Im Januar 2025 will sich Lukaschenko in Belarus erneut zum Präsidenten wählen lassen. Ein Blick durch die Augen einer jungen Aktivistin auf ihr zweites Heimatland, auf die deutsche Belarus-Politik und Diskurse, die es aufzuholen gilt
Was tun, wenn man traurig ist?
Es kommt nicht oft vor, dass ich mit Menschen spreche, die noch nach Belarus reisen oder erst kürzlich dort waren. Wenn ich von Journalist:innen Anfragen kriege, ob ich jemanden kenne, der von dort berichten könnte, muss ich passen. Ich will niemanden in Gefahr bringen.
Das letzte Mal, dass ich mit jemandem offen sprach, der noch im Land war, war 2021. Vielleicht hatte Valera sich schon mit dem Gedanken abgefunden, genau wie Dutzende seiner Freunde inhaftiert zu werden. Er erzählte mir, wie er zu ihren Verwandten fuhr, um zu erfahren, was seine Freunde im Gefängnis brauchten, wie er für sie Besorgungen erledigte, Pakete schnürte, wog und ins Gefängnis schickte.
Wir lernten uns über ein Projekt kennen, das Briefe und Zeichnungen von inhaftierten Studierenden veröffentlichte, die im berüchtigten “Studentenprozess” zu bis zu anderthalb Jahren Strafkolonie verurteilt wurden. Sie zeichneten Katzen, Gerichtssäle, Zellen, gesprengte Ketten.
Eine von ihnen, Yana Arabeika, zeichnete ihren Angehörigen ein kleines Büchlein mit dem Titel “Was tun, wenn man traurig ist?” - Eine kleine Yana macht Yoga, geht spazieren, umarmt ihre Liebsten, schreibt einen Brief. Sie wollte ihren Verwandten Mut machen - denn wenn einer sitzt, dann sitzt die ganze Familie gleich mit.
Ich übersetzte und digitalisierte das Büchlein, wir verteilten es in Berlin bei Belarus-Veranstaltungen, um Spenden für politische Gefangene zu sammeln. Das war 2021.
Nach Beginn der Vollinvasion schafft Valera es, das Land zu verlassen und nach Georgien zu fliehen. In Batumi erzählt er mir von seinen Anarcho-Freunden, die dem Regime schon immer ein Dorn im Auge waren und jetzt besonders harte Strafen erfahren.
Das vergisst man nicht, wenn ein Freund dir erzählt, wie man ihn mit einer Plastiktüte gefoltert hat.
Eine gottverdammte Scheiße ist das alles.
Diese jungen Menschen, die eigentlich ihr Leben in vollen Zügen genießen sollten, scheinen um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gealtert zu sein. Das Leben, das sie kannten und liebten, ist fort. “Genieß dein Berlin, Katja, mein Minsk gibt es nicht mehr”, schreibt Valera mir zum Abschied.
Sklaven
"Bevor es so viele politische Gefangene gab, hat Lukaschenko einfach andere Insassen für sich schuften lassen", erzählt mir Alena Dziadziulia. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichten der Frauen zu erzählen, die sie während ihrer Zeit im Gefängnis kennenlernte.
Alena ist es wichtig, dass wir nicht nur über die politischen Gefangenen sprechen, sondern über das gesamte System dahinter: Frauen, die inhaftiert werden, weil sie sich gegen ihre gewalttätigen Männer gewehrt haben oder weil sie den Unterhaltszahlungen für ihr Kind nicht mehr nachkommen konnten. Anstelle diesen Frauen eine echte Unterstützung anzubieten, beutet man sie gnadenlos aus.
“Sie wollen billige Arbeitskräfte”, sagt Alena, “Jemanden, der für sie die Militärklamotten im Lager näht" - "Oder, der ihre Zwiebeln erntet”, werfe ich ein. Alena nickt. "Für sie sind wir alle Sklaven".
Emanzipation
Gespräche, wie die mit Alena, führe ich in letzter Zeit häufiger. Über 2.300 politische Gefangene haben mittlerweile ihre Haftstrafe abgesessen.
Zuerst kommt die Euphorie. Endlich wieder eine warme Dusche auf der Haut spüren, sich auf eine weiche Matratze fallen lassen und in frischem Bettzeug einschlafen können. Heilung. Zu einem Arzt gehen, um sich endlich die Zähne machen zu lassen, die im Gefängnis durch Unterernährung und fehlende medizinische Behandlung verrottet sind. Endlich wieder selbstbestimmt essen, sich bewegen und kleiden können. Zum Friseur gehen.
Doch je länger dieser neue Alltag andauert, desto größer wird die Frage:
Warum bin ich hier draußen und die anderen noch drin?
Sich für diejenigen einzusetzen, die noch immer zu Unrecht im Gefängnis sitzen, wird für viele zum neuen Antrieb, auch im Ausland nicht aufzugeben. Es ist eine neue Welle der Emanzipation, die außerhalb der belarusischen Diaspora kaum wahrgenommen wird.
In der Doppelrolle, Überlebende:r und gleichzeitig Sprachrohr für Tausende andere zu sein, gründen ehemalige Gefangene neue Initiativen, führen Interviews, fordern alte Narrative heraus, die sich auch in der demokratischen Exil-Community festgesetzt haben.
Schon im Januar 2023 entstand die Vereinigung Angehöriger und ehemaliger politischer Gefangener, die erstmals auch Verhandlungsprozesse in Erwägung zieht und proaktive Maßnahmen fordert, um Gefangene zu befreien. Im Oktober 2023 zog dann der demokratische Koordinationsrat der Opposition im Exil mit einer Resolution nach, in der drei Ansätze für Freilassungen als legitim anerkannt wurden:
1. Sanktionen und Druck,
2. Humanitäre Hilfe und Verhandlungsprozesse,
3. Ein Kompromiss aus beidem.
Mit Diktatoren verhandelt man nicht
Doch in der Praxis hatte sich schon der Glaubenssatz festgesetzt: Der einzige und richtige Weg, auf die immer schlimmer werdenden Repressionen zu reagieren, seien Sanktionen und die Isolation des Regimes. Wie ein Mantra forderte man die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen, ein Ende der Repressionen, faire und freie Neuwahlen.
Auch nur gedanklich vom Sanktionsregime abzurücken, sei Verrat, sich für Einzelfälle einzusetzen, unmoralisch. Dass man so jedoch das Schicksal der Gefangenen allein der Willkür des Regime überließ, wurde ausgeblendet, ebenso wie die Tatsache, dass sich die Machthaber in Minsk längst an die Sanktionen angepasst hatten.
…oder doch?
“Sie sind frei!” schlug es am ersten August in meiner Timeline ein. Sie - das waren 15 zu Unrecht Inhaftierte, bekannte russische Oppositionelle und westliche Staatsbürger, die man gegen russische Spione und Mörder tauschte.
Der Gefangenenaustausch zwischen Russland, Belarus und dem Westen sprengte sämtliche Unmöglichkeiten, machte den Weg für neue Ansätze frei und entzündete Diskussionen, die bis heute nicht abreißen, sondern mit jedem Tag lauter werden.
Denn obwohl Lukaschenko maßgeblich an diesem Deal beteiligt war, war unter den Freigelassenen kein einziger Belaruse. “Why didn’t it click for the Germans, that maybe it was worth fighting for Masha Kalesnikava?”, fragte Ex-Diplomat und Analyst Pavel Slyunkin. Zurecht.
Während der russische Nobelpreisträger Oleg Orlow frei kam, sitzt der belarusische Nobelpreisträger Ales Bialiatski bis heute im Gefängnis. Dass die beiden 2022 gemeinsam mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden, hatte nicht dafür gereicht, sie gemeinsam aus der Haft zu befreien.
Freilassungen und Kaffeesatzlesen
Noch bevor wir ausdiskutieren konnten, wie dieser Deal zustande kam, setzte der nächste für unmöglich gehaltene Prozess ein: Bereits im Juli hatte Lukaschenko 18 politische Gefangene begnadigt, doch dabei sollte es nicht bleiben.
Mittlerweile sind es 207 Menschen, die man in den vergangenen Monaten immer in Schüben von circa 30 frei ließ. Unter ihnen bekannte Gesichter, Schwerkranke und Alte, aber auch Menschen, die ohnehin nur noch wenige Wochen ihrer Haft vor sich gehabt hätten.
Anstelle reflexartig auf Lukaschenkos mögliche Motivationen zu schauen und in seinen Taten Kaffeesatzlesen zu spielen (Ist das ein Signal? Ein Normalisierungsversuch? Ein Ablenkungsmanöver?), sollten wir denjenigen zuhören, die die Gefängnisse am besten kennen:
Mit “A good political prisoner is a dead political prisoner. Why the release of political prisoners should become mainstream” erscheint ein bahnbrechender Artikel aus der Perspektive ehemaliger Gefangener, die allesamt dafür plädieren, diese Freilassungswelle so lang wie möglich am Laufen zu halten.
Ihre Kernaussagen:
- Politische Gefangene sind keine Helden,
- Jedes einzelne Leben ist schützenswert,
- Wer nicht selbst im Gefängnis war, kann diese Belastung nachvollziehen,
- Verhandlungen sind kein Verrat.
Deutschland
“Die Freilassung der politischen Gefangenen hat oberste Priorität” heißt es in der Belarus-Resolution, die unser Bundestag im November letzten Jahres verabschiedete. Welche Mammutaufgabe dieser Antrag eigentlich war, habe ich erst durch mein Praktikum im Bundestag verstanden. In ihm enthalten: Zahlreiche Maßnahmen zur Unterstützung der belarusischen demokratischen Kräfte im Exil, Schutz für politisch Verfolgte sowie angestrebte Sanktionen.
Die CDU verfasste einen ähnlichen Antrag, allerdings mit Abstrichen in Migrations- und Aufenthaltsfragen, der AfD-Antrag „Deutsche Weißrusslandpolitik – Zu Maß und Vernunft zurückkehren“ wurde von der Tagesordnung wieder abgesetzt (“Zu Zwiebeln und Zwangsarbeit zurückkehren” hätte meiner Meinung nach besser gepasst, aber gut).
Und bevor mein Kommentar zur differenzierten Betrachtung diplomatischer Verhandlungsprozesse von Kreml-Freunden missbraucht wird: Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht ist keine Alternative, wie ihr Abstimmungsverhalten aus dem EU-Parlament gezeigt hat. Alle Gegenstimmen zum Antrag über die Hilfe für belarusische Politische Gefangene kamen vom BSW.
Wer heute noch steht und sich für Belarus einsetzt, sind einige wenige Enthusiast:innen, die uns in ihr Herz geschlossen haben. Allen voran die überparteiliche “Freundschaftsgruppe Demokratisches Belarus”, bestehend aus Robin Wagener (Grüne), Anikó Glogowski-Merten (FDP), Johannes Schraps (SPD) und Knut Abraham (CDU). Euch allen gebührt mein aufrichtiger Dank. Wäre der ganze Bundestag 2020 so entschlossen wie diese Abgeordneten gewesen - wer weiß, vielleicht hätten wir heute ein freies Land.
Ich hoffe, dass wir es in der neuen Regierung schaffen werden, die Befreiung der politischen Gefangenen auf die Tagesordnung zu bringen. Die letzten viereinhalb Jahre Menschenrechtsarbeit haben mir aber auch gezeigt, wie weit wir noch von einem breiten Verständnis für die Situation in Belarus entfernt sind. Ein Historiker verabschiedete sich im Bundestag von mir und anderen belarusischen Praktikanten mit den fröhlichen Worten:
“Eine gute Heimreise nach Belarus!”.
Vor uns liegt ein langer Weg.