitergabe von Dokumenten oder den Austausch von Zeugen und Überlebenden. Der letzte Sachsenhausen-Kommandant, Anton Kaindl, war zunächst in britischem Gewahrsam, wurde in den Nürnberg-Prozessen als Zeuge vernommen und später an die sowjetische Besatzungsmacht ausgeliefert, wo er von einem Militärtribunal zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Fubel führte aus, dass Zeugen aus Israel sogar in die DDR gereist seien, um ihre Aussagen zu machen.

Bei der Aufarbeitung der Verbrechen rund um Sachsenhausen habe vor allem auch die sogenannte „Evakuierung“ des Todescamps eine Rolle gespielt - de facto handelte es sich um einen Todesmarsch, bei dem Tausende Inhaftierte starben. Bei der Aufarbeitung der Verbrechen hätten die Alliierten aber verschiedene Schwerpunkte gesetzt, betonte Fubel: Während Frankreich begann, die Räumung samt ihrer Folgen für die Inhaftierten zu rekonstruieren, rückte die Sowjetunion die Verbrechen im Camp selber in den Fokus.

Die Todesmärsche, erinnerte Fubel, seien bis heute kaum erforscht, wohl auch, weil diese Verbrechen nahe an die deutsche Gesellschaft rückten, die Zeugen dieser grausamen Märsche wurden. In diesem Kontext ginge es um die direkte Beteiligung der Deutschen. Mit Blick auf die Aufarbeitung konstatierte Fubel: „Hier gibt es noch viel zu tun!“

Zusammenfassung

In den Schlussbeiträgen wurde vielfach auf die Bedeutung der Komplexität von Geschichte und Erinnerungskultur hingewiesen. Der Spannungsbogen von Widerstand, Heldentum und Kollaboration war dabei ein immer wiederkehrendes Leitmotiv der Debattenbeiträge, ebenso wie die komplexen Schattierungen von Biographien, die nicht in ein Schwarz-Weiß-Muster passen: Vormalige Täter können mitunter zu Opfern werden. Diese Widersprüche müssten in der Geschichtsbetrachtung einen Raum finden, hieß es.

Zudem: Komplexität sei auch eine Folge von Propaganda und Politisierung der Erinnerung des Zweiten Weltkrieges. Dabei sei es wichtig zu ergründen, woher die Bilder stammten, die die entsprechenden Erinnerungs-Narrative prägten. Es wurde zudem darauf hingewiesen, dass einseitiges Gedenken zu neuer Aggression führen könne. Daher sei es wichtig, einen intersektionalen Zugang in der Erinnerungskultur zu schaffen und auch jene gesellschaftlichen und ethnischen Gruppen zu berücksichtigen, deren Perspektiven nicht sichtbar seien, so lautete einer der Schluss-Appelle.

In vielerlei Hinsicht waren die Debatten auf dem Geschichtsforum von dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geprägt - das Gedenken an das Kriegsende 1945 erhält mit den aktuellen Verbrechen weitere Deutungs-Nuancen. Etlichen Teilnehmer*innen war es daher ein Anliegen, die Notwendigkeit von anschaulicher und zeitgemäßer Geschichtsbildung hervorzuheben, mit dem Ziel „Lerneffekte für die Gegenwart“ anzuschieben und neue Kriegsverbrechen zu verhindern.

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