Agrarökologische Transformation „von unten“

Analyse

Der Blick nach Lateinamerika zeigt: Für eine agrarökologische Transformation ist sowohl politischer Wille als auch gesellschaftliches Engagement gefragt – besonders auf lokaler Ebene. 

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Politicas Alisson Chaves
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"Agrarökologie gegen den Hunger" steht auf einem Transparent von Aktivist*innen beim Agrarökologie Kongress in Rio de Janeiro im November 2023.

Vertreter*innen diverser sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für agrarökologische Ansätze und Ernährungssouveränität einsetzen, ist es zu verdanken, dass in einigen lateinamerikanischen Ländern rechtliche und politische Rahmenbedingungen für die agrarökologische Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme errungen wurden. 

Auch Wirtschafts-, Umwelt- und politische Krisen zwangen die Staaten, stärker nach nachhaltigen Formen der Lebensmittelproduktion und Alternativen für die ländliche Entwicklung zu suchen. Zahlreiche Gesetze und Institutionen zur Förderung agrarökologischer Konzepte existieren jedoch nur auf dem Papier, bewirken kaum strukturelle Veränderungen und werden – etwa bei Regierungswechseln – oft wieder abgeschafft.

Erfolge und Herausforderungen der agrarökologischen Transformation

Der Blick nach Lateinamerika zeigt, dass eine agrarökologische Transformation nicht allein mit politischen Maßnahmen umsetzbar ist. Sie muss gleichzeitig von lokalen Gemeinschaften getragen werden. Meist sind es lokale Akteure, die eine solche Transformation vordenken und anstoßen. Gesetze, die einen agrarökologischen Wandel fördern möchten, müssen sich an lokalen Kontexten orientieren und an diese anpassbar sein. Die technischen Aspekte der Lebensmittelproduktion und des Vertriebs sollten dabei nicht im Mittelpunkt stehen. 

Zentral ist es, Ernährungssouveränität für die Bevölkerung der Region zu garantieren und dabei historische Aspekte – wie eine gewachsene soziale Ungleichheit in Lateinamerika - zu berücksichtigen. Auch die „Erklärung der Rechte von Kleinbauern und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten“ der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2018 schreibt Ernährungssouveränität als Recht fest.

Agrarökologische Ansätze und kleinbäuerliche, indigene und gemeinschaftlich betriebene Landwirtschaft finden allmählich Eingang teils in nationale, teils in kommunale Gesetze. Verbreiteter als agrarökologische Ansätze sind dabei Verordnungen, die sich auf „biologische Landwirtschaft“, „konventionelle Landwirtschaft“, „nachhaltige Landwirtschaft“ oder die Zertifizierung von Agrarprodukten für den Export und somit eher auf die industrialisierte Landwirtschaft beziehen. Teilweise handelt es sich auch hier nur um Absichtserklärungen, denen keine unmittelbare Umsetzung folgt. 

Bedingungen für den agrarökologischen Wandel

Aus diesem und anderen Gründen hat das Agrarökologische Kollektiv Ecuadors (Colectivo Agroecológico de Ecuador) zusammen mit anderen Bäuer*innen und Organisationen zwischen 2000 und 2010 intensiv dafür gekämpft, das Konzept der Agrarökologie als rechtlich verankerten Begriff einzuführen, der sich beispielsweise von Konzepten für ökologische Anbaumethoden unterscheidet. Das Kollektiv hat 2010 die Verabschiedung des Gesetzes für Ernährungssouveränität (Ley Orgánica del Régimen de Soberanía Alimentaria/ LORSA) bewirkt, in dem sich der Staat verpflichtet, Netzwerke von Erzeuger*innen, Verbraucher*innen und Händler*innen zu stärken, städtische und ländliche Gebiete als gleichbedeutend zu behandeln, den Konsum von agrarökologischen Produkten und die Erhaltung der Agrobiodiversität zu fördern.

Erfolgreiche gesetzliche Initiativen für Agrarökologie

Im Süden Lateinamerikas gibt es weitere Beispiele für Gesetze, die durch zivilgesellschaftliche Organisationen errungen wurden. In Uruguay hat das Netzwerk für Agrarökologie (Red de Agroecología del Uruguay) zusammen mit dem Nationalen Netzwerk für einheimisches und traditionelles Saatgut (Red Nacional de Semillas Nativas y Criollas) und der Lateinamerikanischen Wissenschaftlichen Gesellschaft für Agrarökologie (Sociedad Científica Latinoamericana de Agroecología) im Jahr 2015 Leitlinien für den Nationalen Plan für Agrarökologie erarbeitet. Aufbauend auf den Leitlinien wurde das Gesetz 19.717 verabschiedet, das die agrarökologische Transformation der Ernährungssysteme zu einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse erklärt. 

Zusätzlich wurde eine Kommission zur Ausarbeitung des Nationalen Plans zur Förderung von Agrarökologie eingesetzt. Diese Kommission hat die Fortschritte ihrer Arbeit im Februar 2020 vorgelegt. Mit dem Regierungswechsel im Jahr 2022 in Uruguay stagnierte diese Entwicklung jedoch: Der Nationale Plan wurde grundsätzlich in Frage gestellt, und es wurde versucht, die ursprünglich partizipativ erarbeiteten Inhalte zu verändern.

Die Fallbeispiele Argentinien, Bolivien und Brasilien

In Argentinien hat das Ministerium für Landwirtschaft, Viehzucht und Fischereiwesen im Jahr 2020 die Nationale Direktion für Agrarökologie (Dirección Nacional de Agroecología) geschaffen. Ihre Aufgabe ist, politische Maßnahmen für eine agrarökologische Transformation zu entwickeln und umzusetzen. Auch bereits bestehende Programme führt sie fort, etwa das Programm ProHuerta, das Ende der achtziger Jahre aufgelegt wurde, um die durch die Hyperinflation verursachte Nahrungsmittelkrise mit der Förderung der Eigenproduktion in kleinbäuerlichen Gärten abzumildern. [Anmerk. d. Red.: Der Text wurde vor dem Regierungswechsel in Argentinien im Dezember 2023 verfasst. Unter dem neuen Präsidenten Milei wurde die Nationale Direktion für Agrarökologie abgeschafft.]

In Bolivien wurde im Jahr 2010 auf der Grundlage des Gesetzes zur Regulierung und Förderung der ökologischen land- und forstwirtschaftlichen Produktion, die nicht Nutzholzzwecken dient (Gesetz Nr. 3525 aus dem Jahr 2006) der Nationale Rat für ökologische Produktion (Consejo Nacional de Producción Ecológica/ CNAPE) gegründet. Die ökologische Erzeugung wurde in Folge zu einer Angelegenheit von nationalem Interesse erklärt. Das Gesetz der Revolution der gemeinschaftlichen landwirtschaftlichen Produktion (Gesetz Nr. 144) aus dem Jahr 2011 fördert die ökologische und biologische Lebensmittelproduktion, erkennt sie als landwirtschaftliche Dienstleistung an und unterstützt auch die fachliche Ausbildung in diesem Bereich.

Lokale Akteure sind von elementarer Bedeutung

In Brasilien ist die Bedeutung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft seit Mitte der neunziger Jahre anerkannt. Während der ersten Amtszeit von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva wurden ab 2003 einige Gesetzesmaßnahmen zur Stärkung dieser Produktionsform implementiert, darunter die Ausweitung der Investitionen in das Nationale Programm zur Stärkung der Kleinbäuerlichen Landwirtschaft (Programa Nacional de Fortalecimento da Agricultura Familia/ PRONAF), das Mitte der neunziger Jahre institutionell verankert worden war. Mit diesem Programm wurde eine Finanzierungsstruktur mit differenzierten Bedingungen und Zinssätzen für diese Zielgruppe der (Klein)Bäuer*innen geschaffen.

Vorschläge für politische Maßnahmen zur Förderung der Agrarökologie

Interessant ist im Falle Brasiliens, dass agrarökologische Ideen dort institutionalisiert werden konnten, wo partizipative Gremien die Implementierung der politischen Maßnahmen und Gesetze begleiteten und kontrollierten. Beispiele sind etwa der Nationale Ernährungsrat und Räte für nachhaltige ländliche Entwicklung auf nationaler, bundesstaatlicher und kommunaler Ebene.

Ein weiterer wichtiger Bereich der auf die kleinbäuerlichen Landwirtschaftsbetriebe ausgerichteten politischen Maßnahmen waren Programme wie das 2003 ins Leben gerufene Programm für die Beschaffung von Lebensmitteln (Programa de Aquisição de Alimentos/ PAA) und die Neugestaltung des Nationalen Programms für Schulspeisung (Programa Nacional de Alimentação Escolar/ PNAE). Dieses staatliche Programm aus dem Jahr 1979 stellt seit 2009 30% seiner öffentlichen Mittel für die Beschaffung von Lebensmitteln aus kleinbäuerlichen Betrieben bereit.

Zivilgesellschaftlicher Druck als Schlüssel für politische Veränderungen

2012 wurde in Brasilien die Nationale Politik für Agrarökologie und ökologische Produktion (Política Nacional de Agroecologia e Produção Orgânica/ PNAPO) ins Leben gerufen, zu deren Instrumenten die Nationalen Pläne für Agrarökologie und ökologische Produktion (PLANAPO) wurden. Die erste Phase dieser Politik fiel in das Jahr 2013, die zweite in das Jahr 2016. Im Rahmen der PNAPO führten verschiedene Ministerien und Regierungsinstitutionen Maßnahmen zur Förderung der Agrarökologie und des ökologischen Landbaus durch. Eines der Programme, das aus der PNAPO hervorgingen, war das Ecoforte-Programm, das projektbezogen Agrarökologie-Netzwerke förderte. Projekte wurden von den Netzwerken selbst erarbeitet und umfassten ein breites Spektrum an Themen und Maßnahmen. 

Mittel für die Projektentwicklung wurden mit Mitteln für die soziale und politische Organisation gekoppelt. Die Nationale Agrarökologievereinigung (Articulação Nacional de Agroecologia/ ANA) hat 25 dieser Netzwerke, an denen 488 Organisationen beteiligt waren, systematisch begleitet und konnte so die Ergebnisse des Programms dokumentieren und die Agrarökologie-Bewegung an der Basis stärken.

Politische Rückschläge und die Resilienz der Agrarökologie-Bewegung

Ab 2016 war Brasilien dann jedoch mit Sparmaßnahmen konfrontiert und eine Reihe politischer Maßnahmen wurden abgebaut. Zu Beginn der Regierung von Jair Bolsonaro im Jahr 2019 wurden die vorher etablierten, partizipativen Gremien hart angegriffen, und auch die PNAPO blieb davon nicht verschont. Die entsprechenden Verwaltungsorgane, die Nationale Kommission für Agrarökologie und ökologischen Landbau und die Interministerielle Kammer für Agrarökologie und ökologische Produktion wurden abgeschafft. 

Außerdem wurden während der Amtszeit Bolsonaros die Haushaltsmittel für die kleinbäuerlichen Landwirtschaftsbetriebe stark gekürzt, das Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung abgeschafft, und die Agrarreform kam zum Stillstand. Erst im Juni 2023, in der dritten Amtszeit von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, wurden die Verwaltungsorgane der PNAPO wiedereingesetzt und die staatlichen Politiken wiederaufgenommen.

Der Fall Brasiliens zeigt, dass das, was mühsam von unten aufgebaut wird, schnell „von oben“ herab zerstört werden kann. Agrarökologische Netzwerke müssen stark und widerstandsfähig sein. Die Erfahrung zeigt, dass Staaten dann Fortschritte in der agrarökologischen Transformation machen, wenn sich Bürger*innen organisieren, Druck auf die Regierungen ausüben und für den Ansatz der Agrarökologie kämpfen. Sie sollten eine umfassende und menschenbasierte Agrarreform fordern, damit das Land denen gehört, die darauf leben und arbeiten.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf Portugiesisch im Agrarökologie-Dossier des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.

Autor*innen: Autor*innenkollektiv und Júlia Dolce

Mitarbeiter*innen der Heinrich-Böll-Stiftung: Ingrid Hausinger (Büro San Salvador, Zentralamerika), Marcelo Montenegro (Büro Rio de Janeiro), Emilia Jomalinis, Joana Simoni, Maureen Santos (zuvor Büro Rio de Janeiro), Dolores Rojas und Jenny Zapata (Büro Mexiko-Stadt); Natalia Orduz Salinas (zuvor Büro Bogotá), Gloria Lilo (zuvor Büro Santiago de Chile), Pablo Arístide (Büro Buenos Aires)

Wissenschaftliche Mitarbeit: Rodica Weitzman, Marcus Vinicius Branco de Assis Vaz, Dulce Espinosa und Luis Bracamontes, Julián Ariza, Irene Mamani Velazco, Henry Picado Cerdas, Corporación Ecológica y Cultural Penca de Sábila

Gastautor*innen: Giuseppe Bandeira, Nemo Augusto Moés Côrtes

Quellen und weiterführende Literatur auf Spanisch bzw. Portugiesisch:

Eric Sabourin et al. (org.) (2017). Politicas publicas a favor de la agroecologia en America Latina y El Caribe. Porto Alegre: Evangraf / Criacao Humana, Red PP-AL y FAO.

Jean Le Coq et al. (2018). “Politicas publicas que promueven la agroecologia y produccion organica en America Latina”. III Conferencia Internacional de Agricultura e Alimentacao em uma Sociedade Urbanizada, Porto Alegre.

Redes de agroecologia para o desenvolvimento dos territórios: aprendizados do Programa Ecoforte. Claudia Job Schmitt et al. Rio de Janeiro: ANA, 2020.

Regina Helena Rosa Sambuichi et al. (orgs.) (2017). A política nacional de agroecologia e produção orgânica no Brasil: uma trajetória de luta pelo desenvolvimento rural sustentável. Brasilia: Ipea.

Mateo Mier y Teran et al. (2018). “Bringing agroecology to scale: Key drivers and emblematic cases”, Journal Agroecology and Sustainable Food Systems vol. 42, n.° 6 [pp. 637-665].

Rodrigo Curto et al. (2021). “Politicas publicas de agroecologia en el Cono Sur de America Latina”. Apuntes Agroeconomicos, Facultad de Agronomia de la Universidad de Buenos Aires, ano 15, n.° 21.

REDES - Amigos de la Tierra (2020). “Plan Nacional de Agroecologia: una hoja de ruta para producir y consumir”.

Raquel Torres (2023). Especialistas apontam caminhos para retomar a política nacional de agroecologia. O Joio e o Trigo; De Olho Nos Ruralistas.

Paulo André Niederle et al. (2019). A trajetória brasileira de construção de políticas públicas para a agroecologia. Revista do Desenvolvimento Regional.