Der Ostseeraum und die russische Invasion in der Ukraine

Kommentar

Der anhaltende Wille der NATO-Staaten, die kollektive Verteidigung des Bündnisses zu stärken sowie die Abschreckung und Verteidigung im Ostseeraum zu verbessern, wird für die Sicherheit Europas in den nächsten Jahren von fundamentaler Bedeutung sein.

NATO-Generalsekretär trifft mit den Botschaftern Finnlands und Schwedens bei der NATO zusammen  NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erhält von Klaus Korhonen (bei der NATO akkreditierter Botschafter Finnlands) und Axel Wernhoff (bei der NATO akkreditierter Botschafter Schwedens) offizielle Beitrittserklärungen zur NATO

Europa befindet sich derzeit in einem entscheidenden Moment seiner jüngeren Geschichte. Mit der Invasion in der Ukraine hat Russland den Versuch unternommen, das nach dem Ende des Kalten Krieges entstandene europäische Sicherheitssystem zu untergraben. Prinzipien wie die Achtung der territorialen Integrität von Staaten und ihrer Souveränität, die Wahlfreiheit in der Festlegung der eigenen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die freie Mitgliedschaft in wirtschaftspolitischen Organisationen und Militärbündnissen bildeten seine Grundlage. Diese Prinzipien sind übrigens nicht nur integraler Teil der Charta der Vereinten Nationen, sondern sie sind zugleich in der Charta von Paris für ein neues Europa aus dem Jahre 1990 enthalten, die ursprünglich von der UdSSR unterzeichnet und später von Russland anerkannt wurde. Dadurch wurde den baltischen Staaten, Polen und weiteren mitteleuropäischen Ländern der Weg zu einem Beitritt zu den euro-atlantischen Strukturen freigemacht.

Das in den neunziger Jahren geschaffene europäische Sicherheitssystem stand Russland grundsätzlich offen – das Land wurde zu jener Zeit sowohl von der EU als auch durch die NATO in dem Versuch, eine neue europäische Ordnung zu schaffen, als strategischer Partner wahrgenommen. Unter Putins Führung verwarf der Kreml jedoch nicht nur diese Chance, sondern lehnte generell die Vorteile einer ausgewogenen Partnerschaft ab. Stattdessen setzte er auf Konfrontation. Nach der Machtübernahme durch Wladimir Putin im Jahr 1999 begann der Kreml mit der Restaurierung autoritärer Elemente seiner Innenpolitik und kehrte zur neoimperialen Außenpolitik der Sowjetunion zurück. Das Denken in exklusiven Einflusssphären war eine Folge dieser Kursänderung.

Russlands strategische Ziele

Seitdem verfolgt Russland drei strategische Ziele. Das erste ist die Wiederherstellung der Kontrolle über den postsowjetischen Raum. Dabei hat die Unterordnung der Ukraine Priorität. Die unabhängige Ukraine mit ihrem wirtschaftlichen Potenzial und ihrer strategischen Lage, ihrem demokratischen Regierungssystem und den Verbindungen zum Westen wird vom Kreml als grundlegendes Hindernis für seine innen- und außenpolitischen Absichten wahrgenommen. Das zweite strategische Ziel des Kremls zielt auf die Schaffung einer Pufferzone in Nord- und Mitteleuropa ab, die mit Blick auf die russischen Interessen die Möglichkeiten der Länder im Ostseeraum zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit einschränken würde. Das dritte Ziel besteht darin, die Vereinigten Staaten aus Europa zu verdrängen und Russland ein Vetorecht in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik einzuräumen.

Das Ergebnis der russischen Invasion in der Ukraine wird darüber entscheiden, ob Russland als Folge einer strategischen Niederlage seine neoimperialen Ambitionen in der Außenpolitik begraben wird oder ob lediglich eine strategische Pause in den russischen Feindseligkeiten gegen die Ukraine und den Westen eintritt. Offen bleibt auch die Frage, ob der Westen in der Abschottungs- und Eindämmungspolitik gegenüber Russland seine Einigkeit aufrechterhalten kann. Eine strategische Niederlage des Kremls in der Ukraine ist dabei nicht nur auf ein militärisches Scheitern beschränkt. Vielmehr muss den kurzfristigen Bemühungen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Ukraine und die weitere Bewaffnung ihrer Streitkräfte auch ein tragfähiger mittel- bis langfristiger Plan für die Integration dieses Landes in die euro-atlantischen Strukturen der Europäischen Union und der NATO folgen. Von zentraler Bedeutung ist zudem der anhaltende Wille der NATO-Staaten, allen voran Deutschlands, die kollektive Verteidigung in der NATO zu stärken und die Abschreckung im Ostseeraum aufzuwerten.

Die Reaktion der NATO auf den russischen Krieg gegen die Ukraine

Seit der russischen Annexion der Krim und der Invasion im Donbass im Jahr 2014 hat die NATO damit begonnen, die kollektive Verteidigung im Allgemeinen und ihre militärische Präsenz im Ostseeraum im Besonderen zu stärken. Sie hat vier Battlegroups mit jeweils mehr als 1 000 Soldaten in die Region entsandt, die alle paar Monate in Litauen, Lettland, Estland und Polen rotieren. In der Schwarzmeerregion wurden keine vergleichbaren Kräfte stationiert, abgesehen von gewissen Bemühungen in Rumänien, wo eine multinationale Brigade gebildet wurde.

Der russische Einmarsch in die Ukraine im vergangenen Jahr führte zu einer leichten Neubewertung der Sicherheitslage im Ostseeraum und allgemein an der Nordostflanke. Die östlichen Verbündeten erhielten auf bilateraler Basis durch die US-Streitkräfte und im Rahmen der verstärkten Vorwärtspräsenz der NATO auch durch die westeuropäischen Verbündeten kurzfristig eine erhebliche Verstärkung. Darüber hinaus wurden im März 2022 vier weitere NATO-Battlegroups in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien aufgestellt.

Auf dem NATO-Gipfel in Madrid wurden im Juli 2022 weitere Entscheidungen getroffen – wie üblich in Form einer Kompromissentscheidung. Einerseits räumte das Strategische Konzept 2022 den Abschreckungs- und Verteidigungsaufgaben in der NATO mit dem Ziel, potenziellen Gegnern Aggressionsmöglichkeiten zu verwehren, einen klaren Vorrang ein. Andererseits beschlossen die Alliierten, die bestehenden Battlegroups nur begrenzt zu verstärken sowie den baltischen Staaten und Rumänien kampfbereite Streitkräfte zuzuweisen, ohne diese jedoch dauerhaft zu stationieren. Insgesamt sollen die diesen vier Ländern zugeordneten kombinierten NATO-Streitkräfte jeweils die Größe einer Brigade erreichen.

Polen und Deutschland: Schlüsselakteure

Polen war bisher aus schlicht geografischen Gründen bei der Durchführung kollektiver Verteidigungsoperationen in den baltischen Staaten der wichtigste Verbündete. Wegen des ehemals neutralen Status Schwedens und Finnlands wäre im Falle des Falles der Großteil der alliierten Bemühungen zur Verteidigung der baltischen Staaten über polnisches Territorium und durch die Unterstützung des polnischen Militärs durchgeführt worden. Daher hat Polen ein offensichtliches Interesse an einer starken alliierten Präsenz nicht nur auf seinem eigenen Boden, sondern auch auf dem Territorium Litauens, Lettlands und Estlands. Deutschland spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in der Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie der NATO für den Ostseeraum. Deutsche Streitkräfte sind in den baltischen Staaten engagiert, von ihnen wird eine Beteiligung an den Verteidigungsbemühungen der NATO erwartet. Das Land war zudem ein logistisches Zentrum für die Verlegung von Truppen anderer europäischer Staaten und der USA in Richtung Ostflanke. Die Alliierten würden im Falle einer NATO-Verteidigungsoperation an der Ostflanke, einschließlich des Ostseeraums, deutsche militärische und zivile Infrastruktur – also Luft- und Marinestützpunkte, Häfen, Eisenbahnstrecken und Straßen – sowie in Deutschland gelagerte US-Militärausrüstung nutzen.

Schweden und Finnland: neue Mitglieder der NATO

Der Beitritt Finnlands und Schwedens zum Bündnis wird das Sicherheitsniveau im Ostseeraum erheblich erhöhen. Er wird das bestehende politische und militärische Ungleichgewicht, das derzeit Moskau in die Hände spielt, ändern und die Abschreckungspolitik der NATO verstärken. Er wird zudem klare Grenzen zwischen der NATO und Russland ziehen. Dadurch würde verhindert, dass Russland die Blockfreiheit der beiden Länder ausnutzt, um (z. B. über Gotland oder die Åland-Inseln) mögliche Militäroperationen gegen die baltischen Staaten auszuführen. Auf diese Weise wird der NATO die Verteidigung Litauens, Lettlands und Estlands erheblich erleichtert werden. Gleichzeitig würde die Mitgliedschaft Finnlands jedoch die nordöstliche Flanke des Bündnisses erweitern und Fragen über das Ausmaß der NATO-Präsenz in Finnland und die Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie für dieses Land aufwerfen. Obwohl dieses Thema in Finnland (wie auch in der NATO) noch nicht zu Ende diskutiert wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, dass Helsinki einer größeren ständigen NATO-Präsenz auf seinem Territorium misstrauisch gegenüberstehen und sich stattdessen mit formellen alliierten Sicherheitsgarantien und detaillierten NATO-Verteidigungsplänen zufrieden geben würde. Die Mitgliedschaft beider Länder in der NATO ist für sie ein logischer Schritt, da sie in den letzten Jahren sowohl auf politischem als auch auf militärischem Gebiet eng mit der NATO zusammengearbeitet haben.

 

Justyna Gotkowska ist stellvertretende Direktorin des Zentrums für Oststudien, einer öffentlichen Denkfabrik mit Sitz in Warschau.

Erstveröffentlichung Februar 2023 in englischer Sprache: College of Eastern Europe Wroclaw und Heinrich-Böll-Stiftung Warschau „Europe and the war in Ukraine: DE-PL-UKR perspectives“ (Sammelband)