Wie steht es um die Demokratie? Diese Frage beschäftigt uns im globalen Superwahljahr 2024 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg genauso wie in den USA, in Indien oder im Senegal. Und auch in Ländern, in denen in diesem Jahr nicht gewählt wird, blicken wir gebannt – hoffnungsvoll oder mit Sorge – darauf, wie es um Rechtsstaatlichkeit, Freiheitsrechte und die Möglichkeiten steht, als Individuen in politischen Entscheidungsprozessen Gehör zu finden und mitzubestimmen. Denn Gesellschaften sind vielfältig und müssen unterschiedliche und auch sich widersprechende Bedürfnisse und Interessen aushandeln. Nachhaltig und vor allem friedfertig gelingt dies nur durch Mitbestimmung und Teilhabe, und dies ganz besonders bei den zentralen Themen unserer Zeit: Frieden und Sicherheit, Wohlstand und gerechte Verteilung sowie der sozial-ökologischen Transformation, die jeweils auf individueller und kollektiver Ebene vollzogen werden muss. Wie Imme Scholz, Vorständin der Heinrich- Böll-Stiftung, im Editorial schreibt: Ohne Demokratie ist alles nichts.
Weltweit stehen Demokratien in den letzten Jahren vor großen Herausforderungen. Und auch die Menschen, die sich in Autokratien für Menschenrechte und Reformen einsetzen, sind ständig von Repression und Gewalt bedroht und ihre Handlungsspielräume verkleinern sich weiter.
Nach einer Vielzahl an Erfolgen für die Demokratie seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Kollaps der Sowjetunion herrschte während der 1990er und in den frühen 2000er Jahre ein großer Optimismus, der in den vergangenen beiden Jahrzehnten einer Resignation oder zumindest einer Ungewissheit gewichen ist. Zum einen zeigen die Ergebnisse der Studien des Varieties-of-Democracy-Instituts, wie sich die Indikatoren für Rechtstaatlichkeit sowie die für individuelle Freiheitsrechte wie das Recht auf Versammlung oder freie Meinungsäußerung verschoben haben. Zum anderen sind Bilder von inhaftierten Oppositionspolitiker*innen und von Gewalt gegen friedliche Demonstrant*innen nahezu allgegenwärtig.
Für Rechtsstaatlichkeit, freie Meinungsäußerung und politische Mitbestimmung kämpfen
Was die Bilder aber auch verdeutlichen: Menschen setzen sich dennoch – oder gerade deshalb – für Mitbestimmung und ihre Rechte ein. Anwält*innen und Richter*innen sichern Rechtsstaatlichkeit, Journalist*innen und Podcaster*innen freie Meinungsäußerung; Aktivist*innen, Parteimitglieder und Minister*innen leben politische Mitbestimmung. Die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, variieren stark: von offener politischer Kultur, verfügbaren Ressourcen und etablierten Teilhabemöglichkeiten bis hin zu Verfolgung, Gewalt und Überwachung. Häufig nehmen sie dabei den Verlust ihrer Freiheit bis hin zur Gefahr für Leib und Leben in Kauf, ordnen ihr persönliches Schicksal freiwillig einem kollektiven Anliegen unter. Sie zeigen, dass sie die Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Zukunft nicht aufgegeben haben. Bilder von Menschen, die sich und ihren Anliegen auf den Straßen selbst in Städten wie Hongkong, Minsk oder Yangon gewaltfrei Gehör verschaffen, in Konfrontation mit staatlichen Sicherheitskräften, bezeugen diese Beharrlichkeit besonders eindringlich. Neben vielen weiteren Möglichkeiten, sich für Mitbestimmung und Menschenrechte einzusetzen, hat friedlicher Protest in der jüngeren Geschichte von Demokratie immer eine besondere Rolle gespielt, weitere Entwicklungen angestoßen und konsolidiert. Dieses Heft erzählt die Geschichten von Menschen und Organisationen, die auf die eine oder andere Art an Demokratiebewegungen in ihren Ländern teilgenommen haben oder ihnen zumindest nahestehen. Was treibt diese Menschen an, wie engagieren sie sich, welchen Herausforderungen müssen sie sich stellen? Und daran anschließend stellt dieses Heft auch die Frage, ob und wie Politik diese Menschen stärken kann.
Aus einer Protestbewegung kann eine neue Partei hervorgehen. Es kann aber auch ganz anders kommen, abhängig von den Umständen, der Motivation und den Möglichkeiten der Protagonist*innen. Die Chilenin Antonia Orellana erzählt im Interview, wie ihr Umfeld sie von klein an politisch geprägt hat. Von Kindsbeinen an nahm ihre Familie sie mit auf Demonstrationen, als Schülervertreterin setzte sie sich für die Interessen ihrer Mitschüler*innen ein. Nach einer Laufbahn als feministische Aktivistin berief sie Staatspräsident Gabriel Boric zu Beginn seiner Amtszeit als Ministerin für Frauen und Gleichstellung in sein Kabinett. Ganz anders die Erfahrung von Menschen wie Dzmitry Shershan und Ina Valitskaya, die in Belarus an den Protesten gegen das Lukaschenko-Regime teilnahmen. Sie mussten vor den Repressionen aus ihrem Heimatland fliehen und engagieren sich nun politisch im deutschen Exil – als Mitglieder des Vereins Razam, der den Traum eines demokratischen Belarus am Leben erhält. Hosni el Mokhlis war nach den Demokratieprotesten in Marokko 2011 kurzfristig in einer Partei aktiv, verspürte jedoch schnell wieder den Drang, seine Ausbildung als Theatermacher zu nutzen. Seitdem schafft er mit dem «Theater der Unterdrückten» neue öffentliche Räume für gesellschaftliche Debatten.
Den sozialen Zusammenhalt fördern und spürbar machen
Engagement kann auch darauf zielen, die Möglichkeiten und die Bereitschaft der Mitmenschen zu erweitern, sich für ihre Rechte und die anderer einzusetzen. 2009 gründete sich in Thailand die Initiative iLaw, um die Möglichkeit zu schaffen, sich vor allem im digitalen Raum mit demokratischen Reformprozessen zu beschäftigen und dort auch wirksam zu werden. Ein Bericht von ihrer Kampagnenarbeit zeigt, wie erfolgreich diese Initiative ist. Auch Klangräume können dazu beitragen, dass Menschen sich sicher fühlen, gemeinsam in der Öffentlichkeit für Demokratie einzutreten: So begleitet die Banda Communale seit mehr als 20 Jahren Kundgebungen, fördert durch ihre Klänge den sozialen Zusammenhalt und macht ihn spürbar.
Genauso wie die Formen und Räume des Engagements verändern sich im Laufe der Zeit auch die politischen Ziele und Visionen als Resultat von Diskussionen und Auseinandersetzungen. Antonia Orellana erinnert sich, dass das Verhältnis von linkem politischen Aktivismus und Feminismus in Chile nicht immer konfliktfrei verlief. Dies motivierte sie, eine eigene, inklusivere Partei zu gründen. In seinem Essay wundert sich Jovan Džoli Ulićević, Direktor der Organisation Transbalkan, dass viele Demokratiebewegungen auf dem Balkan noch immer den Schulterschluss mit queeren Bewegungen infrage stellen, wohingegen antidemokratische Kräfte – ohne zu zögern – beides zusammendenken und zu einem Feindbild formen. Als Beobachterin und Kommentatorin von EU-Politik analysiert schließlich Rosa Balfour den Aufstieg rechtsradikaler Parteien und regt an, zu hinterfragen, warum etablierte Parteien offenbar das Vertrauen vieler Menschen verloren haben).
Demokrat*innen solidarisch zu unterstützen erfordert Maßarbeit. Wie individuell die Wege von einer Form des Engagements – wie dem Aktivismus – zu einer anderen Form – wie der institutionalisierten Politik – verlaufen können, bestätigen auch die sechs Porträts der Bildkolumne. Sie stellt Persönlichkeiten vor, die den Weg in und aus der Politik gesucht und gefunden haben. Ihre Geschichten machen deutlich, dass Demokratie auf die unterschiedlichste Art und Weise gestützt werden kann, abhängig von persönlichen Erfahrungen, Motivationen und Ressourcen, und gleichzeitig alle Wege eines gemein haben: den Mut, die eigenen Annahmen immer wieder zu hinterfragen. Gerade aus der Fähigkeit, offen für Veränderungen und Kurskorrekturen zu sein, schöpft die Demokratie ihre Stärke
Immer wieder neu hinschauen, zuhören und Fragen stellen
Stärkung von Demokratie weltweit ist auch ein Grundprinzip demokratischer Außenpolitik. Die Beteiligten, ob Zivilgesellschaft, Philanthropie oder Regierungen, müssen sich mit unterschiedlichen Perspektiven auseinandersetzen. Auch haben sie die Aufgabe zu überprüfen, ob die Ziele mit den eingesetzten Instrumenten und Ressourcen in Einklang zu bringen sind, und sie sollten aus Rückschlägen lernen. Der Beitrag der indischen Sozialwissenschaftlerin Neha Dabhade illustriert, dass selbst der Blick auf demokratische Grundprinzipien wie Säkularismus im Detail sehr unterschiedlich ausfallen kann. Für eine Verständigung und gegenseitiges Lernen müssen alle Seiten bereit sein, die Normen und Erfahrungen der jeweils anderen zu übersetzen. Sergio Rodriguez Prieto beschäftigt sich in seinem Artikel mit der Frage, wie das außenpolitische Instrumentarium auf friedliche, prodemokratische Protestbewegungen abgestimmt werden kann. Die grüne Bundestagsabgeordnete Schahina Gambir analysiert in ihrem Kommentar, welche Lehren die Politik aus dem Engagement in Afghanistan ziehen muss, um weiter weltweit glaubwürdig für Demokratie und Menschenrechte einzustehen. Ihr Beitrag zeigt, dass jeder Ort, jede Situation sowohl Protagonist*innen wie auch Unterstützer*innen immer wieder neu herausfordert, zuzuhören, hinzusehen und Fragen zu stellen. Demokratie lebt auch von der ständigen Anpassung – dadurch bleibt sie resilient.
Menschen in die Lage zu versetzen, sich für Mitbestimmung und individuelle Freiheitsrechte einzusetzen, ist eine gemeinsame globale Aufgabe. Auch die europäischen Demokratien können von den Erfahrungen anderer Länder lernen – die Probleme wie etwa Desinformation sind häufig die gleichen. Neben Rosa Balfour beschreibt auch Elene Panchulidze die demokratiespezifischen Herausforderungen für die Europäischen Union, sowohl hinsichtlich der eigenen Entscheidungsprozesse als auch dem Schutz vor der Einflussnahme von außen. Und auch in Sachsen stellt sich die Frage, was es braucht, damit motivierte Menschen den Mut finden, sich Rechtsextremismus entgegenzustellen – zum Beispiel laute Musik, wie es die Banda Comunale erfahren hat.
Das letzte Wort schließlich kommt aus Afghanistan und fordert trotz aller Widrigkeiten eindrücklich auf, das internationale Engagement für Demokratie und Menschenrechte fortzusetzen – um die Demokrat*innen nicht allein zu lassen.
Rasmus Randig ist Referent für Internationale Demokratie und stellvertretender Leiter der Globalen Einheit für Demokratie und Menschenrechte der Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel. Er studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Glasgow und Konstanz und arbeitete im Bereich Krisenprävention und Stabilisierung im Auswärtigen Amt.