Wer kann „Deutschland retten“? Stimmen aus China zu den Bundestagswahlen

Analyse

In den chinesischen sozialen Medien bekamen vor allem die Narrative der AfD Beachtung. Ausgewogener kommentieren chinesische Expert*innen die Bundestagswahlen. Eine Analyse von Arthur Tarnowski, Büroleiter für die Heinrich-Böll-Stiftung in Peking.

Foto: Eine Hand steckt einen Stimmzettel in eine Wahlurne.
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Mache chinesische Analyst*innen sehen die Lösung vieler deutscher Probleme vor allem in engeren und partnerschaftlichen Beziehungen zu China.

Wären die chinesischen sozialen Medien ein Abbild davon, wie China über Deutschland denkt, dann wäre die Antwort auf die Frage „wer Deutschland retten könne“ („谁能拯救德国?“), sicherlich deutlich ausgefallen: nur die AfD. Fast hysterisch waren die verklärenden Beiträge über Alice Weidel, die in China gelebt und zum chinesischen Rentensystem promoviert hatte. Tatsächlich bekamen die Narrative der AfD so viel Aufmerksamkeit, dass zumindest zeitweilig das Deutschland-Bild in China davon geprägt ist - was auch darin begründet ist, dass es zwischen der innenpolitischen Propaganda und den Themen der AfD einige Schnittmengen gibt.

Ein ausgewogeneres Bild ergibt sich, wenn man seine Aufmerksamkeit den Bewertungen chinesischer Deutschland-Experten schenkt.  In deren Analysen geht um den Rechtsruck, um Migration, um den Zustand der deutschen Wirtschaft, die Auswirkungen Donald Trumps auf Deutschland und die deutsch-chinesischen Beziehungen: Letztlich um die Frage, wie Deutschland sich aus einer verfahrenen Situation befreien könne. Zu umfassend und vielschichtig seien die Probleme.  Aus chinesischer Sicht optimistischere Zwischentöne finden sich in der Zuschreibung von Wirtschaftskompetenzen bei der Union, und zum anderen, wenn in den geopolitischen Verschiebungen und ihre Auswirkung auf Deutschland die Chance auf eine freundlichere China-Politik der Bundesregierung gehofft wird. Letzteres drückte auch das chinesische Außenministerium in einer ersten Reaktion auf den Wahlsieg der CDU/CSU aus (MFA PRC).

Migration und der Rechtsruck

Zwischen Ampelbruch und Neuwahlen nahmen auch chinesische Expert*innen die Verschiebung weg von Wirtschaftsthemen hin zu einem Fokus auf Migrationsfragen wahr und griffen dies in ihren Analysen auf. So identifizierte Hu Chunchun, Professor an der Shanghai International Studies University, in der "Massenaufnahme von Flüchtlingen" (大量接纳难民) zunächst die Ursache für die Unzufriedenheit der Bevölkerung und darin den Nährboden für den Aufstieg der AfD; verurteilt aber gleich darauf deren nationalistische Ideen, die Angriffe auf Migranten und den Versuch, das historische Selbstverständnis Deutschlands korrigieren zu wollen (Xinhuanet). Damit weist Hu auf die Gefahr der Erosion der Brandmauer gegen Rechts hin – so wie es auch Zheng Chunrong, Professor an der Tongji Universität, bereits im Dezember 2024 getan hatte, als sich die CDU entschied, Migration zum Schwerpunkt des Wahlkampfs zu machen (Weixin).

"Langfristig könne [Merz‘ Vorgehen] zu einer Erosion der Brandmauer gegen Rechts führen, was ernste Konsequenzen für die deutsche Gesellschaft sowie für die internationale Gemeinschaft nach sich ziehen könnte." (Weixin

Gu Xuewu, Professor für Politikwissenschaft und internationale Beziehungen an der Universität Bonn, der auch regelmäßig für eine chinesische Leserschaft publiziert, hält dagegen bereits die Zuschreibung von Parteien als rechts oder rechtsextremistisch für ungeeignet und sieht darin vor allem ein Label, dass die Parteien der Mitte – von ihm als Establishment 建制派 bezeichnet – an die Parteien des Anti-Establishment 反建制派 vergeben hätten (Yicai). Dass Gu hier darauf verweist, dass die AfD auch linke Elemente übernommen hätte, um ihr seinerseits das Label einer rechten Partei abzuziehen, ignoriert die Tatsache, dass Teile der Partei als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wurden (Amadeu-Antonio-Stiftung). Gu glaubt aber auch, dass Deutschland stabil sei und die Kräfte des Anti-Establishment zwar an Einfluss gewonnen hätten, aber keine echte Bedrohung darstellen würden.

Der Zustand der deutschen Wirtschaft

Trotz der Verschiebung hin zum Wahlkampfthema Migration besprechen chinesische Analyst*innen auch den Zustand der deutschen Wirtschaft. Dies geschieht insbesondere am Nexus von Wirtschaftspolitik und geopolitischer Verschiebungen. Bei Wang Jianbing, Professorin an der Beijing Foreign Studies University, waren vor den Wahlen noch optimistischere Töne zu hören, als sie davon schrieb, dass Deutschland seine Schwierigkeiten meistern können, wenn es gelinge, tiefgreifende politische, wirtschaftliche und soziale Reformen umzusetzen. Dafür sei jedoch auch politische Kohäsion notwendig.(Huanqui) Letztere wird in weiteren Beiträgen immer wieder genannt – nicht selten verbunden mit der Aufforderung, dass Deutschland politisch kohärenter, kompromissbereiter und „weniger ideologisch“ agieren müsse (siehe z.B. Jiang Feng, World Affairs Bi-weekly, 02. Februar 2025). Unmittelbar nach den Wahlen war zudem Erleichterung zu lesen als eine Große Koalition numerisch möglich wurde: 

Die Union und die Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit mehrfach zusammengearbeitet und wurden als „Große Koalition“ bezeichnet. Im Gegensatz dazu haben Parteien wie die Grünen oder die FDP eine stabilere Wählerschaft und sind weniger bereit, Kompromisse mit anderen Parteien zu erzielen.“ (Guancha)

Shi Shiwei, Direktor des Zentrums für deutsch-chinesische Wirtschafts- und Handelsforschung an der Universität für Außenwirtschaft und Handel listet eine lange Liste von Herausforderungen für die deutschen Wirtschaft auf und folgert schließlich: 

„[...] mit der Annahme, dass die neue US-Regierung möglicherweise Zölle gegen die EU einführen wird, gibt es wenig Grund zur Hoffnung für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands im Jahr 2025".(UIBE)

Jiang Feng, Professor an der Shanghai International Studies University, beschreibt dagegen nicht die veränderten externen Bedingungen als Grund für die strauchelnde Wirtschaft, sondern sieht in der schwierigen Wirtschaftslage insbesondere selbstverschuldete Probleme:

„Die deutsche Wirtschaft selbst hat ein großes Potenzial für Innovation und Entwicklung, und der Grund für die derzeitige Krise liegen in der falschen Politik der Regierung begründet. Die Bundesregierung hat mit ihrer „grünen Wirtschaftspolitik“ den Unternehmen zahlreiche Schwierigkeiten bereitet, und die Regierung selbst ist das Hauptproblem für die wirtschaftliche Stagnation Deutschlands.“ (World Affairs Bi-weekly, 02. Februar 2025)

Tatsächlich geht es Jiang Feng vor allem um die Färbung wirtschaftspolitischer Entscheidungen und dem Eingriff der Regierung in die Wirtschaft. Diese würde vor allem aus politischen und ideologischen Gründen erfolgen. Die Möglichkeit einer kausalen Verbindung zwischen Chinas eigener Industriepolitik (bzw. staatlichen Eingriffen in die chinesische Wirtschaft) und der Schwächung des deutschen Exportmodells wird an dieser Stelle nicht diskutiert.

Dass grüne Wirtschaftspolitik aber nicht ideologisches Übel, sondern notwendige Transformation ist, erkennt Wu Huiping. Sie attestiert Deutschland, dass die grüne Transformation in Deutschland trotz aller Herausforderungen kontinuierlich voranschreite und unterstützt würde durch ein steigendes Umweltbewusstsein und den Druck internationaler Klimavereinbarungen. Er hebt die Bedeutung für die deutsche Wirtschaft hervor:

„Die grüne Transformation ist nicht nur ein internes Entwicklungsbedürfnis, sondern auch ein Wettbewerbsfaktor im globalen Wirtschaftsumfeld. Länder, die in grünen Technologien und sauberen Energien führend sind, werden in den zukünftigen internationalen Märkten eine bedeutende Rolle spielen.“ (baidu)

Während die Bewertung deutscher Wirtschafts- und Klimapolitik noch auseinandergeht, scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass in der Union ausreichend Kompetenz versammelt sei, um Deutschland aus der schwierigen Lage zu manövrieren. Merz käme dabei auch seine Unternehmenserfahrung zugute, (bjd). Und weiter: 

„Die Union hätte Erfahrung darin „wirtschaftliches Wachstum zu fördern. Mit ihrer flexiblen Anpassung der Wirtschaftspolitik wird sie der deutschen Wirtschaft mit Sicherheit neue Impulse verleihen.“ (21jingji)

Das Ende der transatlantischen Beziehungen?

Doch spätestens seit der Münchener Sicherheitskonferenz wird die wirtschaftliche Situation Deutschland zunehmend aus einer geopolitischen Perspektive betrachtet. Zu bedeutend und weitreichend ist die Abkehr der USA als transatlantischer und verlässlicher Partner für Europa und Deutschland. Die Auswirkungen dieser Verschiebungen sind so fundamental, dass chinesische Analyst*innen zum einen dazu übergegangen sind zu beschreiben, wie sich die Situation für Deutschland verschärft, zum anderen, welche Implikationen diese globalpolitischen Verschiebungen auf die deutsch-chinesischen Beziehungen haben könnten. Damit war bereits vor der Münchener Sicherheitskonferenz gerechnet worden, als beispielsweise Wu Huiping schrieb: 

"Natürlich wird Trump versuchen, den Russland-Ukraine-Konflikt1 auf seine Weise zu lösen, aber das ist nicht unbedingt eine gute Nachricht für Deutschland und Europa. Es besteht die Sorge, dass Trump eine "Überkopf-Diplomatie" mit Putin betreiben könnte, wodurch europäische Interessen geopfert würden.“ (Baijiahao)

Die Zukunft der deutsch-chinesische Beziehungen

Zahlreiche Artikel sehen darin eine Chance für den Ausbau der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen, hier einige Auszüge:

"[...] Unter Trumps „America First“-Prinzip und seiner Strategie des „maximalen Drucks“ könnten die außen-, wirtschafts- und sicherheitspolitischen Maßnahmen der neuen US-Regierung Deutschlands Kerninteressen schädigen. Dies könnte Deutschland dazu veranlassen, eine ausgewogenere Politik zwischen China, den USA und Europa zu verfolgen und eine relativ moderate Haltung gegenüber China einzunehmen, um die wirtschaftlichen Beziehungen zu stabilisieren und die negativen Auswirkungen von Trumps harter Linie abzufedern." (Weixin)

"Angesichts möglicher Veränderungen in den transatlantischen Beziehungen dürfte es eine pragmatische Entscheidung der neuen deutschen Regierung sein, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China in nicht-sensiblen Bereichen aufrechtzuerhalten oder sogar auszubauen." (Tongji)

„Da Trump eine protektionistische Handelspolitik verfolgt, bleibt Deutschland auf enge wirtschaftliche Beziehungen zu China angewiesen. Ein vollständiges „Decoupling“ ist keine Option, sodass sich die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und China unter Merz wahrscheinlich verbessern werden.“ (21jingji)

Unter diese Bewertungen mischen sich aber auch Töne, die einen realistisch-kritischen Ausblick auf die deutsch-chinesischen Beziehungen vornehmen und anerkennen, dass es keine „schnelle Rückkehr zu den Höhen der Merkel Ära“ geben wird, wie es Ding Chun aus seinem Verständnis heraus besonders optimistisch vorhersagt (Bbtnews). Stattdessen erkennen viele Analyst*innen an, dass die als „Krise in der Ukraine“ (乌克兰危机) bezeichnete Invasion der Ukraine durch Russland das bestehende Vertrauensdefizit (信任赤字) gegenüber China weiter vertieft hat. Deutschland werde China weiterhin als „systemischen Rivalen“ betrachten und die Kerninhalte der „China-Strategie“ fortführen. 

Wer kann Deutschland retten?

Zu Beginn dieser Recherche über chinesische Perspektiven auf die Neuwahlen konnte davon ausgegangen werden, dass dabei vor allem der Zustand der deutschen Wirtschaft und die Auswirkungen der jeweiligen Koalitionsoptionen auf die deutsch-chinesischen Beziehungen thematisiert würden. Zwei wesentliche Ereignisse haben diesen Fokus jedoch verändert: Einerseits verlagerte sich der Wahlkampf von wirtschaftlichen Themen hin zu Migrationsfragen, andererseits trug die Rede von JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu einer weiteren Verschiebung bei.

Die zitierten Expert*innen weisen daher darauf hin, dass Deutschland mit einer extrem komplexen Situation konfrontiert sei, und heben in ihren Analysen die vielschichtigen ineinandergreifenden Problemlagen hervor. Diese lassen sich grob in zwei Bereiche unterteilen: zum einen sind dies der Aufstieg der AfD, die Herausforderungen zum Thema Migration (sowohl als Wahlkampfthema als auch als politische Aufgabe) und das „Versagen“ der Ampelregierung, adäquate Lösungsansätze dafür zu finden. Zum anderen sind dies der Zustand der deutschen Wirtschaft, der durch die geopolitischen Verschiebungen weiter verschärft und – erneut – die Kritik an der Ampelregierung, die es nicht geschafft hat, Lösungen zu finden. 

Den Weg aus dieser multiplen Krise bewerten die Analyst*innen als voraussetzungsreich, schreiben aber der kommenden unionsgeführten Regierung Kompetenzen zu, dies anleiten zu können. Für die innenpolitische Dimension erwarten sie von der Union eine „Entideologisierung“ der Politik - ein Label, dass durch die Analyst*innen nur Parteien des linken Spektrums gegeben wird. Konsensfähigkeit müsse dort hergestellt werden wo in der bisherigen Ampelkoalition vor allem Streit herrschte. Für die wirtschaftliche und geopolitische Situation sieht man die Lösung vieler deutscher Probleme vor allem – und das überrascht sicherlich nicht - in engeren und partnerschaftlichen Beziehungen zu China.


Fußnoten
  • 1

    Anmerkung: In der chinesischen Version wird 俄乌冲突 genutzt. Dies ist direkt zu übersetzen als Russland-Ukraine-Konflikt, der üblichen Bezeichnung in offiziellen chinesischen Verlautbarungen.