Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Lage hätte der zurückliegende Wahlkampf eigentlich ein Wirtschaftswahlkampf sein müssen, doch ernsthafte Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik der Zukunft blieben letztlich Randerscheinungen. Dabei ist die Liste der wirtschaftspolitischen Hausaufgaben lang und drängend.

Die „klaren Verhältnisse“, die es nun zumindest aufgrund der Möglichkeit eines Zweierbündnisses aus CDU/CSU und SPD gibt, müssten sich nun in Handlungsfähigkeit übersetzen. Eine neue Bundesregierung hat viele Aufgaben: Globale Verwerfungen meistern, Unsicherheiten reduzieren, Vertrauen zurückgewinnen. Vor allem muss sie vier zentrale Baustellen in der Wirtschaftspolitik angehen, um aus der Rezession wieder auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu kommen. In diesen vier Feldern gilt es, sowohl schnell und entschlossen vorzugehen, als auch langfristige Weichen zu stellen. In allen Bereichen gibt es genügend konstruktive Lösungsvorschläge. Und in allen Bereichen werden grüne Ideen und Impulse weiter eine Rolle spielen.
1. Deutsche Wirtschaftspolitik muss europäisch sein
Europäisch handeln bei Sicherheit und Industrie
Oft ist es nicht ein Mangel an Instrumenten, der der Handlungsfähigkeit der EU im Weg steht, sondern das Beharren auf nationalen Partikularinteressen, Beschlussunfreudigkeit und der mangelnde Wille, echte europäische Kompromisse zu finden
Die demokratischen Parteien haben in den letzten Wochen glaubwürdig betont, auf die großen geopolitischen Verwerfungen im Viereck USA-EU-Russland-China europäisch antworten zu wollen. Dieser Maxime müssen nun konkrete Taten folgen. Hier muss Deutschland Führungsstärke zeigen und sich als verlässlicher europäischer Partner beweisen. Um auf die zunehmenden wirtschafts- und sicherheitspolitischen Herausforderungen in einer sich wandelnden Welt reagieren zu können, ist und bleibt eine starke Europäische Union eine zwingende Notwendigkeit. Für diese muss Deutschland sich einsetzen und wird am Ende davon profitieren. Eine Skizze für solch eine Ausrichtung haben wir im vergangenen Jahr entworfen. Darin wird deutlich: Oft ist es nicht ein Mangel an Instrumenten, der der Handlungsfähigkeit der EU im Weg steht, sondern das Beharren auf nationalen Partikularinteressen, Beschlussunfreudigkeit und der mangelnde Wille, echte europäische Kompromisse zu finden.
Ähnlich verhält es sich bei der Wettbewerbsfähigkeitsagenda der EU-Kommission: Deutschland muss sie vorantreiben und darf nicht gleichzeitig nationale Interessen mit der Brechstange durchsetzen – eine Gratwanderung. Ökonom*innen des Internationalen Währungsfonds haben errechnet, dass eine europäische industriepolitische Koordination gegenüber nationalen Alleingängen deutliche Effizienzvorteile bietet. Zugleich ist für Deutschland ein funktionierender Europäischer Binnenmarkt, insbesondere im Lichte wachsender Spannungen mit den Handelspartnern in China und den USA, wichtiger denn je. In der neuen von der Heinrich-Böll-Stiftung EU geförderten Studie How to build and fund a better EU green industrial policy werden mehrere Ideen für eine solche europäische Industriepolitik dargelegt. Ziel dieser Agenda muss es bleiben, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz zu vereinen – durch einen Fokus auf grüne Technologien (die schon heute zweimal schneller wachsen als der Rest der Wirtschaft), Senkung von Energiepreisen durch den Ausbau von erneuerbaren Energien und den Aufbau einer Kreislaufwirtschaft. Der für die nächsten Tage angekündigte Clean Industrial Deal der Europäischen Kommission kann diese Brücke schlagen und muss auch für eine Regierung ohne grüne Beteiligung Priorität haben. Um dieser Strategie Wirkung zu verleihen, müssen Projekte mit europäischem Mehrwert im kommenden mehrjährigen Finanzrahmen der EU auch mit Mitteln unterlegt werden, wie unsere Analyse zur Zukunftsfähigkeit des Europäischen Haushalts zeigt.
2. Planungssicherheit bei Klima und Energie schaffen
Klimaschutz heißt Modernisierung
Deutschland kann sich keinen Schlingerkurs bei den großen Branchentransformationen, die wir durchleben, leisten. Produkte und Geschäftsmodelle aus dem letzten Jahrhundert bilden zwar die wirtschaftliche Grundlage des Landes, sind aber nicht mehr zukunftsweisend genug. Und eigentlich wurde das längst erkannt: Die Dekarbonisierung des Energiesystems ist in vollem Gange, die Automobilwirtschaft hat sich auf Elektrifizierung eingestellt. Fast alle potenziellen Wachstumsbranchen der Zukunft basieren auf grünen Technologien („Clean Tech“). Die Klimaziele sind Nordstern und Antrieb dieser Modernisierung. Nicht nur zur Einhaltung internationaler Abkommen, sondern auch zum Abbau der Unsicherheit, die sich in der Wirtschaft breitgemacht hat, braucht es von einer neuen Regierung ein paar klare Ansagen:
- Erstens, an getroffenen Vereinbarungen wie der schrittweisen Verabschiedung vom Verbrennungsmotor und von Öl- und Gasheizungen wird nicht mehr gerüttelt, der Blick geht nach vorn.
- Zweitens, die Förderkulisse bildet diesen Blick nach vorn verlässlich ab, das heißt plötzliche Stopps wie bei den Prämien für E-Autos darf es nicht mehr geben.
- Und drittens, wir gehen den Weg der sauberen Modernisierung mit internationalen Partnern – so, dass beide Seiten profitieren. Die USA verabschieden sich aus der Zusammenarbeit mit anderen Ländern, Europa kann und sollte diese Lücke zumindest zum Teil füllen. Denn Entwicklungszusammenarbeit und Klimafinanzierung sind keine Wohltätigkeit. Beispielsweise zeigen Studien der Internationalen Energieagentur seit Jahren, wie wichtig Klimapartnerschaften zur effektiven Senkung von Emissionen sind.
Strompreise senken, die Energiewende absichern
Auf der anderen Seite braucht es verlässlich sinkende Strompreise. Dass der Trend bereits in die richtige Richtung geht, wird bei aller Aufregung um die Strompreise gern übergangen. 2024 sanken sowohl der Industriestrompreis als auch der Strompreis für private Haushalte deutlich, entgegen aller Befürchtungen aufgrund des Atomaustiegs. Neue – dringend benötigte – Investitionen in den Netzausbau und Erneuerbare-Kapazitäten sind zunächst teuer, zahlen sich aber langfristig aus. Der Staat muss helfen, diese Kosten zu strecken und die Preise zu dämpfen. Auch das bedeutet Planungssicherheit. Viele Unternehmen und Haushalte haben sich auf sinkende Strompreise eingestellt, dementsprechend investiert und sind darauf angewiesen, dass auch eine kommende Bundesregierung die Versprechen der Energiewende einlöst.
Die doppelte Herausforderung, große Investitionen zu tätigen ohne Verbraucher*innen über die Maße zu belasten, machen auch hier eine europäische Strategie notwendig. Ein europäischer Netzausbau, der sich an den Vorteilen erneuerbarer Energien orientiert, ist langfristig günstiger.
3. Öffentliche Finanzen für die Zukunft aufstellen
Ein richtungsweisender Haushalt und neue Schuldenregeln
Die zunehmende Distanzierung der USA von ihrer sehr aktiven Rolle in der europäischen Verteidigung, insbesondere die schockierende Abkehr von der Ukraine, sorgen selbst bei konservativen Ökonomen und Austeritätsfans zur Einsicht, dass man sich durch die multiplen Krisen der Gegenwart nicht blind hindurchsparen kann. Mindestens zur Herstellung einer europäischen Verteidigungsfähigkeit und zur Erneuerung der infrastrukturellen und industriellen Basis ist eine Anpassung der Schuldenregeln in Deutschland und auch in Europa nötig. Diverse Instrumente stehen zur Verfügung, doch müssen hier, ähnlich wie beim Ankurbeln der Privatwirtschaft (siehe unten), Entschiedenheit, Effektivität und Geschwindigkeit im Vordergrund stehen. Das kann zum Beispiel bedeuten, verschiedene Maßnahmen miteinander zu kombinieren: Quoten für Zukunftsausgaben im Allgemeinen und Fonds für Infrastruktur, so wie es der Sachverständigenrat vorschlägt. Oder Sondervermögen für die dringenden Großaufgaben Verteidigung und Dekarbonisierung sowie die Schaffung von Spielräumen nach Notlagen und mit Blick auf die Konjunktur. Es kann auch bedeuten, auf Ebene der EU Mittel für die Industrie und Dekarbonisierung zu mobilisieren und gleichzeitig auf nationaler Ebene mithilfe von Ausnahmeregelungen den Weg für notwendige Verteidigungsausgaben zu ebnen.
Steuerlast fair verteilen
Der Einwand, dass nur neue Schulden unsere strukturellen Probleme nicht lösen, ist völlig korrekt. Deswegen ist der Appell an Mut beim Thema Schulden unabdingbar verbunden mit Reformen, die zu mehr Effizienz auf der Ausgabenseite führen. Und auch auf der Einnahmenseite des Staates müssen schnellstens Korrekturen eingeleitet werden. Das bedeutet auf der einen Seite Entlastungen für die Bürger*innen. Doch genauso wie der Staat nicht ungezielt subventionieren sollte, sollte er auch nicht dort Milliarden auf der Einnahmenseite verschenken, wo es nicht nötig ist. Eine Analyse des DIW zeigt deutlich, wie einseitig viele der Steuervorschläge im Wahlkampf die höchsten Einkommen entlasten würden, wobei sie den Staat teuer zu stehen kommen.
Stattdessen ist es notwendig, angesichts der Belastungen durch Energiepreise und die Inflation der letzten Jahre die arbeitende Mitte der Bevölkerung steuerlich zu entlasten. Auf der anderen Seite ist es unabhängig von ideologischen Grabenkämpfen naheliegend, über eine Gegenfinanzierung durch höhere Besteuerung der Reichsten in unserer Gesellschaft zu sprechen – sei es durch höhere Spitzeneinkommens-, konsequentere Erbschafts- oder moderate Vermögenssteuern. Das ist ein Gebot der Fairness, aber auch der Gegenfinanzierung.
Einerseits braucht es massive Steigerungen bei den Einzahlenden [...], andererseits müssen Systeme wohl oder übel modernisiert und zusammengefasst werden, um Kosten zu senken.
Langfristig bleiben trotzdem immense Aufgaben für die öffentlichen Finanzen. Im Bundeshaushalt braucht es mehr als die Schuldenbremsenreform, um die öffentlichen Haushalte zukunftsfest aufzustellen. Von einer „Zukunftsquote“ über eine Reform der Kommunalfinanzierung bis zur Einführung der Doppik im Bundeshaushalt gibt es genügend Ideen – alle erfordern Grundgesetzänderungen und einen Willen, neu zu denken. Das gilt auch auf der anderen Seite, wo neben den Steuern auch die Sozialabgaben große Reformbedarfe aufweisen. Die demografische Entwicklung verhandelt nicht politisch. Einerseits braucht es massive Steigerungen bei den Einzahlenden (etwa durch eine höhere Nettoeinwanderung), andererseits müssen Systeme wohl oder übel modernisiert und zusammengefasst werden, um Kosten zu senken. Auch hier gilt zudem der Grundsatz: Möglichst alle sollten beteiligt werden, nicht nur die arbeitende Mitte.
4. Das Investitionsklima verbessern
Private Investitionen ankurbeln
Im Zentrum der Misere der deutschen Wirtschaft stehen je nach Prioritätensetzung der Wirtschaftsforscher eine oder mehrere aus drei Makro-Kennzahlen: Das (schwache) Produktivitätswachstum, die (hohe) Regelungs- und Abgabenlast und die (niedrigen) privaten Investitionen. Der erste Punkt hat viel mit Innovation und Technologie zu tun, der zweite Punkt folgt unten.
Die Investitionsschwäche als dritter Faktor speist sich aus den ersten beiden Punkten sowie der angesprochenen Unsicherheit, aber man kann ihr begegnen. Ganz zentral ist hierfür eine zuverlässige Finanz- und Investitionspolitik. Nicht nur Zentralbanken zeigen mit ihrer Politik an, wo die Reise hingeht (sogenannte „Forward Guidance“), sondern auch durch staatliches Vorangehen in der Fiskalpolitik wird ein Signal gesetzt, dem die Privatwirtschaft folgt („Fiscal Forward Guidance“, mehr dazu im Podcast Lage der Nation).
Zusätzlich braucht es konkrete Anreize. Alle Parteien haben sie im Programm, teils breit – und dafür ungenau – mit Steuererleichterungen für Unternehmen, teils treffsicherer mit Investitionsprämien. Analysen deuten darauf hin: Sowohl strukturelle Entlastungen als auch günstigere Abschreibungsregeln und Investitionsprämien würden helfen, Hauptsache die Maßnahmen kommen schnell, umfänglich und verlässlich.
Echter Bürokratieabbau statt Kettensäge
Kaum eine Forderung wird so universell unterstützt und so wenig umgesetzt wie Bürokratieabbau. Eine sachliche Auseinandersetzung mit möglicherweise überflüssigen oder zu komplizierten Regelungen hat das BMWK bereits gestartet, unter anderem mit Praxischecks. Eine neue Regierung muss noch einen oben draufsetzen. Und das bedeutet nicht, sich auf populistische Forderungen nach der Streichung wichtiger Behörden (Stichwort Umweltbundesamt) oder maßgeblicher Sorgfaltspflichten (Stichwort Lieferkettengesetz) einzulassen, also top-down zu deregulieren, sondern bottom-up konkrete Aufwände zu reduzieren, wenn sie Modernisierung bremsen. Ja, das bedeutet auch etwas mehr Bereitschaft zu Eigenverantwortung und Vertrauen in Bürger*innen und Unternehmen, so wie es bei den Vorschlägen des Normenkontrollrats deutlich wird. Vor allem müssen aber Prozesse digitalisiert, Anträge vereinfacht und Zuständigkeiten geklärt werden. Die öffentliche Verwaltung braucht eine Agenda der Digitalisierung und Effizienz, davon profitieren am Ende alle. Dass die Politik zu Reformen bei der öffentlichen Hand in der Lage ist, wird oft bezweifelt, die Wahlrechtsreform mit der Folge der Verkleinerung des Bundestags ist aber ein gutes Gegenbeispiel.
Langfristig stehen zwei Evergreens auf der To-Do-Liste, um die Standortbedingungen für Investitionen zu verbessern und auch ausländisches Kapital anzuziehen. Die Kapitalmarktunion auf EU-Ebene muss von der nächsten deutschen Regierung forciert werden und auch die zarten ersten Schritte zu einem besseren Venture-Capital-Ökosystem in Deutschland (unter anderem durch die WIN-Initiative) müssen intensiviert werden, um Raum für Innovationen zu schaffen und diese attraktiver zu machen.
Veranstaltungstipp: Online-Diskussion "Industrie & Innovation - Die neue Rolle der EU in der Weltwirtschaft", am Mittwoch, 19. März 2025, von 14.00 bis 15.30 Uhr.