Syrien: „Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben“

Interview

Joumana Seif ist eine syrische Anwältin und Menschenrechtlerin. 2023 erhielt sie für ihren jahrelangen Einsatz für Gerechtigkeit den Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung. Seit 2013 lebt sie in Deutschland. Als Expertin am European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) engagiert sie sich für ein Ende der Straflosigkeit in Syrien. Wenige Wochen nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien reiste sie mit ihrem Vater Riad Seif, einem der bekanntesten syrischen Oppositionellen, der viele Jahre in den Gefängnissen des Assad-Regimes inhaftiert war, erstmals wieder in ihre Heimat. Über ihre Eindrücke und Erwartungen sprach sie mit René Wildangel.

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Joumana Seif

René Wildangel: Wie haben Sie die aufregenden letzten Wochen erlebt?

Joumana Seif: Es ist unglaublich und schwer zu beschreiben. Es ist, als ob ich jetzt in einer anderen Welt leben würde. Ich habe immer gehofft, dass es irgendwann so kommt. Aber niemals hätte ich gedacht, dass es so plötzlich passiert. Schließlich waren die Signale in den Monaten und Jahren davor ganz andere: Es gab ja eine Normalisierung unter Assad. Und Leute wie ich, die sich immer noch für Gerechtigkeit einsetzten, galten manchen als naiv. 

Und dann sind sie recht bald nach Syrien gereist?

Mir war sofort klar: Ich muss hinfahren. Und mit den Menschen feiern. Für mehr als 12 Jahre hatte ich meine Verwandten und Freund*innen nicht gesehen. Als ich vom Libanon aus eingereist bin, gab es zunächst überhaupt keine Grenzkontrolle, das war kurz vor dem Jahreswechsel. Als ich ausgereist bin haben sie mir dann mitgeteilt, dass gegen mich ein Haftbefehl des syrischen Regimes vorlag. Nur einer, habe ich gefragt? Das ist ja fast enttäuschend… (lacht). Aber der eine war vom Staatsschutz: dem wichtigsten Sicherheitsdienst des syrischen Regimes. Wer verhaftet wurde, dem drohten schlimmste Folter, Verschwinden oder die Ermordung.

Was haben Sie während ihrer Reise erlebt?

Ich bin gemeinsam mit meinem Vater gereist. Es war überwältigend, unsere Familie wiederzusehen, meine Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen. Die erste Woche war für die Familie reserviert, es kam wahnsinnig viel Besuch. Wir haben auch gemerkt, wie groß die Probleme vor Ort sind. Wir hatten kaum Strom in diesen Tagen. Dann sind wir zum Haus meines Vaters am Stadtrand von Damaskus gegangen. Nachdem mein Vater Syrien verlassen musste, war es eine Weile Zuflucht für Menschen, deren Häuser vom Regime bombardiert worden waren. Bis auch unser Haus konfisziert wurde. Ein hoher Offizier riss es sich unter den Nagel und vermietete es an eine Familie, die es jetzt an uns zurückgegeben hat. Der Ort ist sehr symbolisch: Hier wurde 2007 der oppositionelle „Nationalrat der  Damaskus Erklärung“ gegründet. Jetzt setzen wir das Haus wieder instand.

Und zugleich waren sie bei diesem Besuch auch schon politisch aktiv?

Ja. Es gab viele Treffen in diesen Wochen. Erstmals seit der Gründung vor sieben Jahren konnten sich die Mitglieder des „Syrian women’s political movement“ treffen. Bisher konnten wir ja nur über den Bildschirm sprechen. Rund 200 Frauen mit viel politischer Erfahrung, sowohl aus Syrien als auch aus der ganzen Welt, die jetzt in Entscheidungspositionen sein können und auch sollen. Wir haben in einer Pressekonferenz deutlich gemacht, dass wir eine politische Bewegung sind und jetzt das neue Syrien mitgestalten wollen. Das war auch eine Message an die derzeitigen Machthaber. 

Was sind ihre Eindrücke mit Blick auf deren derzeitige Politik? 

Mein genereller Eindruck ist, dass sie grundsätzlich kooperativ sind, dass sie zuhören, sehr diszipliniert sind. Auf viele Fragen haben sie keine Antworten, dann heißt es: Wir sind ja nur als Übergangsregierung hier, bis März. Was an sich natürlich auch richtig ist. Bei einigen Themen haben sie aber auch problematische Positionen – und dazu gehört auch die Beteiligung von Frauen.

Sie versuchen alles an ihr „Büro für Frauenangelegenheiten“ zu delegieren, dem ein problematisches Verständnis zugrunde liegt: Nämlich, dass Frauen nicht in allen Bereichen gleichberechtigt agieren können. Dazu passt auch die Aussage eines Regierungssprechers, der meinte, es liege in der Natur der Frauen, dass sie bestimmte Rollen nicht ausfüllen könnten, zum Beispiel die des Verteidigungsministers. Sowas ist völlig inakzeptabel. Es geht jetzt um umfassende Beteiligung, um gleiche Rechte. Dafür werden wir kämpfen. Wir wollen ein Büro eröffnen und uns als politische Bewegung registrieren. 

Es gibt große Sorgen mit Blick auf die islamistische HTS, nicht nur wegen der Frauenrechte, sondern auch ihrem Umgang mit Minderheiten, ihre Vision einer zukünftigen Ordnung...

Ja, das stimmt. Die Sorgen sind berechtigt. Allerdings muss man auch sagen: Es ist eigentlich unglaublich, wie wenig gewaltsam der Sturz des Regimes seit Dezember vonstattenging. Es ist so viel Gewalt geschehen in Syrien, es gab unglaubliche Brutalität und unzählige Massaker. Das Assad-Regime und die Sicherheitsdienste haben über Jahre gezielt Hass geschürt zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, ethnische und religiöse Gewalt instrumentalisiert. Angesichts dessen haben sich die Befürchtungen mit Blick auf einen neuen Bürgerkrieg und neu aufflammende Gewalt erstmal nicht bestätigt. Ich denke, das hat die Übergangsregierung ganz gut gemacht, in ihren Erklärungen zu gesellschaftlicher Einheit und gegen Racheaktionen. Das heißt nicht, dass es nicht auch beunruhigende Vorfälle gab, aber das scheinen mir eher Einzelfälle zu sein. Wichtig ist jetzt, dass der Übergang organisiert wird. 

Es muss eine Übergangsregierung bleiben, wir brauchen eine konstitutionelle Erklärung und Expertinnen, die jetzt mit der Arbeit für eine neue Verfassung beginnen – und nicht erst in drei oder vier Jahren, wie es der HTS-Anführer, Ahmad al-Sharaa, in einem Interview gesagt hat. Ich hoffe, dass wir ab März eine Technokratie haben, die auf der Grundlage von Expertise handelt – und nicht auf Basis einer bestimmten politischen Gesinnung.

Ihr zentrales Thema ist die Aufarbeitung der Vergangenheit und der Anspruch, Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Wie ist die Haltung der Übergangsregierung dazu?

Grundsätzlich gibt es noch keine klare Strategie, wie mit den alten Institutionen und ihren Angestellten umgegangen wird, wer zur Rechenschaft gezogen werden muss und wer bleiben kann. 

Generell fehlt der aktuellen Regierung die rechtliche Expertise. Die haben da keinerlei Erfahrung, abgesehen von religiösem Recht. Teils gibt es auch widersprüchliche Aussagen. Einerseits hat der Justizminister kürzlich einen Beitritt Syriens zum Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofes in Aussicht gestellt und der Chefankläger, Karim Khani, hat bereits Damaskus besucht. Das ist ein positives Zeichen. Andererseits gab es Forderungen nach einer Generalamnestie, das wäre völlig inakzeptabel. Es wird in Syrien keinen Frieden geben ohne Gerechtigkeit.

Was ist ihre Vorstellung, wie ein Weg zur Aufarbeitung der Vergangenheit aussehen könnte?

Die Rechte der Überlebenden müssen im Zentrum stehen, sie müssen im Mittelpunkt jeder Strategie stehen. Außerdem ist zentral, dass es ein syrischer Prozess ist. Wir brauchen sicher Unterstützung, aber das ist nichts, was nur von außen kommen kann. Wir brauchen jetzt eine nationale Debatte über das Thema und müssen Gelegenheiten schaffen, über das Erlebte zu reden. So ein Prozess muss im ganzen Land stattfinden, in den Städten und auf dem Land. Fast jede Familie ist ja betroffen von der extremen Gewalt der jahrzehntelangen Assad-Diktatur. Hundertausende Menschen wurden vom Assad-Regime verschleppt, sind einfach verschwunden. Die Opfer und ihre Angehörigen brauchen Anerkennung, Zuneigung und Entschädigung. Jene Täter*innen, die keine zentrale Verantwortung trugen und nicht für schwerwiegende Verbrechen verantwortlich sind, müssen, wo es möglich ist, Räume zur Entschuldigung und Reue erhalten. 

Es muss ein umfassender Versöhnungsprozess organisiert werden. Nach allem, was passiert ist, müssen die Syrer*innen neue Wege finden, zusammenleben zu können. Menschenrechtler*innen und Aktivist*innen können den Prozess unterstützen. Aber niemand hat das Recht, von oben zu bestimmen, wer zur Verantwortung gezogen werden soll und wer nicht. Aufarbeitungsprozesse funktionieren nicht nach Schema X. Wir müssen den Prozess an unsere Bedürfnisse anpassen, auch an unsere Ressourcen. Die Herausforderungen sind immens: die Aufklärung der Schicksale der Verschwundenen; die Massengräber; der Zugang zu Informationen. Ob wir Wahrheitskommissionen gründen, welche Institutionen genau verantwortlich sind – das muss alles diskutiert werden. 

Denn: Menschenrechte und Aufarbeitung von Unrecht gelten universell – für die Angehörigen des Regimes ebenso wie für andere, die Verbrechen begangen haben. 

In Deutschland haben nach dem Mauerfall 1989 Bürgerrechtler*innen die Zentralen der Staatssicherheit besetzt und so auch die Vernichtung der Dokumente verhindert. Wie können in Syrien Beweise gesichert werden?

Ja, ich habe von der Geschichte in Deutschland gehört, und davon,  dass Akten danach öffentlich einsehbar waren. Das ist sehr gut, es sollte ein Vorbild sein. Leider ist die Situation in Syrien gerade anders. Nach dem Fall des Regimes sind die Leute zuerst voller Hoffnung in die Gefängnisse geströmt, um ihre Liebsten zu finden. Aber nur wenige haben dort überlebt. Das ist sehr hart. Dann sind sie in die    Zentralen der Sicherheitsdienste gegangen, um in den Dokumenten etwas herauszufinden. Aufgrund des schnellen Wechsels konnte das Regime diese immerhin nicht vernichten. Aber die Situation war chaotisch, Akten wurden auseinandergerissen, teilweise sogar mit nach Hause genommen. Niemand war da, um Dokumente zu schützen und zu ordnen. Dabei sind diese Akten so wichtig, auch um die Täter zu verfolgen.

Sie waren selbst schon an Prozessen beteiligt, unter anderem in Deutschland, in denen syrische Verbrechen mit dem Völkerstrafrecht verfolgt wurden. Welche Rolle kann das internationale Recht spielen?

Es wird sehr wichtig sein. Ein Haftbefehl gegen Assad liegt schon vor, in Frankreich. Syrisches Recht ist aktuell nicht geeignet. Aber wir können es reformieren, internationale Prinzipien aufnehmen. Hybride Gerichtshöfe könnten eine Lösung sein, das heißt, syrische Gerichte mit internationaler Beteiligung.

Und wir haben sehr viele gut ausgebildete Anwält*innen und Richter*innen, die in den letzten Jahren im Ausland tätig waren. Ich hatte die Gelegenheit, im Rahmen meiner Arbeit für ECCHR an Prozessen gegen syrische Verantwortliche für schwere Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen teilzunehmen. In den USA beginnt dieses Jahr noch ein weiterer Prozess gegen Samir al-Sheikh, den ehemaligen Leiter des Adra Gefängnisses – dort saß mein Vater ein, ich werde als Zeugin aussagen. Meine Organisation, das ECCHR, versucht ja auch, auf diesem Weg zu Gerechtigkeit beizutragen und zudem syrische Jurist*innen auszubilden und zu unterstützen. Es wäre mein Wunsch, jetzt vor Ort ein SCCHR aufzubauen – das Syrian Center for Constitutional and Human Rights. 

Kann die deutsche Regierung bei diesem Prozess helfen?

Ja, ich denke schon. Wir sind in Kontakt. Unter den Unterstützungsmaßnahmen, die Deutschland angekündigt hat, wurde auch dieser Bereich schon genannt.

Wie geht es jetzt weiter?

Wir haben noch lange nicht alle Antworten. Wir sind derzeit in einer Art Erkundungsphase. Gerade wir im Exil müssen unsere Leben neu sortieren. Wir müssen auch verstehen, was jetzt die Prioritäten für die Menschen im Land sind. Ich habe dazu zahllose Gespräche geführt in den letzten Wochen – mit normalen Leuten, Taxifahrer*innen, Geschäftsleuten, Aktivist*innen usw. Wir können nicht einfach von außen kommen und unsere Ideen durchdrücken. Wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass die Werte der Revolution im neuen Syrien erhalten bleiben: Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung.