Großgrundbesitz: Wem gehört das Land in Brasilien?

Analyse

Wären die Flächen der Großgrundbesitzer Brasiliens ein Land, wäre es mit 2,3 Mio. km² das zwölftgrößte der Erde und größer als Saudi-Arabien.

Blick in die Landschaft
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In Brasilien unterliegen 53 Prozent der nationalen Flächen einer privaten Nutzung.

Der Lauf der Geschichte und der kolonialen Geopolitik vermachten Lateinamerika die weltweit ungerechteste Aufteilung von Land: 51,19% der landwirtschaftlichen Flächen sind in den Händen von nur 1% Eigentümer, so eine Erhebung von Oxfam. Wenn es um den ungleichen Zugang zu Land geht, nimmt Brasilien weltweit die fünfte Stelle ein. 45% der Produktionsflächen sind auf Grundstücken, die größer als 1000 ha sind, die aber gleichzeitig nur 0,91% der ländlichen Immobilien ausmachen.

Ihren Ursprung findet die Konzentration des Landbesitzes in Brasilien im Landgesetz (Lei de Terras), das 1850 von Kaiser Dom Pedro II verabschiedet wurde. Es sollte es unmöglich machen, sich Land auf der Grundlage von Besetzung (posse) und Nießbrauch (usofruto) anzueignen. Von da an wurde nur noch Eigentum anerkannt, das entweder dem Staat (ungenutztes öffentliches Land) [A.d.Ü.: sogenannte „terras devolutas da União”. Dabei handelt es sich um Land, was Eigentum des Staates ist, von ihm aber nicht genutzt wird] oder Dritten abgekauft wurde. Die Einführung des Gesetzes diente zu diesem Zeitpunkt auch dazu, der schwarzen Bevölkerung das Recht auf Landbesitz zu verwehren, denn die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei wurde immer stärker und selbst die Großgrundbesitzer erkannten, dass sie nicht mehr zu verhindern war. Sie konnten das offizielle Ende der Sklaverei aber dennoch um weitere 38 Jahre herauszögern. Durch das Landgesetz entwickelte sich die Bezeichnung der „Posseiros" [A.d.Ü.: Personen, die Land besetzten und selbst nutzten], die aber nun im Zuge der Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten Grenzen vertrieben wurden.

Formen der Aneignung des Landes und seine Nutzung

Die weiten Flächen an ungenutztem öffentlichem Land (10,9% der landwirtschaftlichen Fläche Brasiliens), insbesondere im Norden des Landes, begünstigten den Landraub und die Fälschung von Landeigentumstiteln mit dem Ziel der unrechtmäßigen Aneignung. Das Ausmaß der unrechtmäßig registrierten Landtitel und ihrer Überlappung mit rechtmäßigen Titeln wird im brasilianischen Landatlas von 2015 deutlich: Es wurden 38 Mio. ha Land mehr registriert, als Brasilien an Fläche hat.

In Brasilien unterliegen 453 Mio. ha, also 53% der nationalen Flächen, einer privaten Nutzung. Der Atlas der brasilianischen Land- und Viehwirtschaft, ein gemeinsames Projekt der Imaflora und des GeoLab der landwirtschaftlichen Hochschule Esalq/USP, besagt, dass 28% des privaten Landbesitzes eine Größe von 15 Fiskalmodulen [A.d.Ü.: Maßeinheit in Hektar, deren Größe vom brasilianischen Institut für Besiedlung und Landreform INCRA festgelegt wird. Ländliches Eigentum von unter einem Fiskalmodul gilt als klein, von über 15 Fiskalmodulen als groß] überschreiten. Würde der brasilianische Großgrundbesitz mit seinen 2,3 Mio. ha ein eigenes Land bilden, wäre es das Land mit der zwölftgrößten Fläche weltweit. Allein mit den nicht produktiv genutzten Flächen Brasiliens wäre es möglich, ein weiteres Land von kontinentalen Ausmaßen zu bilden: die 66.000 zu „großen nicht produktiv genutzten Grundstücken“ erklärten Flächen entsprachen 2010 einer Fläche von 175,9 Mio. ha. Dieser Bestand an Land wäre ausreichend, um den Forderungen einer Agrarreform nachzukommen und den 809.811 landlosen Landarbeitern und Landarbeiterinnen Eigentumstitel zuzusprechen.

In 16 der 26 brasilianischen Bundesstaaten und dem 27. Bundesdistrikt sind mehr als 80% des Bodens in Privatbesitz. Der Fall von Mato Grosso do Sul ist hierfür ein anschauliches Beispiel: 92,1% der Flächen sind in privater Hand und der Bundesstaat weist den höchsten Anteil von Großgrundbesitz (83%) auf. Die Konzentration von Land auf große Eigentümer ist ein charakteristisches Merkmal der Region des Mittelwestens des Landes [A.d.R. Centro-Oeste: Bundesstaaten Mato Grosso, Mato Grosso do Sul und Goiás], wo die durchschnittliche Größe einer Immobilie auf dem Land 339 ha entspricht, während der nationale Durchschnitt bei 79 ha liegt.

Auswirkungen von unternehmerischen Landbesitz

Obwohl der „coronelismo“ [A. d. Ü.: Prinzip aus der Kolonialzeit, was die wirtschaftliche Macht der Großgrundbesitzer und die Abhängigkeit der Arbeiter als Grundlage für die politische Herrschaft ausnutzte] in mehreren Regionen des Landes weiterhin weit verbreitet ist, wurde der Prozess der Landbesetzung und -nutzung in Brasilien strukturierter und wird auch schrittweise an die globalen Wertschöpfungsketten geknüpft. Häufig steht er in Verbindung mit transnationalem Kapital. Ein großer Teil der brasilianischen Produktion von landwirtschaftlichen commodities wird von vertikal strukturierten Konglomeraten erzeugt, die den Prozess von der Aussaat bis zum Verkauf kontrollieren. SLC Agrícola (in Besitz von 404.000 ha Land in Brasilien), Grupo Golin/Tiba Agro (300.000 ha), Amaggi (252.000 ha), BrasilAgro (177.000 ha), Adecoagro (164.000 ha), Terra Santa (ehemals Vanguarda Agro, 156.000 ha), Grupo Bom Futuro (102.000 ha) und Odebrecht Agroindustrial (48.000 ha) sind einige der auf dem Markt für Landeigentum aktiven Unternehmen. Dabei geht es sowohl um die Produktion von commodities auf dem Land als auch um Spekulation mit dem Land. Diese Entwicklung zeigt sich im brasilianischen Cerrado besonders deutlich. Dort sind 178 Mio. ha als privater Landbesitz registriert und nur 7% der Fläche stehen unter Schutz. Das Biom weist die bei weitem höchsten Entwaldungsraten in ganz Brasilien auf. Laut Daten des Umweltforschungsinstituts für Amazonien (IPAM) schritt der Verlust der natürlichen Vegetation im Cerrado zwischen 2000 und 2015 mit einer alarmierenden Geschwindigkeit voran und belief sich insgesamt auf 236.000 km². Im Vergleich verlor das doppelt so große Amazonien im selben Zeitraum insgesamt 208.000 km² Regenwald. Es wird geschätzt, dass 52% der Flächen des Cerrado bereits degradiert sind oder einen unumkehrbaren Verlust erlitten haben.

Der Hauptfaktor für Landnutzungsänderungen [A.d.R. land use change] ist die industrielle Land- und Viehwirtschaft. Zwischen 2000 und 2016 stieg, laut Daten der Plattform MapBiomas, der Anbau von Getreide bzw. Hülsenfrüchten (wie Soja, Mais und Hirse) von 7,4 Mio. auf 20,5 Mio. ha an. Das entspricht zweimal der Größe Portugals. Auch der Anbau von Zuckerrohr verzeichnete einen sprunghaften Anstieg von 926.000 auf 2,7 Mio. ha. Die Viehwirtschaft bewahrte ihre unangefochtene Herrschaftsposition über den Cerrado und wuchs von 76 Mio. auf 90 Mio. ha. Diese Weideflächen entsprechen der Größe von Venezuela.

Große Teile der landwirtschaftlichen Flächen wurden in der Matopiba-Region ausgeweitet. Das Gebiet ist etwa 400.000 km² groß und umfasst – [wie das Namenskürzel verrät] Teile der Bundesstaaten Maranhão, Tocantins, Piauí und Bahia. Es gilt als die große Agrarfront Brasiliens. Hier entstehen 45% der im Cerrado ausgestoßenen Treibhausgasemissionen. Nur 10% der Fläche der Matopiba-Region stehen unter Schutz. 57% der ländlichen Immobilien gehören Großgrundbesitzern. Der Kampf um möglichst billiges Land für die landwirtschaftliche Bewirtschaftung hat die Landkonflikte in der Region verstärkt: 2016 registrierte die brasilianische Landpastorale CPT 505 Konflikte in der Matopiba-Region, die 236.000 Menschen betrafen. Allein in Maranhão, dem Bundesstaat, der die traurige Spitzenposition der Liste einnahm, wurden 196 Konflikte in 75 Städten registriert, darunter 13 Morde.

In Bahia kam es 2017 aufgrund der Landkonflikte beinahe zu einem Volksaufstand. Die Bevölkerung von Correntina protestierte gegen die Entscheidung des Instituts für Umwelt und Wasserressourcen (Inema), der 2.539 ha großen Fazenda Igarashi das Recht zuzusprechen, 106 Mio. Liter Wasser pro Tag aus dem Fluss Rio Arrojado abzupumpen. Ein weiteres bedrohtes Biom ist die Caatinga. Dort sind die Daten noch eindeutiger, denn nicht weniger als 93,2% des Landes ist in Privatbesitz und nur 2% des Bioms sind als Schutzgebiet [A. d. R. Unidades de Conservação] ausgewiesen. Massive Investitionen in Bewässerungsprojekte und die damit einhergehende Umleitung des Flusses Rio São Francisco trugen zur Fragmentierung des Bioms bei und beschleunigten die Entstehung von Großgrundbesitz.

Die Rechnung ist einfach. Je weniger Land zur Verfügung steht, umso größer wird der Druck auf die restlichen Flächen. Noch bestehen Zweifel darüber, ob neue Mechanismen wie das ländliche Umweltkataster (CAR) dazu beitragen können, die Überprüfung von Unregelmäßigkeiten zu verbessern. Das brasilianische Modell der Land- und Viehwirtschaft bringt die Eigenschaft mit sich, Land und Kapital in den Händen weniger Eigentümer zu konzentrieren. Uns bleibt nichts als abzuwarten, ob die schwindenden Ländereien den Staat dazu bringen werden, die so sehr erwartete Agrarreform umzusetzen und den nicht bewirtschafteten Flächen eine bessere Nutzung zuzuteilen oder ob wir in den nächsten Jahrzehnten im ländlichen Raum Zeuge einer Explosion an Landkonflikten werden.


Übersetzung aus dem Portugiesischen: Kirsten Grunert

Der Originaltext erschien im Konzernatlas der Heinrich-Böll-Stiftung Brasilien (2018) und kann hier eingesehen werden. Der deutsche Text wurde von Julia Ziesche und Mareike Bödefeld gekürzt und redigiert.