Massimo Prearo: „Italien zeigt, wie LGBTQI+-Rechte abgebaut werden“

Interview

Ein neues Gesetz in Italien verbietet „Genderpropaganda“ an Schulen. Giorgia Melonis Mehrheit steht unter dem Einfluss rechtsextremer Pro-Life und Anti-LGBTQI-Gruppen. Der Politikwissenschaftler Massimo Prearo erklärt im Gespräch mit Sarah Ulrich die Hintergründe.

Lesedauer: 5 Minuten
LGBTI Rom
Teaser Bild Untertitel
Protest gegen Homophobie und geschlechtsspezifische Gewalt in Rom. Auf dem Schild steht: "Wir rufen es aus vollem Herzen: Rechte jetzt".

Massimo Prearo, Politikwissenschaftler und Professor an der Universität von Verona, ist auf den Themenbereich LGBTQI+ und Politik spezialisiert. Seiner Auffassung nach ist das, was derzeit in Italien unter Giorgia Melonis Regierung passiert, eine Fallstudie dafür, was sich in Europa entwickeln kann, wenn rechtsextreme Parteien immer engere Bündnisse mit fundamentalen Christen schließen. Sarah Ulrich hat mit ihm gesprochen.

der Freitag: Herr Prearo, Italien hat im September eine „mozione parlamentare“ veröffentlicht, die das Sprechen über Genderfragen in Schulen verbietet. Was bedeutet das?

Massimo Prearo: Die sogenannte „Sasso-Motion“ ist nach dem Abgeordneten der rechtsextremen Lega-Partei benannt, der sie vorgeschlagen hat. Sie soll die Regierung dazu verpflichten, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Verbreitung oder Lehre der „Gender-Ideologie“ in Schulen zu verhindern. In der Praxis ist es eine symbolische Maßnahme, die jedoch genutzt wird, um potenzielle Entscheidungen oder Politiken in diese Richtung zu rechtfertigen. Tatsächlich benutzt derselbe Abgeordnete diese bereits, um einen Kampf gegen Gender-Studiengänge an Universitäten voranzutreiben.

Woher kommen diese Ideen?

Wir sehen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den Forderungen von Anti-Gender- und Pro-Life-Bewegungen, die diese Agenda seit Jahren vorantreiben, und dieser Richtlinie. Eine Vereinigung, die eng mit Sasso zusammengearbeitet hat, ist „Non si tocca la famiglia“, die speziell zu diesen Themen wiederholt im Parlament gehört wurde, zusammen mit anderen Anti-Gender- und Pro-Life-Vereinigungen.

Und diese Bewegungen beeinflussen nun die Politik?

Seit etwa 2016 arbeiten die Bewegungen mit Giorgia Meloni zusammen. Sowohl Lega als auch Fratelli d’Italia haben seit Beginn der Anti-Gender-Mobilisierung die Forderungen dieser Bewegungen unterstützt und ihre Kommunikation in den sozialen Medien sogar verstärkt. Unsere Forschung zeigt, dass die Lega einen eher opportunistischen und instrumentellen Ansatz verfolgt, während die Fratelli d’Italia eine viel ideologischere Haltung einnimmt, insbesondere in Bezug auf die Verteidigung der „natürlichen Familie“.

Also traditionelle Vorstellungen einer heterosexuellen Familie.

Ja, es geht dabei um mehr als um den traditionellen Pro-Life-Aktivismus gegen Schwangerschaftsabbrüche. Es geht um das, was wir Anti-Gender-Bewegungen nennen. Sie spezialisieren sich auf Anti-Gender- und Anti-LGBTQI+-Politik. Durch den Kampf gegen die sogenannte „Gender-Ideologie“ greifen sie in Wirklichkeit das Leben von LGBTQI+-Menschen an. Deshalb dürfen wir die potenziellen Gefahren, die diese Politiken mit sich bringen, nicht unterschätzen.

Gibt es eine Verbindung zu internationalen Akteuren?

Die italienischen Anti-Gender- und Pro-Life-Vereinigungen sind Teil eines internationalen Netzwerks und arbeiten eng mit transnationalen Organisationen der religiösen Rechten wie Citizengo und dem World Congress of Families zusammen. Es gibt einen Austausch von Wissen, Fachwissen und Mobilisierungspraktiken. Außerdem haben Recherchen gezeigt, dass diese Austauschbeziehungen auch bedeutende Finanzströme umfassen, um nationale Mobilisierungen zu unterstützen.

Ist Italien in Sachen Einschränkung von LGBTQI+-Rechten ein Vorreiter im europäischen Vergleich?

Man kann schon sagen, dass der Aufstieg der extremen Rechten in Italien das Land zu einer Art Fallstudie macht, die zeigt, wie LGBTQI+-Rechte abgebaut werden in einem Land, das als konsolidierte Demokratie gilt. Italien ist zwar weder quantitativ noch qualitativ mit anderen Ländern wie den Vereinigten Staaten, Russland und den osteuropäischen Ländern vergleichbar. Dennoch hat sich, wie in anderen Ländern, die Entwicklung der ultrakonservativen christlichen rechten Bewegungen in einer Gegenrevolution vollzogen. In diesem Sinne müssen wir sehr ernst nehmen, was in Italien passiert, denn obwohl es durch nationale Dynamiken geprägt ist, zeigt es auch das regressive Potenzial einer rechtsextremen Regierung, insbesondere im Bereich der Bürgerrechte.

Ein Beispiel?

Das Parlament hat eine Reihe von politischen Debatten erlebt, die viele progressive Kämpfe ruiniert oder gefährdet haben. So legalisierte das Cirinnà-Gesetz 2016 die eingetragenen Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare, aber nach einer intensiven politischen Debatte, die mit einem Kompromiss zwischen der Mitte-Rechts- und der Mitte-Links-Fraktion endete, führte es nicht zur Anerkennung der Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare.

Sie haben in dem Buch „The Christian Right in Europe“, im letzten Jahr herausgegeben von Gionathan Lo Mascolo, einen Artikel zu den Strategien der christlichen Rechten veröffentlicht. Ihre zentralen Erkenntnisse?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die eigentliche Stärke der italienischen ultrakonservativen Bewegungen in ihrem Einfluss außerhalb und innerhalb der italienischen politischen Ämter liegt. Zwar hat die italienische christliche Rechte es nicht geschafft, sich in einer gemeinsamen politischen Partei zusammenzuschließen, um Zugang zum italienischen Parlament zu erlangen und ihre Ideologie ausdrücklich durchzusetzen. Dennoch bleibt sie auf subtilere Weise eine der mächtigsten Lobbygruppen in Italien, die in der Lage ist, die parlamentarische Gesetzgebung zu beeinflussen und ihre politische Agenda sowohl in der öffentlichen Meinung als auch in den großen Medien zu verbreiten.

Welche Rolle spielt dabei der Vatikan?

Die Nähe zum Vatikan ist einer der Hauptgründe für die Sichtbarkeit dieser Bewegungen. Im Gegensatz zu traditionalistischen Bewegungen erkennen diese umstrittenen, aber mainstreamorientierten neuen katholischen Bewegungen die Autorität des Vatikans und von Papst Franziskus an. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass der Vatikan diese Bewegung nicht offen kritisiert, sondern sie sogar unterstützt.

Gibt es eine zentrale Organisation in dieser Bewegung?

Es gibt mehrere, zum Beispiel „ProVita E Famiglia“. Sie hat eine zentrale Rolle bei der Organisation des religiös fundamentalistischen World Congress of Families 2019 in Verona gespielt. Darüber hinaus ist sie eine der ultrakonservativen Bewegungen, die eine explizite politische Allianz mit radikalen rechten Parteien demonstriert hat. Viele ihrer Argumentationen wurden von den Parteien übernommen.

Wie wird es weitergehen?

Ich denke, dass die Rechte weiter eingeschränkt werden, ebenso wie die anhaltende Verfolgung von LGBTQI+-Personen, Familien und Gemeinschaften. Diese Allianz zwischen Anti-Gender- und Pro-Life-Bewegungen und rechtsextremen Parteien basiert genau auf dem Versprechen, das liberale Verständnis der italienischen Demokratie neu zu definieren. Nicht etwa basierend auf der Anerkennung und dem Schutz grundlegender Rechte, sondern entlang traditioneller Werte: von der natürlichen Empfängnis bis zum natürlichen Tod, zentriert um den Kult der „natürlichen Familie“.

 


Massimo Prearo (47) ist Professor am Forschungszentrum PoliTeSse: Politik und Theorien der Sexualität an der Universität Verona. Im Mai 2024 erschien seine Studie Anti-Gender Mobilizations, Religion and Politics: An Italian Case Study


Dieses Interview erschien zuerst bei der Freitag

Dieses Interview ist im Rahmen einer Recherche des European Media Fellowships der Heinrich- Böll-Stiftung e. V. entstanden.