So kämpft eine Initiative in Berlin gegen Antisemitismus

Reportage

Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus setzt auf politische Bildung, um die zunehmende Spaltung der Gesellschaft aufzuhalten. Ein Jour Fixe für Lehrkräfte soll die Ratlosigkeit im Umgang mit dem Nahostkonflikt mildern. Ein Besuch in Berlin.

im Büro von kiga

7. Oktober 2023

Ein verloren wirkender blauer GPS-Punkt in der Mitte Deutschlands erscheint, wenn man Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V. bei Google Maps eintippt und auf Enter drückt: bitte fehlende Information hinzufügen. Die KIGA hält ihre Adresse online seit kurzem versteckt. Pro-Palästina-Demos auf der Sonnenallee und an Berliner Fassaden geschmierte Davidsterne, Bedrohung und Angst also, haben sie gezwungen, sich besser zu schützen. Seit der Zäsur des 7. Oktober, dem Angriff der radikal-islamischen Hamas auf Israel, fühlen Jüdinnen und Juden sich auch in Deutschland nicht mehr sicher. Bedeutender denn je ist in diesen Tagen die Arbeit von Désirée Galert und Derviş Hızarcı, die mit ihrer Initiative über Antisemitismus aufklären.

Ein Vormittag Mitte Dezember im KIGA

Hinter einer vierstöckigen Baustelle verborgen liegt die KIGA hoch oben in einem Hinterhaus, irgendwo in Kreuzberg zwischen Landwehrkanal und Bergmannkiez. Die Wand neben dem Eingang rechts verdeckt ein Bücherregal, Die Vernichtung der europäischen Juden – 3 Bände neben Hingesehen – Weggeschaut.  Weitläufige, helle Räume mit Betonboden erinnern an ein ehemaliges Lagerhaus. Darin stehen Schreibtische zu Vierer-Inseln zusammengeschoben. Auf einem blau-weißen Poster, das an ein Wahlplakat der AfD erinnert steht „Rassismus erkennen“ geschrieben, daneben auf einem anderen Poster etwas weniger subtil: Björn Höcke ist ein Nazi #stopptdieAfD.

Derviş Hızarcı
Derviş Hızarcı, Vorstandsvorsitzender der KIGA

Derviş Hızarcı, 40, Vorstandsvorsitzender der KIGA, trägt schwarze Jeans und ein schwarzes Sakko. Immer wieder blickt er hektisch zum Bildschirm seines Handys, das vibriert, während er sich zum Gespräch an einen weißen Konferenztisch setzt. Hızarcıs Alltag wurde in den letzten Wochen von dem Wort „eigentlich“ bestimmt. „Eigentlich würde ich Ihnen heute von den Erfolgen unserer Aufklärungsarbeit erzählen und die Wichtigkeit unserer Einrichtung betonen“, sagt er. Die aktuellen Entwicklungen aber erlaubten kein gewöhnliches Interview. Denn eigentlich hätte die KIGA in diesem Jahr zwanzigjähriges Bestehen gefeiert, dann kam der 7. Oktober und ihm und seinen Mitarbeitenden war nicht mehr nach Feiern zumute. Eigentlich sollten sie nun im Dezember die Inhalte für das kommende Jahr planen, aber dann wurde der Bundeshaushalt 2024 gekippt. Nun weiß Derviş Hızarcı nicht einmal, ob er seine 30 Mitarbeitenden im Januar noch bezahlen kann. Es könnten Hunderttausende Euros fehlen, um die Kreuzberger Initiative am Leben zu erhalten. Die Bundesregierung muss ihr Haushaltsloch schließen und insbesondere soziale Projekte wie die KIGA könnten von den dafür nötigen Kürzungen betroffen sein. Hızarcı: „Symbolische Botschaften wie den Channuka-Leuchter mit anzuzünden sind wichtige Schritte, aber dabei darf es nicht bleiben. Wir brauchen eine dauerhafte, strukturelle Förderung unserer Arbeit.“

Broschüren, Schulungsmaterial kiga

In den letzten Wochen arbeite die KIGA wie eine Art Feuerwehr, die ausrücke, um die Flammen des Hasses und der Spaltung der Gesellschaft zu löschen, sagt Hızarcı. „Politische Aufklärungsarbeit funktioniert aber nicht nur akut. Sie ist insbesondere Prävention. Wir bilden, um die Krise zu vermeiden und im Zweifel für sie gewappnet zu sein.“ Krise meint in diesem Fall: vermehrt antisemitische und rassistische Übergriffe, auch unter jungen Schüler:innen. Man brauche mehr Ressourcen, Geld und Personal, um Workshops und Beratung weiterhin anbieten zu können und um dem enorm gestiegenen Bedarf der letzten Wochen gerecht zu werden. Die KIGA stellt Lehrmaterialien zu Themen wie Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungsideologien kostenlos auf ihrer Website bereit. Die Mitarbeitenden gehen in Schulen und moderieren Diskussionen.  

Ein Jour Fixe für Lehrkräfte gegen Erklärungsnot und Ratlosigkeit

Eines der jüngsten Projekte ist ein Jour Fixe, den die KIGA nun wöchentlich, immer donnerstags um 16:30 Uhr anbietet: Umgang mit dem „Nahostkonflikt“ und der aktuellen Situation an Schulen. Ein Termin für Lehrkräfte, Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen, um sich zum Kriegsausbruch in Israel und Gaza und den damit verbundenen Herausforderungen auszutauschen. Hier dürfen sie Fragen stellen, Probleme benennen und die Überforderung miteinander teilen, die viele spüren. „Nahostkonflikt“ sagen sie immer in Anführungszeichen, sagt Désirée Galert, Projektleiterin der KIGA. „Die Gebietsbezeichnung „Naher Osten“ ist ein koloniales Konstrukt. Wir ringen noch nach Worten und haben bisher leider keinen besseren Begriff gefunden, der nicht eurozentristisch, verharmlosend oder anderweitig diskriminierend ist.“ Einige Tage zuvor erreicht man die 41-Jährige am Telefon, während sie zwischen zwei Terminen über den Dreifaltigkeitsfriedhof in Kreuzberg läuft. Sie hat den Jour Fixe am 9. November ins Leben gerufen. „Beim ersten Treffen kamen über 80 Menschen zu uns ins Büro, der Bedarf an Beratung war enorm. Die Ratlosigkeit ist groß“, sagt Galert. Seither führen sie den Austausch jede Woche über Zoom fort. Weil bei den Treffen sensible Themen und intime Gedanken besprochen werden, ist keine Presse zugelassen. So soll ein geschützter Raum gewährleistet werden. Deshalb erzählt die Projektleiterin Galert nun, wie sie die Gespräche erlebt hat.

Allgegenwärtig sei die Angst der Ratsuchenden. Angst davor, die Fragen der Schüler:innen nicht beantworten zu können. Angst, der Klasse zu viel der eigenen Emotionen zu zeigen – oder zu wenig. Angst vor der Aggression mancher Kinder. Angst davor, das Falsche zu sagen und dem Lehrauftrag nicht nachkommen zu können. Wie in einer Art Supervisions-Gruppe beratschlagen die Anwesenden über ihre Erfahrungen seit dem 7. Oktober: Wie erkläre ich meine eigene Fassungslosigkeit? Wie werde ich der Komplexität des Krieges gerecht? Wie erreiche ich Kinder, die von ihrem Elternhaus politisch radikal beeinflusst werden? Sie sammeln die Fragen und sortieren sie. Désirée Galert moderiert und betont: „Wir sagen ganz klar: kein Dialog ist keine Möglichkeit. Wir wollen Räume schaffen, in denen die Heranwachsenden frei fragen dürfen und miteinander reden. Nur durch einen Dialog können wir die verhärteten Fronten erweichen, die wir schon auf Schulhöfen beobachten.“ Die Mitarbeitenden der KIGA haben in den Tagen nach dem 7. Oktober auf die Schnelle eine Handreichung für den Umgang mit dem „Nahostkonflikt“ zusammengeschrieben. Sie ist fünfzehn Seiten lang und enthält Einordnungen, Begriffserklärungen und Anregungen wie „Emotionen in den Unterricht mit einbeziehen“.  

Der Jour Fixe ist ein Anker für die Ratsuchenden im Wirrwarr des überlasteten Bildungssystems. Bestärkt gehen sie aus den Treffen heraus. Einige Lehrkräfte besuchen die Donnerstagsrunde weiterhin, obwohl für sie nach dem ersten Gespräch die drängendsten Fragen geklärt waren. „Viele kommen für den offenen Austausch untereinander, den sie in ihrem Alltag im Kollegium vermissen. Da bleibt oft keine Zeit für Reflexion,“ sagt Galert. „Zu sehen, dass andere die gleichen Fragen quälen, kann unglaublich heilsam sein.“

Gesellschaft steht vor einem Kipppunkt

Désirée Galert

Im Kreuzberger Büro zeigt Désirée Galert, warmes Lächeln, roter Cardigan, jetzt auf ein Whiteboard hinter ihrem Schreibtisch. Daran hängen unzählige Notizzettel, die Ergebnisse eines Workshops mit Lehrenden. Emotionen: Wut. Schock. Trauer. Entsetzen. Pädagogische Herausforderungen: Sachliche Diskussion kaum möglich. Fehlendes Wissen + hohe Komplexität. Fragen von Schüler:innen, die schon Antisemitismus enthalten. Safe Space ermöglichen. Auf die Frage, ob die verschiedenen Farben der Notizzettel eine Bedeutung haben, antwortet Galert: „Nein, für Farbspiele war bei der Menge der Fragen keine Zeit.“

Derviş Hızarcı sieht die Gesellschaft an einem gefährlichen Kipppunkt. Enttäuscht und wütend sei er über die Symbolpolitik der Bundesregierung, fassungslos über die schwindende Solidarität in der Bevölkerung. „Eine gesunde Zivilgesellschaft ist die Basis einer gewollten, geliebten Demokratie.“ Aber wo ist diese Solidarität, wenn bei einer Kranzniederlegung vor der Synagoge am Fraenkelufer am 9. November Mitarbeitende der KIGA von einem vorbeilaufenden Mann als „Kindermörder“ beschimpft werden, wie seine Kollegin Galert es erzählt.

Hızarcı beobachtet drei große Bedrohungen: Populismus und die sinkende Bereitschaft, miteinander zu sprechen und Kompromisse zu finden. Polarisierung und radikale Lager, die gegeneinander kämpfen. Und den zunehmenden Antisemitismus und Rassismus. „Ein offen antisemitischer Politiker wurde in diesem Jahr in Bayern wiedergewählt. Wie kann das sein?“ Die jüngsten Ergebnisse der PISA-Studie, bei der Deutschland so schlecht abschnitt wie nie, sorgen den ehemaligen Politik- und Geschichts-Lehrer besonders: „Wir säen mit der Bildung der Kinder den Samen für ein funktionierendes Miteinander. Wir dürfen nicht nachlassen.“ Das Schlimmste für ihn aber sei, dass in Berlin sozialisierte, integrierte, gut situierte Mitbürger (er sei kein Fan dieser Ausdrücke, aber finde keine besseren) zu ihm kämen und sagten, sie wollen weg von hier. „Das sind Juden und Muslime. Sie fühlen sich nicht mehr sicher bei uns.“

Désirée Galert und Derviş Hızarcı

Désirée Galert erinnert sich an eine Lehrerin, die im Jour Fixe ihre Tränen unterdrückte. „Sie dachte, sie sei die Einzige, die mit ihrem Beruf in dieser Lage überfordert sei. All die anderen Kolleg:innen mit ähnlichen Fragen zu sehen, berührte sie.“ Momente wie diese wirkten noch lange nach, sagt Galert. „Wir sind viele, die das Gute wollen. Das gibt Kraft.“ Galert und Hızarcı versuchen weiterhin, so gut es eben geht, gegen die Schockstarre ob der ungewissen finanziellen Zukunft der KIGA anzuarbeiten.