Völkerstrafgesetzbuch: Gender Bias und Reformbedarf

Analyse

Die deutsche Regierung sieht sich auf internationalem Parkett gerne in einer Vorreiterrolle für die Umsetzung des Völkerstrafrechts. Dabei ist ausgerechnet dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch ein Gender Bias eingeschrieben, der die Ahndung geschlechtsbezogener Gewalt in bewaffneten Konflikten entsprechend dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs verhindert. Zivilgesellschaftliche Akteure verlangen seit langem eine Reform und erreichten die erste Verurteilung eines Angeklagten wegen sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland. Welche Strafbarkeitslücken sind über das jüngst vorgelegte Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums hinaus zu schließen?

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Geschlechtsbezogene Gewalt in bewaffneten Konflikten

Eine der billigsten und zugleich gesellschaftlich zerstörerischsten Kriegswaffen ist sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt. Gegen Mädchen und Frauen. Aber auch gegen Jungen und Männer. Im Regelfall ist diese Gewalt eingebettet in binär heteronormativ vergeschlechtlichte Lebensweisen. Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei, erzwungene Schwangerschaften oder sexualisierte Folter fügen den Betroffenen unermessliches körperliches und psychisches Leid zu. Viele von ihnen sind danach schwer traumatisiert. Die Gewalt dient auch dazu, Familien, die politische Opposition oder ethnische Gruppen zu destabilisieren oder auszulöschen. In patriarchalen Gesellschaftssystemen ist sexualisierte und reproduktive Gewalt eine Form der Kommunikation über Macht zwischen Männern: Für den Bosnien-Krieg ist dokumentiert, wie Frauen vergewaltigt und erst schwanger zu ihren Familien zurückgeschickt wurden. In patriarchalen Gesellschaften stets latent existierende geschlechtsbezogene Diskriminierung steigert sich in bewaffneten Konflikten schnell zu direkter Gewaltausübung. Die Resolutionen 1325 und 1820 des UN-Sicherheitsrates fordern die Mitgliedstaaten auf, gegen geschlechtsbezogene Gewalt in bewaffneten Konflikten vorzugehen.

Der Gender Bias des deutschen Völkerstrafgesetzbuches

In Deutschland bestimmt das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) seit 2002, welche Handlungen in bewaffneten Konflikten oder Kriegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) oder Kriegsverbrechen (§ 8 VStGB) darstellen. Weil es sich dabei um internationale Verbrechen handelt, können sie wegen des Grundsatzes der universellen Jurisdiktion in Deutschland strafrechtlich verfolgt und geahndet werden, obwohl sie in einem anderen Staat begangen wurden und weder Täter*innen noch Opfer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Das VStGB wurde geschaffen als Deutschland dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (Rom-Statut) beitreten wollte. Die Straftatbestände entsprechen im Wesentlichen den Straftatbeständen des Rom-Statuts. Erklärtes Ziel der deutschen Regierung war, dass alle nach dem Rom-Statut strafbaren Handlungen auch in Deutschland strafrechtlich geahndet werden könnten. Die deutsche Regierung sieht sich bis heute in einer progressiven Vorreiterrolle.

Ausgerechnet im Hinblick auf geschlechtsbezogene Gewalt wurden aber Strafbarkeitslücken in das VStGB eingeschrieben. Im Unterschied zu Art. 7 Abs. 1 lit. g Rom-Statut und Art. 8 Abs. 2 lit. b. xxii. Rom-Statut ist sexuelle Sklaverei im VStGB überhaupt nicht enthalten. Dieses Verbrechen kann also in Deutschland nicht seinem spezifischen Unrechtsgehalt entsprechend strafrechtlich verfolgt werden. Zweitens wurde die Tatbestandsalternative der erzwungenen Schwangerschaft drastisch eingeschränkt, indem eine der Begehungsmodalitäten ebenfalls einfach nicht in das VStGB übertragen wurden. Wäre Dominic Ongwen nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof, sondern in Deutschland strafrechtlich verfolgt worden, wäre es ein sicherer Zufluchtsort im Hinblick auf das Verbrechen der erzwungenen Schwangerschaft gewesen. Drittens wurde der im Rom-Statut enthaltene Auffangtatbestand im VStGB durch den dem internationalen Strafrecht fremden Tatbestand der sexuellen Nötigung ersetzt und dabei darauf verwiesen, diese Tatbestandsalternative sei unter Rückgriff auf das deutsche Strafgesetzbuch (StGB), mithin auf § 177 StGB in seiner damaligen Fassung auszulegen. Dieses Vorgehen stellt im Vergleich zur sonstigen Übertragung der Tatbestände eine auffällige Ausnahme dar und führt zu unnötigen Schwierigkeiten bei der Gesetzesauslegung. Denn generell sollen die Normen des VStGB nach internationalen Standards ausgelegt werden. Gerade wenn es um Fälle der universellen Jurisdiktion geht, ist dies das einzig zweckmäßige Vorgehen, um international den Bestimmtheitsgrundsatz wahren zu können.

Über die Gründe für die Strafbarkeitslücken lässt sich nur spekulieren. Auffällig ist, dass die Einschränkungen der geschlechtsbezogenen Diskriminierung entsprechen, die dem deutschen Strafgesetzbuch (StGB) bis zur Reform 2016 eingeschrieben waren. § 177 StGB, an dessen Begriff der sexuellen Nötigung das VStGB angebunden war, musste 2016 reformiert werden, weil er völkerrechtswidrig war und gegen die Istanbul-Konvention verstieß. Die andauernde Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland, die auch völkerrechtswidrig ist, wird hoffentlich innerhalb der nächsten Jahre abgeschafft.

Zivilgesellschaftliche Kämpfe in Deutschland zur Aufhebung des Gender Bias

Ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher feministischer und intersektional denkender Akteur*innen im deutschen Kontext forderte seit langem die Auslegung des VStGB nach internationalen Standards sowie die gesetzgeberische Angleichung an das Rom-Statut. Konkret verlangten sie, dass die sexuelle Nötigung in § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB im Einklang mit dem Auffangtatbestand in Art. 7 Abs. 1 lit. g Rom-Statuts und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ausgelegt werden müsse. Zudem verlangten sie, dass alle Tatbestandsalternativen an das Rom-Statut angeglichen werden müssten. Allgemein geht es ihnen darum, die bisherige Kultur der Straflosigkeit für geschlechtsbezogene Gewalt in bewaffneten Konflikten auch in Völkerstrafrechtsverfahren in Deutschland aufzubrechen. Bis 2002 wurde keine einzige Verurteilung wegen § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB oder § 8 Abs. 1 Nr. 4 VStGB in Deutschland ausgesprochen.

Das erste Strafverfahren weltweit wegen Folter in Haftgefängnissen in Syrien vor dem Oberlandesgericht in Koblenz war zunächst auch eine Fortsetzung der beschriebenen Kultur der Straflosigkeit. Obwohl die systematische Nutzung sexualisierter Gewalt bekannt war, wurde sie in der Anklageschrift als Einzeltaten angeklagt und eben nicht gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB. Erst als mehrere Nebenklagevertreter, die im engen Austausch mit den genannten zivilgesellschaftlichen Akteuren standen, am 19. November 2020 einen Antrag stellten, die Norm aufzunehmen, wurde der Tatbestand in das Verfahren integriert. Die Bundesanwaltschaft ließ sich auf die rechtlichen Argumente ein und bestätigte in ihrem Schlussplädoyer die Auslegung der sexuellen Nötigung in § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB nach internationalen Standards. Unter dem Gesichtspunkt transnationaler Normgenerierungsprozesse stellt diese Klarstellung ein wichtiger Meilenstein im Kampf um die vollumfängliche strafrechtliche Ahndung geschlechtsbezogener Gewalt entsprechend dem Rom-Statut auch in Deutschland dar.

Dank der rechtlichen Interventionen zur nachträglichen Einbringung des § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB und der beständig vorgebrachten rechtlichen Argumente konnte am 13. Januar 2022 die erste Verurteilung wegen sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland durch das OLG Koblenz erfolgen. Allerdings ist wegen des im Strafrecht zu Recht strikt geltenden Bestimmtheitsgrundsatzes auch klar, dass nur eine Reform des VStGB die in das Gesetzbuch eingeschriebene geschlechtsbezogene Diskriminierung aufheben könnte. Eine entsprechende Stellungnahme erging seitens des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) im März 2022.

Das Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums und weiterer Reformbedarf

Am 23. Februar 2023 veröffentlichte das Bundesjustizministerium ein Eckpunktepapier zur Reform des Völkerstrafgesetzbuchs. Nur die Tatbestandsalternative der sexuellen Sklaverei soll in § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB aufgenommen werden. Angesichts der weitgehenden Vorreiterrolle, die im Eckpunktepapier genannt wird ist eine bewusst beibehaltene geschlechtsbezogene Diskriminierung im VStGB nicht nur politisch misslich, sondern auch eine Verletzung der Pflichten zur Beseitigung geschlechtsbezogener Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz (GG) und der UN-Frauenrechtskonvention.

 


Weiter ins Detail gehende Ausführungen zu diesem Thema finden sich in: Theurer, Karina: Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch als Austragungsort transnationaler Kämpfe um die Ahndung sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten, Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 2-2022, S. 41-56.