Propaganda und Militarisierung: Der neue Alltag in Belarus und Russland

Analyse

Die Synchronisation der belarusischen und russischen Propaganda- und Repressionsmaschinerie hat beiden Gesellschaften ein ähnlich straffes Alltagskorsett verpasst. Die Vertreter:innen der belarusischen und russischen Zivilgesellschaften müssen nun Überlebensstrategien im In- und Ausland entwickeln, um den Kampf gegen die autoritären Regime und deren militantes Gedankengut nicht zu verlieren.

Proteste in Minsk
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Menschen protestieren 2020 in Minsk.

Die Massenproteste in Belarus 2020 überlebte Lukaschenkos autoritäres Regime zwar, verlor aber seine Legitimität im In- und Ausland. Die daraufhin eingesetzten Repressionen gegen Regimekritiker haben die Anzahl der politischen Gefangenen in Belarus auf 1.452 erhöht (Stand 30.12.2022)[1] und zum Zusammenbruch des Rechtssystems geführt. Auch die unmenschliche Behandlung der Gefangenen spricht für dieses Ergebnis. Noch vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine flohen zahlreiche Regimegegner:innen und Fachleute aus Belarus vor diesen Repressionen nach Polen, Litauen, der Ukraine, Georgien und anderen Ländern.

Die Hauptinstrumente der belarusischen repressiven Politik sind die exzessive Anwendung der strafrechtlichen Verfolgung mit verhängten Strafen von bis zu 20 Jahren und die Entlassung von nicht loyalen Angestellten und Beamt:innen in Behörden (einschließlich gesellschaftlich wichtigen Bereichen wie Bildungs- und Gesundheitswesen). Eine weitere gängige Praxis ist die administrative Haft für die Dauer von 15 Tagen. Dabei kann sie mehrmals hintereinander ohne jegliche Begründung verlängert werden.

Zur Umsetzung dieser Politik wurde die Gesetzgebung des Landes geändert bis hin zu Plänen zur Einführung der Todesstrafe für Beamte, die den Staat verraten“ haben. Diese Gesetzesänderungspläne beinhalten auch die Möglichkeit, Personen, die das Land verlassen haben, in Abwesenheit zu verurteilen, einschließlich der Aberkennung ihrer Staatsbürgerschaft. Parallel dazu ist seit 2020 ein Prozess im Gange, der auf die Zerschlagung der in den 1990er und 2010er Jahren aufgebauten zivilgesellschaftlichen Strukturen und der unabhängigen Medien ausgerichtet ist. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Lawtrend wurden von 2020 bis November 2022 mehr als 1.102 zivilgesellschaftliche Organisationen in Belarus aufgelöst.

Jetzt ist der einzige politische Verbündete des belarussischen Regimes Putins Russland, welches das Lukaschenko-Regime auf unterschiedlichste Weise unterstützt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die von Lukaschenko seit Mitte der 1990er Jahre betriebene autoritäre Politik in einem gewissen Grad für die russische politische Klasse als Vorbild gedient hat, um die politische Macht zu konsolidieren und den Zugang zu Ressourcen aufrechtzuerhalten.

Auch in Russland ist es übliche Praxis, Gegner:innen des politischen Regimes strafrechtlich zu verfolgen, unabhängige Medien zu zerschlagen oder aus dem Land zu verdrängen. In beiden Ländern konstruieren die Regime mithilfe von Gesetzen zur Registrierung ausländischer Agenten“ und antiwestlicher Rhetorik Feindbilder und ergänzen sie durch einen Diskurs über die traditionellen Werte“, deren Schutz angeblich repressive Maßnahmen gegen die LGBTQ-Gemeinschaft und ihre Vertretungen erfordert.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine kann zugleich als Ergebnis und Katalysator der intensiven und – möglicherweise – endgültigen Annäherung der russischen und belarussischen Regime betrachtet werden. Der Umstand, dass Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine das Territorium und die Infrastruktur von Belarus nutzt, hat den Krieg auch in Belarus zu einem zentralen Thema im öffentlichen Diskurs gemacht. So spiegeln sich die neuen politischen Realitäten in ähnlicher Weise im Alltagsleben beider Gesellschaften wider.  

Die russischen Propagandainhalte und die manipulativen Verweise auf die Situation in der Ostukraine nach 2014 in Bezug auf den Krieg finden auch in der Propaganda des belarusischen Regimes breite Verwendung. Die politische Realität in der Ukraine und die Ukrainer:innen selbst werden als vom kollektiven Westen“ geförderter Nazismus“ charakterisiert. Auch über den spezifischen Groll“ Russlands gegen die NATO-Osterweiterung wird in gleicher Tonlage diskutiert. Diese Propagandainhalte werden in beiden Ländern durch neue Lügen über die Gründe für die Zerstörung der zivilen Infrastruktur der Ukraine und den Tod von Zivilist:innen permanent ergänzt.

Die neue politische Realität und der neue Alltag

Wie haben sich das politische Leben und der Alltag in Belarus und Russland unter dem Einfluss von Krieg, Propaganda und verstärkter autoritärer Unterdrückungspolitik verändert?

Die Militarisierung des öffentlichen Diskurses und der Erinnerungskultur, die rapide Intensivierung der Propaganda, die über die übliche Ideologisierung des politischen und alltäglichen Lebens hinausgeht, sind die neuen Tendenzen in Belarus und Russland. Dabei spielt die politische Instrumentalisierung der Geschichte mit starkem Fokus auf den Zweiten Weltkrieg eine besondere Rolle.

Ein weiteres Merkmal ist die deutliche Verstärkung der Rolle der staatlichen Sicherheitsstrukturen und der Missbrauch der staatlichen Gewalt als zentrales Instrument der politischen Steuerung.  Die Diskussion über die soziale Agenda und die Probleme innerhalb autoritärer Gesellschaften hat sich im offiziellen öffentlichen Diskurs in die Rhetorik des Schutzes“ des Staates vor Versuchen der Einflussnahme durch äußere und vor inneren Feinden gewandelt.

Die Folgen der direkten und indirekten internationalen Sanktionen treffen nun die Bevölkerung in Russland und Belarus. Doch statt mehr Ausgaben für Sozialprogramme zu veranschlagen, ist die Haushaltspolitik von Belarus auf die Erhöhung der Finanzierung für die inneren Sicherheitskräfte und Verteidigungsstrukturen ausgerichtet. Unter dem Vorwand der Gewährleistung von Sicherheit“ und Stabilität“ versucht man jetzt diesen Zustand durch repressive Maßnahmen zu konservieren.

Die Militarisierung des öffentlichen Diskurses und die politischen Repressionen wirken sich auch auf den Alltag aus: die Gewaltanwendung ist bereits ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden.

Während der Proteste 2020 gegen das autoritäre Regime in Belarus nahm die politische Beteiligung von Frauen an Demonstrationen und regimekritischen Initiativen in einer noch nie da gewesenen Dimension zu. Für Frauen war das Zusammenspiel von politischer und patriarchalischer Gewalt offensichtlich geworden. Nach der Niederschlagung der Proteste und der Militarisierung der Innenpolitik in beiden Ländern wird die politische Gewaltanwendung in der Öffentlichkeit als legitim angesehen. Auch die patriarchalischen gesellschaftlichen Vorstellungen über die Gewaltausübung – insbesondere in Form häuslicher Gewalt – wurden wiederbelebt.

Die feministische Agenda und ihre Förderung befinden sich jetzt in einer Art Falle: Einerseits werden sie von Anhänger:innen traditioneller Werte“ als westlich“ und feindlich“ kritisiert, andererseits nutzen autoritäre politische Regime diese Agenda im Kontext der eigenen militaristischen Propaganda, um ein patriotisches“ Frauenbild zu vermitteln, von dem abzuweichen als Verrat an Land und Volk dargestellt wird.

Ein weiteres Problem ist die Verbreitung einer Kultur des Waffeneinsatzes im Zuge der Demobilisierung von Soldaten. Hinzu kommt die Existenz von paramilitärischen Strukturen, die sich an den russischen „Wagner-Truppen“ orientieren.

Die fehlende Möglichkeit, bürgerliche, kulturelle und politische Rechte auszuüben, ist ebenfalls zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Alltags geworden. Diese Einschränkungen hängen mit dem autoritären System und der Kriegssituation“ zusammen.

Im offiziellen öffentlichen Diskurs verbreitete sich bereits vor dem Krieg der Gedanke der Ablehnung internationaler Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte. Belarus hat seine Zusammenarbeit mit dem UN-Menschenrechtsausschuss beendet und das vor 30 Jahren unterzeichnete Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gekündigt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass in Belarus z. B. Anwält:innen die Zulassung entzogen wird, wenn sie die Rechte der an den Protesten beteiligten Personen zu verteidigen versuchen.

Während die internationale Gemeinschaft den russischen Angriffskrieg verurteilt und die Kriegstreiber:innen sanktioniert, legitimiert die russische und belarusische autoritäre Politik den Krieg und schafft eine spezifische, isolationistische Atmosphäre einer belagerten Festung“ innerhalb beider Gesellschaften. So wird die Situation als Notstand empfunden und dieses Gefühl wird durch militärische Teil“-Mobilisierungen in Russland und Kontrollen der „Wehrfähigkeit“ und „Kampfbereitschaft“ der Streitkräfte in Belarus zusätzlich verstärkt.

Betrachtet man diese Entwicklungen auf der Ebene der offiziellen Politik und des Alltagslebens in Belarus und Russland aus historischer Perspektive, so erkennt man, wie die nach dem Zusammenbruch der UdSSR  begonnenen und „unumkehrbar“ erscheinenden Veränderungen gänzlich oder teilweise beseitigt werden: Die Verbreitung von Ideen liberaler Demokratie, der Menschenrechte, unabhängiger Presse, der Verwestlichung und später der Globalisierung, der Entstalinisierung und  der Aufarbeitung der traumatischen Erinnerung an den Staatsterror. In dieser Hinsicht war die Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial“ in Russland 2021 ein richtungsweisender Fall.

Diese politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rückschritte sind zwar mit der Atmosphäre des Kalten Krieges und der späten UdSSR vergleichbar, vollziehen sich jedoch bereits in einem neuen historischen Kontext.

Es stellt sich die Frage, ob wir Teilnehmende bzw. Opfer eines sozialen Experimentes sind, in dem sich auf der Suche nach einem Sonderweg“ eine erfolgreiche Umwandlung von alten Formen des Autoritarismus in neue, nachhaltige illiberale und moderne“ Modelle der politischen Ordnung vollzieht. Oder haben wir es hier mit dem endgültigen, wenn auch hinauszögernden Zusammenbruch der postsowjetischen autoritären Praktiken zu tun, die zum Verschwinden verdammt sind?

Auch andere Fragen stehen in diesem Zusammenhang im Raum: Wie ist eigentlich diese Situation möglich geworden? Und können wir in dieser Lage ein Potenzial für Widerstand erkennen?

Am Beispiel der politischen Instrumentalisierung der Geschichte in Belarus und Russland ist zu erkennen, dass es paradoxerweise auch innerhalb der autoritären Politik ein, wenn auch sehr begrenztes, Widerstandspotenzial gibt.

Pazifistische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und der neue Krieg

Eine der ersten Fragen, die nach dem Ausbruch des russischen Krieges in der Ukraine gestellt wurden, war, wie Militarisierung und Krieg überhaupt möglich wurden. Angesichts des symbolischen Erbes des Zweiten Weltkriegs und der pazifistischen Rhetorik, die das Gedächtniskonstrukt der Nachkriegszeit in der UdSSR prägte, müsste es unvorstellbar sein.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gab es sowohl in Belarus als auch in Russland einen Kanon des offiziellen historischen Gedächtnisses, der sich in den 1970er bis 1980er Jahren herausgebildet hatte. Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg nahm einen zentralen Platz in diesem Kanon ein.

Während des Zweiten Weltkriegs war das gesamte Territorium von Belarus (damals Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik) von den Nationalsozialisten besetzt, anders als beispielsweise das Staatsgebiet Russlands. Innerhalb des Gedächtnisses von Familien in Belarus wurde die Erinnerung an die Opfer der Kriegsgewalt und des Holocaust Teil des Nachkriegsethos, obwohl die Erinnerung an diesen erst Anfang der 1990er Jahre öffentlich und offiziell aktualisiert wurde. Die pazifistische und humanistische Dimension der Erinnerungskultur und der Gedanke, dass sich der Krieg nicht wiederholen dürfe, wurden tragende Säulen der offiziellen sowjetischen Erinnerungskultur nach 1945. Gleichzeitig aber scheute sich die sowjetische Regierung nicht, sich an militärischen Operationen zu beteiligen oder selber welche zu initiieren, die mit politischen und ideologischen Interessen des Kalten Krieges zusammenhingen. Um nur einige in Erinnerung zu rufen: die Niederschlagung der Demonstrationen in der DDR 1953, des ungarischen Aufstands 1956, des Prager Frühlings 1968, der Einmarsch in Afghanistan 1979.

Die Armee wurde in der UdSSR auch zur Unterdrückung interner Proteste eingesetzt: etwa zur Niederschlagung einer Demonstration in Nowotscherkassk 1962 oder die Versuche, die Unabhängigkeitsbewegung in Georgien 1989 und in Litauen 1991 durch den Einsatz von Gewalt zu unterdrücken.

Nach dem Zerfall der UdSSR nahm die belarusische Armee an keinen Kampfhandlungen mehr teil, während die russische Armee seit Anfang der 1990er Jahre in mehreren militärischen Auseinandersetzungen involviert war: der Konflikt um Transnistrien, die zwei Kriege in Tschetschenien und der Krieg in Georgien.

Im öffentlichen Diskurs der beiden Länder hat sich zwar die normative Vorstellung darüber lange gehalten, dass es nicht mehr zu einem Krieg kommen dürfe, doch der Widerspruch zwischen dieser Vorstellung und des politischen Pragmatismus, die Kriege in der Vergangenheit und Gegenwart in Kauf genommen hat, beunruhigte kaum jemanden.

Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wurde auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR weiter zensiert. Im offiziellen öffentlichen Diskurs in Belarus und Russland war schon immer eine äußerst ablehnende Einstellung gegenüber den Versuchen festzustellen, die Gewalttaten der sowjetischen Armee während der Endphase des Zweiten Weltkriegs sowie der von Anne Applebaum 2012 als „Stalinisierung Osteuropas“ in der Phase nach 1945 zu thematisieren. In der offiziellen Erzählung der Geschichte in Russland war und ist immer noch die Rede ausschließlich von der Befreiung Osteuropas durch sowjetische Soldaten. 

Museumsausstellungen und Kriegsfilme der sowjetischen Ära stellten militärische Gewalt oft als tragischen, aber natürlichen Teil“ des Krieges dar. Sie schenkten wenig Aufmerksamkeit der Analyse konkreter Entscheidungen von politischen Verantwortlichen über den Einsatz von Gewalt und deren Folgen. Dasselbe gilt für die Kultur der Darstellung staatlicher Gewaltakte während des Stalinismus, die oft als natürlicher“ Preis des stalinistischen Modernisierungsprozesses“ der UdSSR angesehen werden.

Die pazifistischen Aspekte der Erinnerungskultur der Nachkriegszeit in Russland traten in den 2000er Jahren allmählich in den Hintergrund und wurden schlussendlich durch einen militaristischen Diskurs ersetzt. Dies hing mit Doktrinen der russischen Wiedergeburt“ und Versuchen der politischen Eliten zusammen, das imperiale Erbe Russlands und das Erbe des sowjetischen Globalismus“ unkritisch in einer Geschichte zu vereinen.

Nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 nahm die Militarisierung des öffentlichen Diskurses einschließlich der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nochmals zu. Um diese Umwandlung zu rechtfertigen, begann man in Belarus und Russland von der alten antiwestlichen Rhetorik mit Bezug auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs exzessiver als je zuvor Gebrauch zu machen. Die meist verwendete These der Propaganda war die konstruierte Befürchtung, dass man den Sieg stehlen, die Ergebnisse des Krieges revidieren wolle“. Es wurde suggeriert, dass es die ehemaligen westlichen Verbündeten sind, die dies tun wollen, und man müsse diesem Vorhaben entschieden entgegentreten. Vor diesem Hintergrund sah man auch die Zurschaustellung der militärischen Macht bei Veranstaltungen zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg als Notwendigkeit.

Noch 2015 unterschieden sich die Paraden zum Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg in Moskau und Minsk, ebenso wie ihre symbolische Gestaltung. Die Parade in Moskau war eine reine Demonstration militärischer Macht, während die feierliche Prozession in Minsk weit weniger militarisiert war und eher wie eine Ausstellung der Errungenschaften des autoritären Regimes in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aussah. In Moskau wurden massenhaft St.-Georgs-Bänder (das St.-Georgs-Band wurde von Katharina der Großen 1769 während des russisch-türkischen Krieges gestiftet) als Symbol verwendet, während man sich in Minsk für ein anderes Symbol – die Siegesblume“ – (in Form einer Apfelblüte in Kombination mit den Farben der belarussischen rot-grünen Flagge) entschied.

2020 war die Siegesparade in Minsk, die auf dem Höhepunkt der COVID-19-Epidemie stattfand, bereits eindeutig militaristisch geprägt. Selbst Alexander Lukaschenko trug eine Militäruniform.  Somit synchronisierten sich Erinnerungspolitik und Manipulation der Geschichte der russischen und belarusischen Regime, insbesondere im Hinblick auf den Missbrauch des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel, eine kollektive Identität im eigenen Land zu konstruieren.

Ein Beispiel für diese Synchronisation“ im Zeitraum 2020-2022 ist der manipulative Gebrauch des Begriffs Völkermord“. In Russland begann man öffentliche Diskussionen über den Völkermord am sowjetischen Volk“ zu führen, in Belarus sprach die Propaganda vom Völkermord am belarussischen Volk“. Auch hier kann man von einer Instrumentalisierung der Geschichte sprechen.

Die belarusische Propaganda geht noch einen Schritt weiter und verbindet den Begriff „Völkermord“ mit der Protestbewegung 2020 in Belarus. Die Teilnehmenden dieser Proteste, so die Propagandisten, bezweckten eine Art Fortsetzung der „Völkermordpolitik“.

Die belarussische Propagandamaschine bedient sich weitgehend der Propagandamuster der Vergangenheit. Man vergleicht die Teilnehmenden der Protestbewegung 2020 mit den Kollaborateuren der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs und bescheinigt ihnen eine geerbte Nazi-Ideologie“. Dies ist die Sprache, mit der der versuchte Staatsstreich von 2020“ und seine ideologische Verbindung zur Zeit der Nazi-Besatzung in einem Buch beschrieben wird, das vom Generalstaatsanwalt der Republik Belarus in großer Auflage veröffentlicht wurde. Als Haupttäter:innen in diesen Vorgängen wird der kollektive Westen“ dargestellt. Ihm wird auch vorgeworfen, das Leid der Belarusen während des Zweiten Weltkriegs nicht vollständig anerkennen und entschädigen zu wollen. Das propagandistische Konzept mit Bezug auf den Begriff Völkermord“ dient auch dazu, die antiwestliche Rhetorik zu befeuern, Verschwörungstheorien zu konstruieren, welche die Politik des kollektiven Westens“ für die Massenproteste in Belarus 2020 und für Russlands Krieg in der Ukraine verantwortlich machen. Vor diesem Hintergrund ist es leichter die Militarisierung zu begründen. Dabei könnte man den Leitgedanken wie folgt zusammenfassen: Wir sollten das bekommen oder kompensieren, was uns vorenthalten wurde, wir sollten in der Lage sein, uns zu verteidigen.

Es ist bezeichnend, dass heute die wichtigsten „Expert:innen“ für die Geschichte des Völkermords in Belarus Vertreter:innen der staatlichen Sicherheitsstrukturen geworden sind, die über dieses Thema Vorträge halten und Informationsbroschüren herausgeben. Sowohl in Belarus als auch in Russland werden die offiziellen Geschichtsinterpretationen nun durch spezielle „Gedenk“-Gesetze geschützt, die keine abweichende Auslegung historischer Ereignisse zulassen.

Angesichts dieser Realitäten stellt sich die Frage: Ist es möglich, sich dieser zunehmenden Instrumentalisierung der Geschichte zu widersetzen?

Es ist offensichtlich, dass sich das normative Zentrum“ in der sowjetischen und postsowjetischen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg verändert hat. Durch dauerhafte Manipulationen ist eine Transformation der pazifistischen Einstellung und der Antikriegsrhetorik in den Militarismus vollzogen worden. Allerdings verschwanden die früheren Normen nicht völlig, sie wurden nur an den Rand des öffentlichen Diskurses gedrängt.

In Belarus und Russland klafft jetzt eine große Lücke zwischen dem offiziellen, institutionalisierten Gedächtnis und dem Gedächtnis der Familien, des Einzelnen. Der Staat versucht nun, das familiäre und individuelle Gedächtnis zu kolonisieren, es sich anzueignen und die Institutionalisierung und Repräsentation dieses unzensierten Gedächtnisses zu unterbinden.

Ein Beispiel dafür ist die Kampagne Unsterbliches Regiment in Russland, die als Volksinitiative zum Gedenken an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Familienangehörigen begann und sich zu einem von dem Staat gesteuerten Ritual entwickelte, um die Loyalität der Bürger:innen gegenüber der offiziellen Version des Kriegsgedächtnisses zu demonstrieren. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Politik die individuelle Erinnerung der Menschen tilgen kann: sie zum Schweigen bringen vielleicht ja, aber nicht zum Vergessen. Und es gibt auch Möglichkeiten für Historiker:innen – wenn auch nur sehr begrenzte –, diese Erinnerungen neu zu erschließen und ein pazifistisches und humanistisches Ethos wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte zu stellen.

Zivilgesellschaft, Identitätspolitik und mögliche Strategien des Widerstands

Seit 2020 wandern massenhaft zivilgesellschaftliche Aktivist:innen aus Belarus und seit 2022 auch aus Russland aus. Sie stehen vor einer Reihe von Schwierigkeiten und Ungewissheiten: können sie sich schnell genug an ihre neuen Wohnorte anpassen und dabei die sozialen und anderen Bindungen mit dem Heimatland aufrechterhalten? Wird es ihnen möglich sein, in irgendeiner Weise die politischen, kulturellen und andere Agenden im Heimatland von außen zu beeinflussen? Wird es nicht zu einem besonderen Ausstieg aus dem Aktivismus“ einer ziemlich großen Zahl von Menschen kommen, die sich mit den alltäglichen Problemen der Anpassung in ihren Gastländern beschäftigen müssen?

Nach dem Beginn des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine werden die Diskussionen über die eigene politische Subjektivität und die Verantwortung für den Krieg innerhalb der Zivilgesellschaften in Russland und Belarus unter einem neuen Blickwinkel geführt.

Trotz des ähnlichen Schicksals unter autoritären Regimen befinden sich die Zivilgesellschaften in Belarus und Russland in unterschiedlichen Situationen, bedingt durch den historischen Kontext, der auch die postsowjetische Zeit einschließt.

 Für Belarus besteht heute die unmittelbare Gefahr, die Unabhängigkeit, oder was von ihr unter der russischen Dominanz noch übriggeblieben ist, zu verlieren. Eine Annexion durch Russland erscheint auch als möglich. Die Erinnerungspolitik von Lukaschenkos Regime und eine Reihe seiner innen- und außenpolitischen Entscheidungen zielen darauf ab, die nationale Identität, die sich in Belarus seit Ende der 1980er Jahre herausgebildet hat, in die regionale“ Identität eines Unionsstaates oder des westlichen“ Teils Russlands zu verwandeln.

2020-2022 wurden in Belarus viele Institutionen und Organisationen aufgelöst, die sich für die Entwicklung der nationalen Kultur einsetzten. Aus diesem Grund ist heute die Metapher interne Besetzung“ von Belarus ein gängiger Begriff in Teilen der Zivilgesellschaft. Die Synchronisierung der Erinnerungspolitik der belarusischen und russischen Regime lässt nicht nur die „familiäre“ Ähnlichkeit der beiden autoritären Herrschaftssysteme, sondern auch eine neue koloniale Hierarchie innerhalb dieser Familie“ erkennen.

Vertreter:innen der belarusischen Zivilgesellschaft sind heute deutlich pro-ukrainisch eingestellt. Das ist teilweise durch die Ähnlichkeit der Probleme infolge der russischen Politik gegenüber den Nachbarländern und insbesondere Putins Unterstützung für Lukaschenkos Regime bedingt.

Nach den Protesten 2020 und dem Massenexodus aus dem Land entstanden politische und kulturelle Zentren der belarusischen Emigration, es wurden neue Diaspora-Organisationen gegründet. Die Zentren von russischen Emigranten sind erst im Entstehen begriffen. Derzeit gibt es noch keine institutionalisierten Kontakte zwischen den russischen und belarusischen Auswanderern.

Unter den russischen Auswanderern vertreten viele pro-ukrainische Positionen. Der russische Angriffskrieg hat den Diskurs über das sowjetische Erbe aus einer postkolonialen/dekolonialen Perspektive in den Vordergrund gerückt. Die Vertreter:innen der Zivilgesellschaft des ehemaligen imperialen Zentrums“ sind sensibler geworden für die Frage, wie die vergangene und gegenwärtige russische Politik mit ihrer Hierarchie in den Nachbarländern wahrgenommen wird.

Sowohl in Belarus als auch in Russland sind die Möglichkeiten zum Widerstand heute stark eingeschränkt. Nichtsdestotrotz, im Gegensatz zu den Stimmungen in der russischen Gesellschaft, besonders am Anfang des Krieges, ist in Belarus unter den gleichen repressiven Umständen viel weniger Unterstützung für den Krieg zu verzeichnen. Bereits einige Tage nach dem Kriegsbeginn versuchten Menschen in Belarus Antikriegsaktionen durchzuführen. Ungeachtet der bereits zwei Jahre andauernden starken Repressionen und drohenden strafrechtlichen Verfolgungen gingen sie auf die Straße. Bis zu 1.000 Menschen wurden in Minsk und anderen Städten verhaftet.

Widerstandsstrategien der Zivilgesellschaft sind heute die Bemühungen, zivilgesellschaftliche Strukturen zumindest außerhalb des Landes zu institutionalisieren, offene Diskussionen über die Folgen der Emigration (auch über die gesellschaftliche Spaltung in die, die gegangen sind“ und die, die geblieben sind“) und die Bildung neuer sozialen, politischen und anderen Agenden anzustoßen. Wichtig ist, durch Reflexion die Militarisierung der Gesellschaft rückgängig zu machen, die Propaganda und die Mechanismen der autoritären politischen und militärischen Gewaltanwendung zu beseitigen.

Übersetzung und Redaktion: Irina Ghulinyan-Gerz


[1] In den Statistiken der Menschenrechtsorganisationen sind die Personen enthalten, die nach einer Reihe von Kriterien als politische Gefangene anerkannt worden sind. In diesen Statistiken sind jedoch die mit sonstigen Mitteln verfolgten Menschen nicht enthalten. So wurden beispielsweise in der Anfangsphase der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 allein über 30.000 Personen verwaltungsrechtlich inhaftiert.