Klares Mandat für vertiefte Partnerschaft von Deutschland und Frankreich

Kommentar

Das Jahr 2023 beginnt mit dem 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags, der die Versöhnung und Partnerschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich nach der Katastrophe des zweiten Weltkriegs begründet hat. Eine Partnerschaft, die heute von über achtzig Prozent der Bevölkerungen beider Länder explizit gewollt ist und als wichtiger Motor für die Zukunft der Europäischen Union betrachtet wird.

3D Illustration, Verbundenheit zwischen Frankreich und Deutschland

Dies ist das Ergebnis einer Umfrage, die die Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit der französischen Fondation de l’Écologie Politique beim Institut IPSOS in Auftrag gegeben hat. Die Ergebnisse zeigen eine beachtenswerte Übereinstimmung zwischen den Gesellschaften in Deutschland und Frankreich.

Viel mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes

In den letzten Monaten wurde viel über Trennendes, über eine Krise der deutsch-französischen Freundschaft, berichtet und diskutiert.  Aber diese Umfrage zeigt:  Es bestehen viel mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes. Es gibt ein solides Fundament und eine überragende Unterstützung für diese Partnerschaft.

Das gilt insbesondere für die großen und aktuellen Fragen in Europa: die Energie- und Klimakrise, die gemeinsame Sicherheit und Verteidigung in Europa, und die Bekämpfung der steigenden Ungleichheit, die sich während der Pandemie und auch seit dem Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine nochmal verstärkt hat. Die Umfrage zeigt zu dem auch, dass eine breite Mehrheit von mehr als sechzig Prozent die Unterstützung der Ukraine mit schweren Waffen, die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine und die Sanktionsmaßnahmen gegenüber Russland unterstützen.

Aber dieses umfassende Bekenntnis zur deutsch-französischen Partnerschaft und ihrer Rolle für den Zusammenhalt der Europäischen Union ist kein Ruhekissen. Es ist vielmehr ein Aufruf an beide Regierungen, diese Allianz mit Verantwortung zu gestalten. Denn die Verschlechterung der Beziehungen im Verlauf des letzten Jahres wurde von mehr als einem Drittel der Befragten wahrgenommen.

Spannungen auf der Regierungsebene

Diese Wahrnehmung ist vor allem durch Spannungen auf der Ebene der Regierungsspitzen entstanden. Durch scheinbar unkoordiniertes Handeln, durch mangelnde Kommunikation zwischen Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron. Zur Ehrlichkeit gehört allerdings auch, dass die neue Bundesregierung durch Russlands Krieg gegen die Ukraine kurz nach Amtsantritt vor einer völlig neuen Welt stand, während Frankreich sich bis in den Frühsommer im Präsidentschafts- und Parlamentswahlkampf befand. Eine ziemlich holprige Piste um gemeinsam Fahrt aufzunehmen.

Und auch in gemeinsamen Jahren von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron war es bisweilen holprig. So war die von Berlin einseitig verhängte und zum Teil rabiat durchgesetzte, nicht abgesprochene Grenzschließung zwischen Deutschland und Frankreich zu Beginn der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 ein Tiefpunkt der Beziehungen. Sie stellte nicht nur einen Einschnitt mit höchster emotionaler Symbolik in den zusammengewachsenenGrenzregionen dar, sondern zerriss den Alltag vieler Menschen ganz persönlich, im Beruflichen wie im Privaten. Die Einigung auf das Europäische Rettungspaket im Sommer 2020 und die gegenseitige Unterstützung in der aktuellen Energiekrise sind wiederum Zeichen der deutsch-französischen Handlungsfähigkeit und der tiefen Solidarität.

Vielleicht war die kurzfristige Absage der Regierungskonsultationen im letzten Herbst ein heilsamer Schock - nsbesondere auf deutscher Seite, der für den Zustand der Beziehungen viel Verantwortung zugeschrieben wird. Seither haben sich Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron mehrfach getroffen. Vizekanzler Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock und Bundesfinanzminister Christian Lindner kamen innerhalb weniger Tage nach Paris.

Diese Besuche waren wichtig. Denn die scheinbare Sprachlosigkeit vorab überdeckte die Tatsache, dass die Beziehungen auf Arbeitsebene der Ministerien intensiv, offen und vertrauensvoll sind. Die für die deutsch-französischen Beziehungen und Europa zuständigen Staatsminister*innen Anna Lührmann und Laurence Boone, heißt es, sind in einem ständigen, nahezu täglichen, Austausch. Die Zusammenarbeit im Rahmen der Städtepartnerschaften und der Regionen sind eingespielt. Und auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es eine Vielzahl funktionierender Netzwerke, nicht zuletzt unterstützt vom Deutsch-Französischen Jugendwerk und dem Deutsch-Französischen Bürgerfonds.

Die Spannungen im Verhältnis sind also nicht fundamental. Und die breite gesellschaftliche Unterstützung dieses Verhältnisses ist insofern ein dringender Aufruf an die Regierungsspitzen, einen neuen Modus der Zusammenarbeit zu finden. Denn die gemeinsamen Herausforderungen sind immens. Auch hierzu geben die Ergebnisse der Umfrage einige Hinweise.

Gemeinsam Vertrauen in die Demokratie zurückgewinnen

Vier von zehn Deutschen und über fünfzig Prozent der Französ*innen geben an, dass die Demokratie in ihren Ländern schlecht funktioniert. Auch wenn nur jeweils eine Minderheit die Demokratie konkret in Gefahr sieht, sind das alarmierende Zahlen.

Als Bedrohung werden die Zunahme von Gewalt in beiden Gesellschaften und besonders die wachsende Ungleichheit in den Gesellschaften angesehen. Fast vierzig Prozent der Befragten in Deutschland und Frankreich geben zudem an, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht im Interesse der Bevölkerung handeln. Es entsteht also der Eindruck, dass die Bevölkerung Zweifel hat, ob die Demokratie, wie sie derzeit funktioniert, auf ihre persönlichen Sorgen um die eigene Zukunft, die Angst vor Wohlstandsverlust und Armut effektiv eingehen kann. Viel wird zur Zeit darüber diskutiert, ob die Menschen „gehört“ werden - ie Kehrseite dabei sind wachsende Zweifel, ob die demokratischen Regierungen diese Probleme lösen können.

Die Werte für mangelndes Vertrauen in die Demokratie sind auf beiden Seiten des Rheins vor allem deutlich rechts der politischen Mitte besonders hoch. In Frankreich sind es dort 74 Prozent, in Deutschland sogar 83 Prozent. Ein Indiz, dass populistische, rechtsextreme Diskurse ihre Wirkung haben.

Ein deutlicher Hinweis, dass auch im Rahmen der deutsch-französischen Partnerschaft der Kampf gegen Rechtsextremismus, gegen Desinformation und gegen Angriffe auf Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit geführt werden muss, und dass die Regierungen politisch liefern müssen; für das Wohl der eigenen Gesellschaften, aber auch für die Stabilität Europas: Die deutsche und französische Regierung müssen sich daher auch gemeinsam stärker für die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit in der EU stark machen. Mit mittlerweile weiteren amtierenden rechtsgerichteten Regierungen, wie zuletzt in Italien und Schweden, werden die Wahlen zum Europäischen Parlament im kommenden Jahr ein Testlauf für die demokratische und pro-europäische Mehrheit im Europa-Parlament.

Ein deutsch-französisches Plebiszit für die ökologische Transformation

Schließlich gibt es auch bei den Prioritäten zur Bekämpfung der Energie- und Klimakrise, also bei der ökologischen Transformation, ein enormes Mandat für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Der Ausbau der erneuerbaren Energien steht in Deutschland mit 68 Prozent auf Platz Eins der Prioritäten, in Frankreich mit 49 Prozent auf Platz drei; allerdings nahezu gleichauf mit der energetischen Sanierung von Gebäuden und einer umweltfreundlicheren Landwirtschaft, die jeweils 51 Prozent erreichen.

Über 70 Prozent der Franzosen unterstützen den Ausbau der erneuerbaren Energien in Frankreich; in Deutschland sind es sogar 84 Prozent.  Auch in der Nähe des eigenen Wohnorts besteht eine hohe Bereitschaft, Windparks zu akzeptieren. Gefragt nach einem Umkreis von 30 Kilometern sind in Deutschland 80 Prozent damit einverstanden, in Frankreich mit 66 Prozent ebenfalls deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung.

Die zwischen beiden Ländern so intensiv diskutierte Atomenergie hat dagegen deutlich weniger Vorrang. Nur 37 Prozent befürworten eine Wiederbelebung der Atomkraft in Frankreich, in Deutschland sind es lediglich 27 Prozent.

Die Mobilitätswende ergibt ein gemischtes Bild. Ihr Erfolg steht und fällt mit den realen und verlässlichen Alternativen zum Auto. Eine enorme Mehrheit der Befragten von rund 90 Prozent befürworten den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, auch in ländlichen Regionen, und des Schienenfernverkehrs. Genau 80 Prozent der Franzosen und 76 Prozent der Deutschen sprechen sich für ein Verbot von Kurzstreckenflügen aus, die leicht mit dem Zug zu ersetzen sind.

Das Ende von Verbrennungsmotoren befürworten zwar in Deutschland noch 71 Prozent der Bevölkerung, in im weniger dicht besiedelten Frankreich sind es nur knapp 51 Prozent. Hinter diesen Zahlen mag eine Sorge um die persönliche und flexible Mobilität stecken, solange der öffentliche Nah- und Fernverkehr sie nicht verlässlich und bezahlbar garantiert, und auch eine Skepsis, ob die E-Mobilität in naher Zukunft wirklich eine ausreichende Infrastruktur erhält. Wer diese Herausforderungen auf Aufgaben der ökologischen Transformationen am besten meistern kann, bewerten Deutsche und Französ*innen unterschiedlich. Während das in Deutschland mit 34 Prozent eine relative Mehrheit der Bundesregierung zutraut, glaubt man in Frankreich mit 33 Prozent mehrheitlich, dass es dazu Bürgerbewegungen braucht. Ein Ergebnis, dass sich vielleicht auch daraus speist, dass der von Präsident Macron mit hohen Erwartungen einberufene Bürgerkonvent für den Klimaschutz bislang kaum zu politischen Umsetzungen durch die Regierung geführt hat. Für die Ampel-Koalition ist die relative Mehrheit ein Vertrauensvorschuss, der französische Wert aber auch ein Signal, dass Erwartungen auch erfüllt werden wollen.

Alles in allem zeigen die Ergebnisse der Umfrage in bemerkenswerter Klarheit und Eindeutigkeit, wie ähnlich die Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und Deutschland die Herausforderungen unserer Zeit sehen und wie erstaunlich ähnlich sie die Themen setzen, die jetzt politische Priorität haben sollen. Erstaunlich, weil die politischen Traditionen und Systeme doch gemeinhin als sehr unterschiedlich eingeschätzt werden, wie etwa in der Energie- oder Industriepolitik. Dennoch sind auf beiden Seiten des Rheins die Gemeinsamkeiten in den präferierten Lösungsansätze enorm. Hier kann und muss die deutsch-französische Partnerschaft mit all ihren institutionellen Möglichkeiten jetzt ansetzen und mit gemeinsamen Initiativen Schwung in den notwendigen Reformprozess der EU bringen.

Keine Partnerschaft läuft von selbst: es muss stets investiert werden.

Ein runder Jahrestag, ein Festakt und ein Regierungsgipfel werden die derzeitigen Spannungen im deutsch-französischen Verhältnis nicht alleine lösen. Aber sie können zu einer Klärung der Probleme beitragen und dem feierlichen Anlass angemessener Ansporn sein, es von jetzt an anders zu machen.

An vorderster Stelle sollte die Erkenntnis stehen, dass der offene Austausch und das vertrauliche Gespräch vorab zielführender sind als Krisenkommunikation danach. Gegenseitiges Verständnis und Empathie für die jeweiligen Herausforderungen und Besonderheiten helfen gemeinsame Lösungen zu finden, statt sich vor allem im Trennenden zu verhaken.

Wenn die Umfrage zu 60 Jahren Élysée-Vertrag eines zeigt, dann, dass beide Regierungen in Berlin und in Paris eine enorme Rückendeckung für ihre Zusammenarbeit haben, und die Bürger*innen in beiden Ländern auch einen klaren Kompass besitzen, in welchen Bereichen diese vertieft werden sollte.

Wenn die Regierungen das starke Fundament der deutsch-französischen Partnerschaft und ihren positiven Beitrag für Europa und seine Demokratien nachhaltig sichern wollen, müssen sie vorrangig an den Zukunftschancen der nächsten Generation arbeiten – die Klimakrise bekämpfen, die demokratischen Freiheiten und den sozialen Zusammenhalt schützen.

Und sie müssen den deutsch-französischen Dialog inklusiver gestalten. Er muss alle Menschen in unseren pluralen Gesellschaften ansprechen, unabhängig von sozialen Voraussetzungen und migrationsgeschichtlicher Herkunft. Dann kann auch die Zivilgesellschaft ihren Beitrag für den Fortbestand der Partnerschaft leisten. In diesem Sinne startet auch die Heinrich-Böll-Stiftung in dieses deutsch-französische Jubiläumsjahr.