Halida Uzunović, eine bosnische Kriegsüberlebende, erzählt über ihre Erfahrungen aus dem Bosnienkrieg, insbesondere über die erschütternden Ereignisse in Foča, das für brutale ethnische Säuberungen bekannt ist. Die ehemalige Leiterin der Vereinigung der Kriegsopfer in Foča, reflektiert über ihr Engagement, das Schweigen über diese Gräueltaten zu brechen und sich für Wahrheit und Gerechtigkeit für die Überlebenden und die Opfer einzusetzen, trotz der anhaltenden gesellschaftlichen Stigmatisierung und Leugnung durch bestimmte politische Instanzen.
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Triggerwarnung: Dieses Interview enthält Beschreibungen physischer, sexualisierter und psychischer Gewalt.
DIE WAHRHEIT MUSS AUF DEN TISCH
Marion Kraske: Der Autorin, Nejra Mekić Korkmaz aus Foča haben Sie Ihre schwere Lebensgeschichte erzählt, die Nejra in einen Roman einfließen ließ. Der Titel lautet: Orijent. So hieß das Restaurant, das Ihren ermordeten Brüdern Konjo gehörte. Es geht um die Geschichte einer Familie in Foča, ein kleiner Ort 70 Kilometer südöstlich der bosnischen Hauptstadt Sarajevo gelegen. Sie haben einmal gesagt, das Universum habe Sie beide auf dem Weg zur Wahrheit zusammengeführt. Was meinen Sie damit?
Halida Uzunović: Das Buch ist meine wahre Geschichte aus Foča, die auch das Leid meiner Vorfahren aus dem 2. Weltkrieg beinhaltet. Die Autorin Nejra und ich trafen uns zufällig, ich war vier Jahre lang Präsidentin der Vereinigung der Kriegsopfer von Foča 92–95. Mein letzter irdischer Wunsch war es, meine Geschichte zu erzählen. Und so kam es, dass Nejra das alles aufgeschrieben hat. Ich wollte diese Welt nicht verlassen, und diese Wahrheit mitnehmen. Diese Wahrheit hat mich so sehr verletzt, hat mich zerstört, ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich wollte den Fehler meiner Vorfahren, meiner Großmütter, korrigieren, die im Zweiten Weltkrieg dasselbe erlebten, was ich 1992 bei der Aggression in Foča erlebte. Ich wollte diesen Weg der Scham, des Schweigens verlassen. Und ich wollte meine Geschichte strahlend erzählen. Ich wollte mich den mächtigen Lügen widersetzen, die eine größere Resonanz haben als unsere Wahrheit. Wir kamen auf diesem Weg zusammen. Nejra kam als Geschenk in mein Leben, um mir zu helfen, das auszudrücken, was mich schmerzte.
Orijent ist ein Roman, der sich an den historischen Gegebenheiten der Krieges orientiert. Was war das Wichtigste, das sie dem Publikum mitteilen wollten?
Die Wahrheit, genau diese Wahrheit. Stigmatisierung, Besorgnis, eine Art Scham, über die die meisten Frauen nicht sprechen. Das kann ich verstehen. Auch ich habe 29 Jahre lang “feige” geschwiegen. Diese Last hat meinen Körper und meinen Geist in Stücke gerissen. Dann sagte ich mir: Warum soll ich schweigen? Warum sollen diese Kriminellen gefahrlos durch Serbien, Montenegro, Foča herumspazieren,warum? Aber es erforderte wirklich viel Kraft und Mut, um das alles nach außen zu tragen.
In dem Buch Orijent wird das Leben Ihrer Familie in Foča beschrieben. Wie lebten Sie vor dem Krieg und was haben Sie dann ab April 1992 erlebt?
Wie viele Bosnier und Herzegowiner lebten wir glücklich, zufrieden und wohlhabend. Ich hatte eine wundervolle Familie, zwei ältere Brüder, zwei ältere Schwestern, Eltern, einen Ehemann, der mich sehr liebte, und einen 5-jährigen Sohn. Es hat uns an nichts gefehlt. Ich arbeitete als Sekretärin des Präsidenten der Gemeinde Foča, mein Mann arbeitete im Krankenhaus. Im März 1992 feierten wir den 5. Geburtstag unseres Sohnes und dachten, dass unser Glück kein Ende nehmen würde. Dann, im Frühjahr 1992, fiel Foča jedoch schnell, in weniger als sieben Tagen, in die Hände der VRS (Armee der Republika Srpska) und der JNA ( Jugoslawische Volksarmee), wobei sie Unterstützung von paramilitärischen Formationen aus Montenegro und Serbien hatten. Wir erkannten sie an den Abzeichen auf ihren Militäruniformen, auf ihnen stand „Weiße Adler, Serbische Garde“ – und an der Art, wie sie sprachen, an ihrem Ekavisch. Foča ist eine kleine Stadt, in der es leicht ist, jemanden zu erkennen, der nicht dort lebt.
Erklärtes Ziel der serbischen Politik des damaligen serbischen Machthabers Slobodan Milošević war es, ein Groß-Serbien zu schaffen. Bosnische Gebiete wurden einverleibt. Vor dem Krieg lebten in Foča rund 50 Prozent Bosniaken (muslimische Bosnier*innen), ab Frühling 1992 wurde dann die nicht-serbische Bevölkerung terrorisiert. Wie erlebten Sie diese Ereignisse?
Die Stadt fiel blitzschnell in die Hände der serbischen Einheiten. Sie war hermetisch abgeriegelt, blockiert, niemand konnte hinein oder hinaus. Wir lebten am linken Ufer des Drina-Flusses, und vielleicht hätten wir uns retten können, wenn wir am rechten Ufer gelebt hätten – wo ein Durchbruch nach Ustikolina und Goražde möglich gewesen wäre. Aber das war unser Schicksal, wir waren am Stadtrand gefangen, wo mein
Vater ein Haus hatte. Wir waren alle zusammen. Eines Tages kamen die bewaffnete Armee und die Militärgarde, bestehend aus einheimischen und „importierten“ Soldaten aus der Region, unter der Führung von Gojko Janković, einem Kriegsverbrecher...
Auf dem Lastwagen seiner Einheit stand „Čelebićki Četnici“ (Tschetniks aus Čelibići). Sie sperrten uns in einem Haus ein, trennten die Männer von den Frauen und Kindern, es war höllisch. Die Männer wurden gefangen genommen und in Lastwagen zu einem vermeintlichen Verhör gefahren. Allerdings überlebte keiner von ihnen. Sie wurden zur KPD (Haftanstalt in Foča) gebracht, wo sie getötet wurden, meine beiden Brüder und mein Ehemann, damals erst 32 Jahre alt. Ich habe seine Überreste noch nicht gefunden, die von den beiden Brüdern habe ich immerhin finden können. Es war, milde ausgedrückt, die Hölle.
Was geschah mit den Frauen?
Sie befahlen uns, das Haus nicht zu verlassen, angeblich um uns zu schützen. Das stimmte jedoch nicht. Sie können sich vorstellen, was für eine Hölle losbrach, was sie mit diesen armen Frauen machen konnten, die allein und hilflos zurückblieben, ohne ihre Angehörigen. Was soll ich sagen, es war schrecklich.
Sie haben keine Informationen über ihren Ehemann?
Nein, ich bin mehrmals zum Institut für die Suche nach vermissten Personen (Institut za nestale osobe BiH) gegangen, es gab keine Spur. Bis heute nicht. Wahrscheinlich hat die Drina ihn weggespült. Tausende Bosniaken wurden getötet, am einfachsten konnten sie sie in Decken zur Karlsbrücke tragen. Die Suche nach mehr als 600 Vermissten in Foča dauert noch an, jede dritte vermisste Person ist eine Frau. Sie liegen meist in den Tiefen der Drina. Der Fluss wird niemals austrocknen, eine Exhumierung dieser Größenordnung kann niemals durchgeführt werden. Die Drina ist das größte Bosniakengrab auf dem Balkan.
Überlebende von Kriegsverbrechen berichten immer wieder, wie wichtig das Auffinden der getöteten Familienmitglieder für sie ist.
Ja, das ist es. Ich bin traurig, sehr traurig. Mein Sohn wünscht sich eine Grabstätte für seinen Vater, mein Enkel für seinen Großvater. Ich möchte, dass die Knochen gefunden und würdevoll begraben werden. Mein Mann hatte es nicht verdient, so zu enden. Kriege finden statt, Armeen kämpfen. Ich dachte, sie würden sich gegenseitig auf den Schlachtfeldern töten. Aber was unsere Nachbarn, die Serben, getan haben, war kein Krieg. Das war eine ethnische Säuberung, ein Genozid an den Bosniaken, die völlige Zerstörung eines Volkes, denn die Drina war die jahrhundertealte, imaginäre Grenze “Großserbiens”.
Immer wieder wird dieser Begriff „ethnische Säuberung” verwendet. Klingt das in Ihren Ohren wie Euphemismus?
Nehmen Sie mein Beispiel: Es reichte nicht aus, dass sie meine beiden Brüder und meinen Mann getötet haben, sie waren noch nicht einmal 35 Jahre alt. Es reichte ihnen nicht, dass sie alles zerstörten, in Brand steckten, alle 17 Moscheen in Foča dem Erdboden gleich machten. Zusätzlich wurden die Frauen eingesperrt, gefoltert, als Sklavinnen gehandelt und vergewaltigt. Und das alles mit einem Ziel: Alle Spuren der Existenz von Bosniaken in diesen Gebieten auszulöschen. Wenn man einer Frau so etwas antut, ist sie nicht mehr in der Lage zu leben, ein Kind großzuziehen oder als normaler Mensch durchs Leben zu gehen. Ich denke, dass es keinen adäquaten Ausdruck dafür gibt, um solche Gräueltaten an einem Volk, besonders aber an den Frauen zu beschreiben.
Woher nehmen Sie die Kraft, dies alles öffentlich zu machen und sich den Herausforderungen der Vergangenheitsbewältigung zu stellen?
Es gibt eine höhere Macht, die mir die Kraft gegeben hat, normal, klug, mutig, würdevoll zu bleiben und die Frau zu bleiben, die ich bin. Tapfer den Feinden und bösartigen Menschen zu trotzen. Ich habe bewiesen, dass ich nicht hasse. Als Präsidentin der Vereinigung der Kriegsopfer von Foča 92–95 traf ich die Frauen in Schwarz (Žene u crnom), Staša Zajović…
Ja, seitdem sind wir unzertrennlich, sie haben mir viel Kraft, Unterstützung und Mut gegeben. Wir treffen uns regelmäßig und sprechen miteinander, sie organisierten das Frauengericht 2023, bei dem wir aussagten. (Anmerkung: Das Frauengericht ist ein symbolischer Ort der Anklage gegen Gewalt an Frauen und fand am 1. Mal 2015 zum ersten Mal in Sarajevo statt). Ich habe bewiesen, dass ich ein Mensch bin, dass ich mich von den Schurken unterscheide, die sich nicht schämen, in Foča, Belgrad und wo immer sie sind, frei herumzulaufen.
Was bedeutet es für Sie, dass die Frauen in Schwarz ausgerechnet in Belgrad ihren Sitz haben und dort arbeiten?
Ich wünschte mir, dass es in Bosnien und Herzegowina auch eine so starke Institution gäbe, mit gebührendem Respekt vor allen Institutionen, die ihre Arbeit hier gut machen. Wenn es in Bosnien und Herzegowina so etwas wie Frauen in Schwarz gäbe, gäbe es mehr ermutigte Frauen, die über die begangenen Verbrechen schreiben und sprechen würden und damit ein gesünderes und einfacheres Leben führen könnten als bisher. In Bosnien dominieren nach wie vor Stigmatisierung, Angst und Scham. Um eine so schwierige Geschichte zu erzählen, die eine Frau in den Wahnsinn treiben kann, braucht sie jemanden, der ihr mit ganzem Herzen, viel Einfühlungsvermögen und Respekt begegnet. All das machen Frauen in Schwarz, vor allem Staša Zajović. Sie macht das hervorragend, sie weiß, wann sie sprechen soll, wann uns vielleicht ein Ausflug in die Natur gut tun würde, wann sie die Gespräche zu diesen schwierigen Themen abbrechen muss. Diese Frauen verdienen den Friedensnobelpreis für das, was sie für die Überlebenden sexualisierter Gewalt auf dem Balkan tun.
Im Bosnienkrieg wurden Vergewaltigungen systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Es ging dabei nicht um Einzeltaten, vielmehr richteten sich diese Verbrechen gegen das muslimische Volk; es waren dezidiert genozidale Absichten damit verbunden. Wie gehen Sie heute mit diesem Thema um?
Eine Kugel im Krieg ist die schmerzloseste Variante, sie tötet dich, du bist weg und das war's. Was sie uns im Bosnienkrieg angetan haben, ist so unvorstellbar, so unmenschlich, abscheulich und brutal, dass es erschreckend ist. Ein Mädchen vor den Augen ihrer Mutter zu vergewaltigen, eine Mutter vor den Augen ihrer Tochter – das ist die Hölle. Diese Verbrechen, die auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Foča basierten, wurden als Kriegsverbrechen eingestuft. Jemand, der zivilisiert ist, kann nur mit Ekel und Verachtung auf diese Gräuel schauen.
Foča liegt heute in der Republika Srpska, dem serbisch dominierten Teil Bosnien und Herzegowinas, in dem die politische Führung die Verbrechen nach wie vor leugnet. Welche Erfahrungen machen Sie heute mit diesen politischen Strukturen?
Später, nach allem, was mir passiert war, habe ich mich bei den Behörden darüber erkundigt, was meine Eltern und meine Oma im 2. Weltkrieg erlebt hatten. 1942 wurde meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, von den Tschetniks aus Čelibići vor der Haustür getötet, mein Onkel Halim verschwand und wurde nie gefunden. Das Schlimmste aber war, dass ich, während ich für das Buch Orijent interviewt wurde, auch nach den Sterbeurkunden meines Großvaters und Onkels gesucht habe und in Foča existieren sie nicht. Man hatte sie aus den Geburtsurkunden gelöscht, als hätte es sie niemals gegeben. Alles das ist die letzte Phase des Genozids an einem Volk: Das Löschen und die Leugnung der Taten.
Als ich die Sterbeurkunde für meinen Mann erbat, weil er 1992 ermordet wurde, erhielt ich eine Sterbeurkunde aus Ost-Sarajevo (Teil der Republika Srpska), aus der hervorgeht, dass mein Mann 1991 eines natürlichen Todes gestorben ist. Diese Verbrechen, bei denen die Bosniaken in diesen Gebieten erst getötet und nun auf derartige Weise noch verspottet werden, hören offenbar nie auf. Es war kein Krieg, es war die völlige Vernichtung eines Volkes. Eine Frau vergewaltigen, sie vor dem Kind erniedrigen, sie versklaven, als Sexsklavin verkaufen - alles mit der Absicht, dass sie nicht mehr lebt, dass sie nicht zurückkommt in ihren Heimatort, das ist ethnische Säuberung - darum geht es. Es bringt mich um, es zerstört.
Ich befahl mir selbst, nicht länger den Mund zu halten!
Welche Hilfen erhalten Sie heute?
Ich befahl mir selbst, nicht länger den Mund zu halten! Wenn meine Oma und Mutter schweigen mussten, muss ich das nicht tun. Ich habe Hilfe, ich habe die Unterstützung von Psychologen, der Frauen in Schwarz, NGO´s, allen normalen Menschen und Frauen, die wollen, dass dies alles nicht vergessen wird.
Ich will nicht eine ganze Nation beflecken, alle meine Schulfreundinnen waren Serbinnen waren: Slavica, Zorica…
Mein Vater hat während des Zweiten Weltkriegs seine Mutter und Familie verloren, aber er sprach nicht darüber. Und wenn er geredet hätte, wäre es mir vielleicht erspart geblieben, in die Hände von Verbrechern zu fallen. Mir geht es heute darum, dass wir nicht hassen, keinen Hass schüren, sondern schlicht das sagen, was passiert ist. Alles, was ich gesagt habe, reicht im Vergleich zum Ausmaß der Verbrechen ohnehin nicht aus. Das bedeutet nicht,dass alle Serben so sind, es gibt gute Menschen. Am Anfang durfte uns in Foča niemand helfen, sonst hätte man auch sie getötet.
Etwa mein Arbeitskollege Dragan Gagović, er war freundlich und schämte sich fast als er mich zum Besuch in das größte Konzentrationslager für Männer (KPD) brachte, als ich nach meinem Mann suchte. Mein Mann wurde dort festgehalten und später grausam getötet und da haben mein Sohn und ich ihn zum letzten mal gesehen. (Anmerkung: Dragan Gagović wurde später, 1999, von französischen SFOR-Soldaten erschossen, er war der erste Mitangeklagte wegen Vergewaltigung auf der Foča-Liste vor dem Internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien, ICTY).
Frauen und Mädchen wurden in Foča und Umgebung monatelang einkaserniert, vergewaltigt und versklavt. Vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag wurden diese Taten zum ersten Mal als Kriegsverbrechen anerkannt. Wie wichtig ist die Tatsache für Sie, dass mehrere Täter wegen dieser Gräueltaten verurteilt wurden?
Nichts wird meinen Schmerz und mein Leid mindern, aber natürlich ist es eine Genugtuung und es bedeutet viel, wenn das Urteil gefällt wird und wenn die Täter den wohlverdienten Titel tragen. Wie beschämt und verlegen sie sind, weiß ich nicht - und es ist mir auch egal. Für jedes Opfer bedeutet es etwas, dass jeder Täter einen Platz genau dort hat, der ihm gebührt – auf der Liste der Kriegsverbrecher.
Trotz der Urteile des Haager Tribunals setzen vor allem die politische Führung in Serbien und auch viele Täter weiterhin auf eine Leugnung der Verbrechen. Was setzen Sie dem als Überlebende entgegen?
Sie sind so vernarrt in ihre Lügen und Missetaten, dass es einfach unverständlich ist. Völkermord und Verbrechen nicht anzuerkennen. Schauen Sie sich die Situation in Serbien und der Region an. Wir werden keinen Fortschritt erzielen, bis nicht alles geklärt ist, die Verbrechen gestanden sind und die Wahrheit ans Licht kommt. Die Wahrheit muss ans Licht. Wir sehen ja die Folgen dieser systematischen Leugnungen: Es herrscht Chaos in der Region. Ohne die Wahrheit gibt es keinen gesunden Fortschritt, keine Aussöhnung.
Fühlen Sie sich von diesen Lügen angespornt, diese Unwahrheiten zu korrigieren?
Der ehemalige Kommandant, und Flüchtiger vor dem Gesetz, Marko Kovač, der beschuldigt wird, die Zerstörung der Aladža-Moschee in Foča und weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, schrieb ein Buch, das schrecklich zu lesen ist: Es handelt davon wie serbische Soldaten von Frauen, muslimischen Frauen, vergewaltigt wurden. Das sind solch abscheuliche Lügen, dass ein normaler Mensch sie nicht fassen kann. Dieses Buch sagt alles über das Bewusstsein dieser serbischen Verbrecher aus. Mit ihren Leugnungen beleidigen sie die Ehre und den Intellekt von uns Überlebenden.
Gibt es überhaupt eine Kompensation bzw. Entschädigung für die Verbrechen? Was sind die Kriterien? Und wie einfach ist es, so eine Unterstützung zu bekommen?
Die Föderation BiH (bosniakisch-kroatischer Landesteil) erkennt rechtlich den Status „ziviles Opfer des Krieges“ an. Um den Status zu erhalten, brauchen Personen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, eine offizielle Bestätigung ausgestellt durch die „Vereinigung der Frauenopfer des Krieges“, sowie eine entsprechende medizinische Dokumentation.
Durch den Status erhält man eine monatliche Unterstützung. So viel ich weiß, haben bislang nur sehr wenige Frauen diesen Status erhalten. Die wahre Opferzahl ist aber weitaus höher. Darunter sind nicht nur Frauen, sondern auch Männer, die teilweise noch ein größeres Trauma erlitten haben und in der Gesellschaft noch stigmatisierter sind als Frauen. Diese Verbrechen werden niemals als solche anerkannt, man spricht kaum darüber. Damit sie sich nicht wiederholen, müsste man jedoch viel häufiger darüber sprechen. Damit die Überlebenden Mut fassen und sich vom Stigma und vom Schweigen befreien können, ist viel Zeit, Aufmerksamkeit und eine adäquate Behandlung erforderlich, an allem aber fehlt es in unserem leidgeprüften Land.
Haben Sie das Gefühl, dass der Staat genug für die Überlebenden und die Opfer tut?
Ich denke, es sollte viel, viel mehr getan werden. Die beste Kompensation wäre eine kontinuierliche, adäquate, professionelle psychologische Hilfe für alle, die irgendeine Form von Missbrauch im Krieg durchlebt haben. Wenn ich von Überlebenden in europäischen und skandinavischen Ländern höre, wie privilegiert sie sind, was für vielfältige Angebote sie haben: Kurbehandlungen, psychologische Betreuung, Workshops... Von solchen Angeboten sind wir weit entfernt. Es sollte eine Institution geben, die sich nur mit diesem Thema befasst und an die sich die Überlebenden jederzeit und selbständig wenden können. Alles wäre viel einfacher. Wie viele Frauen haben diese Welt verlassen und sind mit dieser riesigen Wunde gestorben, ohne dass sie überhaupt darüber sprechen konnten? Sie saßen allein mit ihrem Schmerz zwischen ihren vier Wänden. Ich kenne einige von ihnen.
Haben die Institutionen der Republika Srpska, die in den Urteilen des Haager Tribunals als für die Taten verantwortlich identifiziert wurden, den Überlebenden Hilfe geleistet?
Das weiß ich nicht. Republika Srpska ist durch unser Blut und unser Leiden entstanden. Nehmen Sie das Beispiel der Sterbeurkunde für meinen Mann, von der ich erzählt habe. Was produziert die RS in dieser Hinsicht- außer Lügen, Betrug und Verbrechen?
Das ICTY hat in dem Fall der Angeklagten Simatović und Stanišić, beide aus dem serbischen Geheimdienst-Apparat, geurteilt, dass sie für die ethnischen Säuberungen und andere Verbrechen in Bosnien und Herzegowina sowie Kroatien mit verantwortlich sind. Daraus ergibt sich auch eine Verantwortlichkeit des Staates Serbien. Mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg gibt es nach wie vor Debatten: Polen verlangt weitere Entschädigung von Deutschland. Besteht die juristische Möglichkeit, auch von Serbien eine Entschädigung zu erhalten?
Man kann Deutschland nicht mit Bosnien oder Serbien vergleichen. So etwas wurde nie von Bosnien und Herzegowina in Richtung Serbien kommuniziert. Leider haben wir niemanden, der uns wirklich vertritt. Die Urteile vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal wurden für uns nicht rechtzeitig geltend gemacht.
Im Fall meiner Verwandten, die mit ihrer Familie nach Montenegro geflohen war, wurden alle drei ihrer Brüder nach KPD Foča zurückgebracht und getötet. Montenegro entschuldigte sich später dafür und zahlte eine Entschädigung für die Abschiebung. Natürlich ist es einfacher, wenn der Staat seine Fehler zugibt und für Genugtuung sorgt. Es schmerzt uns, dass wir in Bosnien hierfür keine politischen Vertreter haben, die uns bei so einem Unterfangen unterstützen würden. Wir haben genug Frauen, die das könnten.
Die Organisation Vergessene Kinder des Krieges (eine Vereinigung jener Kinder, die infolge von Vergewaltigungen geboren wurden) mit ihrer Präsidentin Ajna Jusić versucht seit Jahren, die legale Situation der Opfer von Vergewaltigungen zu verbessern. Seit 2006 hat Bosnien ein Gesetz, das eine neue Kategorie für die zivilen Opfer des Kriegs schafft, womit sie nunmehr auch Ansprüche haben. Viele Betroffene klagen jedoch darüber, dass die Implementierung des Gesetzes mangelhaft ist. Was fehlt konkret?
Hut ab vor Ajna Jusić, für ihren Mut und ihr Engagement, ihren Weg. Ich bin stolz auf die bosnische Jugend, die daran arbeitet, diesen Krieg aufzuarbeiten. Egal wie viel getan wird, im Vergleich zu den Verbrechen, die an uns Frauen begangen wurden, ist es zu wenig. Wir wissen, was eine Frau in der Gesellschaft, in der Familie, zu Hause und in unserem Staat ist. In unserem Land sagen alte Leute, dass eine Frau die drei Säulen eines Hauses ist. Wenn eine Frau gesund ist, sind Gesellschaft und Familie gesund. In Bosnien mangelt es an vielem, etwa an einer starken Institution für die Überlebenden. Es sollten zudem nicht nur Frauen sein, die sich engagieren, auch Männer sollten das Thema aufgreifen. Vor allem aber sollte sich die Mehrheit der Frauen für die Bedürfnisse der Kriegsopfer einsetzen.
Es ist einfach unmöglich, dieses Trauma dauerhaft mit sich herum zu tragen und dabei gesund zu bleiben.
In BiH wurden im Krieg Schätzungen zufolge 20.000 bis 50.000 Frauen und Mädchen vergewaltigt, dennoch stehen sie heute am Rande, sie sind im politischen Diskurs mit ihren Geschichten kaum zu sehen. Wie ließe sich das ändern? An den Schulen, an Universitäten, in den Medien? Was müsste an den Schulen/im Bildungswesen gelehrt werden, damit der Blick auch den Überlebenden und den Opfern gerecht wird?
Zunächst einmal sollte das Thema der Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung an Schulen und Universitäten eingeführt werden, es sollten mehr Workshops zu diesen Themen angeboten werden. Hier muss einiges verbessert werden, auferlegte Tabus müssen endlich auf den Tisch. Es ist viel einfacher und schmerzloser, sie zu umgehen, den Mund zu halten und davor wegzulaufen,
Ich spreche aus Erfahrung wenn ich sage: Hätte ich das alles nicht angesprochen, wäre ich glaube ich nicht mehr am Leben. Das Schweigen über mein Trauma hatte meinen Geist und meinen Körper fast zerstört - jetzt bin ich ein anderes Ich. Alles auszusprechen hat mich teilweise geheilt. Die Heilung wird nie vollständig sein, aber es ist, als wäre eine große Last, die mich niederdrückte, von mir gefallen. Mit dieser Wahrheit komme ich der Heilung näher. Einige meiner engsten Freundinnen und Verwandten denken nicht so. Sie schweigen immer noch und und leben mit so viel Schmerz. Ich denke, dass das Verheimlichen dieser schweren Verbrechen sie krank macht. Es ist einfach unmöglich, dieses Trauma dauerhaft mit sich herum zu tragen und dabei gesund zu bleiben. Ich sage es nicht nur als Überlebende, die Wissenschaft bestätigt das auch.
Diese enorme Zahl der Verbrechen bedeutet auch, dass es Tausende von Tätern gibt, die noch immer frei herumlaufen, in Bosnien und Herzegowina, aber auch in den Nachbarländern Kroatien und Serbien; einige Täter sind auch in die EU gezogen. Wie soll eine Gesellschaft mit diesen Themen umgehen, was wünschen sie sich von den heimischen Politikern?
Kein normales und gewissenhaftes Land würde die Verschleierung und Verherrlichung von Kriegsverbrechen zulassen, wie es teilweise in Serbien getan wird. Das sagt viel über ihre Politik und ihre Absichten. Von den Politikern hierzulande erbitte ich, mutig zu sein, so wie wir Überlebende. Nicht vor der Wahrheit davonzulaufen, mit ihr zu leben, sie zu akzeptieren, um eines gesunden Lebens wegen. Unsere ist eine kranke Gesellschaft. Selbst im Frieden tötet das System Menschen, das haben wir vor kurzem während der Überschwemmungen gesehen. Politische Machthaber und Kriegsprofiteure, die Wälder abholzen, den Lauf von Flüssen verändern, können uns auch in Friedenszeiten töten.
Sehen Sie für Ihre Themen einen strategischen Partner zur Versöhnung?
Lassen Sie uns Menschen wie Ajna und Staša zu PräsidentInnen machen, mit Ihnen würden unsere Länder gedeihen. Von den nationalistischen Parteien halte ich nichts, sie haben uns zur Verzweiflung gebracht, ignorante Leute, die sich nur um ihre Karriere kümmern und die Bedürfnisse der Menschen ignorieren. Ich habe Angst, in Sarajevo auszugehen. Ich wünschte, es gäbe ein Land, in dem Frieden und Liebe herrschen, wo ich frei und friedlich den Rest meines Lebens verbringen könnte. Ich wünsche mir für die ganze Welt Frieden und Wohlstand.
Im Westen heißt es oft: Der Krieg ist schon so lange vorbei, In ihrem Buch machen Sie klar: Gerade für die Frauen, für die Opfer des Krieges ist es noch nicht vorbei. Die Internationale Gemeinschaft setzt – wie schon in den 90er Jahren – auf Beschwichtigung gegenüber den Nationalisten in der Region, vor allem gegenüber der serbischen Führung, es werden Wirtschaftsabkommen geschlossen. Wie lässt sich die Frauenperspektive, die Perspektive der Überlebenden sexualisierter Gewalt auch bei den Internationalen Akteuren stärker ins Bewusstsein bringen? Was wünschen Sie sich konkret?
Ich wünsche mir, dass man etwas für die Opfer des Krieges, vor allem für die Frauen machen würde. Das geschieht aber nicht. Als ich Präsidentin des Vereins der Opfer von Foča war, starteten wir eine Initiative für die Sporthalle „Partizan“, wo viele Verbrechen stattgefunden haben. Wir wollten eine Erinnerungstafel für den Ort des Verbrechens. Die Behörden schlugen vor, das Plateau vor der Halle in einen Friedenspark umzuwandeln, das würde niemandem schaden oder jemanden am Weiterleben hindern. Am Ende haben wir nichts erreicht, weder die lokale UN-Vertretung, die wir kontaktiert hatten, noch wir als Verein. Die Behörden in Foča haben sogar ihre Büros verschlossen, jede unserer Anfragen wurde ignoriert. Gegen diese nationalen Machthaber in Foča, die immer noch auf ihrem Thron sitzen, kann niemand etwas ausrichten. Auch die Vereinten Nationen als die stärkste internationale Institution, können ihnen nichts anordnen. Sie können nicht oder wollen nicht. Vermutlich beides.
Zur Aussöhnung bedarf es mitunter des Drucks von außen, das war nach dem 2. Weltkrieg auch im Umgang mit Nazi-Deutschland so. Damals haben die Alliierten die Ziele von Denazifizierung und Denationalisierung verfolgt. Sie haben dafür gesorgt, dass das Bildungswesen dezentralisiert aufgebaut wurde, demokratische Medien wurden etabliert. Nun aber fehlt der Druck auf die Akteure des Bosnienkriegs, auf Serbien, auf Kroatien (Anmerkung: Beide Länder wollten Bosnien aufteilen). Und nun, fast 30 Jahre nach Kriegsende propagiert etwa der serbische Präsident Aleksandar Vučić neuerlich ein Großserbien. Dies ist eine Fortsetzung der imperialen Politik, die zu jenen Verbrechen geführt hat und dessen Überlebende Sie sind. Sie haben einen Appell frei: Was ist Ihre Botschaft an die Internationale Gemeinschaft, um neue Aggressionen – etwa gegen Bosnien - wie in den 90ern - zu verhindern?
Ich denke nicht, dass man momentan etwas ausrichten kann. Zumindest nicht, solange Serbiens Präsident Aleksandar Vučić sicher auf seinem Thron sitzt, er fühlt sich mit der Unterstützung der großen Weltmächte China und Russland mächtig. Momentan will keiner hier in der Region von seinen nationalistischen Agenden abgehen. Die offizielle Politik Serbiens, die auf der Leugnung der gerichtlich festgestellten Tatsachen basiert, ist der Motor der Radikalisierung in Serbien und in der Region.
Wir brauchen jemanden, der die Macht der Nationalisten beendet.
Ajna Jusić von der Organisation Vergessene Kinder des Krieges hat in diesem Jahr von der US-Regierung eine Auszeichnung erhalten – als „Frau des Mutes“[1]. Sie zeigen auch ein hohes Maß an Courage, mit Ihrem Buchprojekt. Haben Sie je darüber nachgedacht, selber in die Politik zu gehen und von da aus Wandel und Aussöhnung anzuschieben?
Ich bin wirklich traurig, dass ich in einem so nationalistischen System lebe, in dem alles rückwärtsgewandt ist. Ich sehe keine Fortschritte für eine bessere Zukunft. Ich denke natürlich, dass Frauen wie Ajna, junge Menschen, die so klug und gebildet sind, Veränderungen anschieben können. Gerade Frauen können die Welt verändern. Ich selber bin müde, habe mich nie von der Vergangenheit erholt. Dieser Primitivismus hier ekelt mich an, diese ethnische Trennung ekelt mich an. Die Entität Repubilka Srpska verhält sich wie ein Staat, verhindert jeden Fortschritt. Hier brauchen wir jemanden, der alles grundlegend verändert, um die Macht der Primitiven, Nationalisten und ungebildeten Menschen zu beenden. Die Nationalisten, die in Bosnien und Herzegowina an der Spitze stehen, sollten endlich gehen und den Menschen eine Pause von Nationalismus, Armut und Elend gönnen. Bosnien ist gespalten und ich fürchte, dass dies nicht das Ende ist, dass die zweite Halbzeit folgen wird. Ich habe Angst vor der Zukunft. Ich habe ein Enkelkind - die Jungen haben so etwas nicht verdient. Bosnien ist voller wunderbarer, fleißiger und gebildeter Menschen und hat diese Art von Führung und dieses System nicht verdient.
Das Interview wurde im Oktober 2024 von der Politologin, Analystin und Autorin Marion Kraske geführt.
Übersetzung/Mitarbeit: Amela Sejmenović
Die Audioversion wurde künstlich erzeugt.