Wie die Europäische Union die Demokratie schützen kann

Analyse

Die Demokratie in Europa ist bedroht – von innen wie von außen. In einer von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen Studie bewertet die Autorin die bisherige EU-Demokratie-Agenda und gibt Empfehlungen für mehr demokratische Resilienz.

Illustration: Eine ionische Säule mit EU-Sternen im Kapitell. Oben ist ein Riss sichtbar, der sich in die Fläche ausbreitet. Hintergrund schwarz.

Dieser Text ist die Zusammenfassung der von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen Studie "From democratic resilience to democratic security".

2019 wurde zum ersten Mal das Thema Demokratie als eine der Prioritäten der EU-Kommission aufgenommen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, entschied sich, gleich zwei Kommissarinnen mit diesem Thema zu beauftragen - Věra Jourová als Vize-Präsidentin für Transparenz und Werte und Dubravka Šuica als Kommissarin für Demokratie und Demografie. 

Obwohl Demokratie in den EU-Verträgen verankert und Teil der EU-Beitrittskriterien ist, galt das Thema bis 2019 nicht als vollständiges Politikfeld, mit dem sich die EU aktiv auseinandersetzen musste. Es wurde davon ausgegangen, dass die Mitgliedsstaaten der EU stabile Demokratien bleiben würden. Doch angesichts des raschen demokratischen Rückschritts (sog. „democratic backsliding“) in mehreren EU-Mitgliedstaaten erkannte die EU die Notwendigkeit, sich mit dem Thema näher auseinanderzusetzen und Antworten auf diese neue Herausforderung zu finden.

Rückblickend war die Demokratie-Agenda der letzten EU-Kommission (2019–2024) ambitioniert. Es gelang der EU-Kommission, viele Vorschläge zu unterbreiten und viele davon auch erfolgreich in Gesetzgebung umzusetzen. Die EU ging teilweise sogar über die ursprünglichen Pläne hinaus, die sie 2019 im Demokratie-Aktionsplan festgelegt hatte – insbesondere im Bereich Desinformation, Regulierung des digitalen Raums und Schutz des Medienpluralismus. 


Seit 2022 fokussiert die EU-Kommission auf Demokratiebedrohungen von außen

Nachdem sich die EU von 2019-2022 sehr aktiv mit dem Thema beschäftigt hatte, änderte der russischen Angriffskrieg in der Ukraine die Prioritäten der EU. Diese neue Bedrohung änderte auch die Perspektive, mit der auf das Thema Demokratie geschaut wurde. Seit 2022 konzentriert sich die Kommission zunehmend auf Bedrohungen ‚von außen‘, in erster Linie aus Russland, China oder dem Iran – trotz der wachsenden Bedrohung durch den Aufstieg antidemokratischer Kräfte innerhalb der EU.

Dieser Paradigmenwechsel wurde besonders deutlich, als die EU-Kommission das Paket zur Verteidigung der Demokratie („Defence of Democracy“) vorstellte, das von der Zivilgesellschaft und europäischen Parlamentarier*innen aufgrund der Ähnlichkeiten mit einem „Agenten-Gesetz“ kritisiert wurde. Diese Initiative wurde vor der Europawahl 2024 nicht mehr verabschiedet, sodass zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags unklar ist, wie die EU-Kommission mit diesem Vorhaben weiter umgehen wird. Das „Europäische Schutzschild für Demokratie“, das im Juli 2024 als Leuchtturm-Projekt im Demokratie-Bereich für das nächste Mandat der EU-Kommission vorgestellt wurde, könnte womöglich das Vorhaben aus dem ursprünglichen Paket wiederaufnehmen und weiterhin nur äußere Bedrohungen berücksichtigen.

Der Zustand der Demokratie in der EU und ihren Mitgliedstaaten hat sich in den letzten Jahren maßgeblich verschlechtert

Tatsächlich hat sich der Zustand der Demokratie in Europa zwischen 2019 und 2024 maßgeblich verschlechtert. Das sogenannte „democratic backsliding“ wurde in den letzten Jahren bewusst von einer Reihe politischer Akteur*innen vorangetrieben, mit dem Ziel, politische Macht zu übernehmen, die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben, Gesellschaften zu spalten und die EU zu schwächen. Vor dem Hintergrund der Geschwindigkeit des demokratischen Rückschritts, kann das Tempo der EU-Gesetzgebung zur Verteidigung der Demokratie als unzureichend angesehen werden.

Die politischen Leitlinien der EU-Kommission und die Aufgabenbereiche der neuen Kommissar*innen nach der Europawahl deuten darauf hin, dass Demokratie in erster Linie durch einen Sicherheitsfokus betrachtet wird. Angesichts der Bedrohungen durch Desinformation und ausländischer Einflussnahme ist dieser Ansatz der EU zwar verständlich – Drittländer, die sich in demokratische Prozesse in Europa einmischen, untergraben unsere Demokratie. Jedoch müssen die EU-Institutionen sich stärker darum bemühen, Demokratien auch vor autoritären Entscheidungsträgern innerhalb der EU zu schützen, wie beispielsweise von rechtsextremistischen Kräften wie der „Identitären Bewegung“ oder rechtsextremistischen Parteien. 

Ohne Demokratie kann keine Politik gemacht werden, die den Bürger*innen zugutekommt

Die EU sollte deshalb Demokratie als strategisches Politikfeld stärken und im neuen Mandat eine ambitionierte Demokratie-Agenda verfolgen. Der Erfolg der anderen Politikbereiche der EU, die jetzt im Fokus stehen – Sicherheit und Verteidigung, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand – sind von der Stabilität der demokratischen Prozesse abhängig. Ohne Demokratie kann keine Politik gemacht werden, die den Bürger*innen zugutekommt. Deshalb sollte die Europäische Kommission eine ambitionierte Demokratie-Agenda verfolgen, die zahlreiche Aspekte umfasst: Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Bekämpfung von Desinformation und Korruption, Schutz von Wahlprozessen sowie Transparenz, auf nationaler als auch auf EU-Ebene. Schließlich sollte die EU in Bürgerbeteiligung – basierend auf den Erfahrungen der Zukunftskonferenz von 2021-2022 –und politische Bildung investieren. All diese Punkte wurden in der Rede von der Leyens vor dem europäischen Parlament zur Vorstellung ihres Programms im Juli 2024 erwähnt. Es bleibt nun abzuwarten, ob die EU-Kommission diese politischen Ankündigungen auch mit Initiativen und Handlungen untermauert.

Die EU sollte Demokratie als strategisches Politikfeld stärken.

Aufbauend auf der Bilanz des letzten Mandats stellt die Studie Empfehlungen vor, wie die EU in den nächsten fünf Jahren erfolgreich eine ambitionierte Demokratie-Agenda umzusetzen kann. 

Zunächst sollte die Demokratie sollte unter keinen Umständen als Hindernis für effektives politisches Handeln und Krisenmanagement betrachtet werden. Mit den vielen Krisen und dem Drang nach schnellen Antworten werden langsame demokratische Prozesse zu oft als Hindernisse verstanden, wenn sie die Basis für evidenzbasierte und legitime Entscheidungen sind. 

Die EU sollte alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen, um die Demokratie zu schützen

Zweitens sollte die EU-Kommission alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen, um die Demokratie zu schützen und diejenigen zu sanktionieren, die die Grundwerte der EU – verankert in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) – nicht respektieren. Drittens sollte die EU sicherstellen, dass ihre eigenen Gesetze in diesem Bereich vollständig umgesetzt und durchgesetzt werden, beispielsweise zur Bekämpfung von Desinformation. Dabei ist die EU auf eine gute Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten angewiesen. 
Darüber hinaus sollte die EU-Kommission die Antwort auf demokratische Rückschritte innerhalb der EU systematischer überprüfen und schneller agieren, wenn ein solcher Prozess in einem Mitgliedsstaat oder in den eigenen Institutionen im Gang ist. Die EU wird außerdem stärker darauf achten müssen, dass die eigene Gesetzgebung nicht für anti-demokratische Zwecke instrumentalisiert wird und sicherstellen, dass alle EU-Gesetze mit demokratischen Standards übereinstimmen, insbesondere im Bereich der Migrations- und Asylpolitik. Dafür braucht es auch angemessene finanzielle Mittel, um demokratische Standards in allen EU-Politikbereichen zu „mainstreamen“, also sicherzustellen, dass EU-Gesetzgebungen kohärent sind.

Schließlich wird die EU nach dem Katargate-Skandal sicherstellen müssen, dass sie sich selbst an demokratische Standards hält, da ihr sonst die Legitimität für diese Arbeit abgesprochen werden kann. Dafür braucht es bessere Rechenschafts- und Transparenzregeln in allen EU-Institutionen, die effektiv umgesetzt werden. Doch nicht nur im Europäischen Parlament gibt es fragliche Haltungen im Bereich Demokratie. Insbesondere der Europäische Rat und der Rat der EU sollten aufhören, europäische Werte politisch zu instrumentalisieren, um Kompromisse in anderen Politikfeldern wie der Außen- und Verteidigungspolitik zu erzielen. Werte wie Demokratie sind nicht verhandelbar.
Schließlich sollten die EU ihre internen Prozesse verbessern, sowohl innerhalb der verschiedenen Institutionen als auch in interinstitutionellen Prozessen. Die EU-Institutionen müssen strategischer und effizienter an das Thema herangehen – beispielsweise durch die Einrichtung einer Taskforce für Demokratie im Generalsekretariat der europäischen Kommission und/oder durch einen ausreichenden Einfluss der neuen Vizepräsidentin für Demokratie, Henna Virkunnen und des Justizkommissars Michael McGrath.

Insbesondere EU-Mitgliedstaaten, die weiterhin als stabile Demokratien gelten und noch keine Rechtsextremist*innen in der Regierung haben – beispielsweise Deutschland –  sollten die Bemühungen der EU unterstützen, um eine der größten Errungenschaften in Europa zu schützen.