Nach Jahren des Zögerns geht die EU – getrieben von geopolitischen Verschiebungen – endlich voran. Der Sondergipfel in Brüssel zeigt Bewegung in der Verteidigungspolitik. Doch ohne den großen Wurf bleibt Europa verwundbar.

Es gibt Ereignisse, die teilen die Geschichte in ein Davor und ein Danach ein. Eines dieser Ereignisse war der bizarre Auftritt Donald Trumps und seines Vizepräsidenten J.D. Vance, die Wolodymyr Selenskyj vor laufender Kamera im Oval Office in verstörender Weise demütigten. Seitdem hat sich die sicherheitspolitische Lage Europas dramatisch verschlechtert. Trump stoppte sämtliche Militärhilfen für die Ukraine, stellte die NATO infrage und ließ keine Zweifel daran, dass Europa mit dem Schlimmsten rechnen und sich ab sofort selbst verteidigen muss. Einmal mehr wurde deutlich, dass Trumps geopolitisches Handeln der Logik des griechischen Historikers Thukydides folgt: Die Starken tun, was sie wollen, und die Schwachen müssen sich dem Willen der Starken fügen.
Die gute Nachricht inmitten der düsteren weltpolitischen Lage ist, dass die europäische Reaktion prompt folgte. Beim Londoner Gipfel, der unmittelbar nach dem Eklat im Weißen Haus stattfand, ergriffen das Vereinigte Königreich und Frankreich die diplomatische Initiative, solidarisierten sich mit der Ukraine und skizzierten einen möglichen Pfad zu einem vorläufigen Waffenstillstand. Berlin kündigte massive Investitionen in die Verteidigung an. Macron forderte in einer Fernsehansprache eine neue strategische Ausrichtung Europas. Und Kommissionspräsidentin von der Leyen präsentierte den Vorschlag für eine europäische Aufrüstungsinitiative „ReArm Europe“.
Nach Jahren des Zögerns und Zauderns scheint die EU endlich zu begreifen, dass die Mitgliedstaaten in ihre gemeinsame Verteidigung investieren müssen und sich nicht auf der Unterstützung der USA ausruhen dürfen. In Krisenzeiten hat die EU wiederholt bewiesen: Europa ist handlungsfähig und hat das Potential zu gemeinsamer Stärke.
Der EU-Sondergipfel vom 6. März 2025 markiert dabei in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Wendepunkt.
Mehr Geld für Verteidigung, aber reicht das?
Erstens: Der Gipfel bringt maßgebliche Fortschritte bei der Finanzierung für Verteidigungsausgaben. Der Kommissionsvorschlag „ReArm Europe“ wurde angenommen. Dieser ermöglicht die Nutzung der Ausweichklausel im Stabilitäts- und Wachstumspakt, um die nationalen Verteidigungsausgaben der EU-Mitgliedstaaten zu erhöhen, und sieht ein Verteidigungsdarlehen in Höhe von 150 Milliarden Euro vor. Insgesamt soll der Plan bis zu 800 Milliarden Euro mobilisieren.
Doch ein Problem bleibt: Die Finanzierung läuft größtenteils über die nationalen Mitgliedstaaten. Das ist zwar wichtig, aber nicht ausreichend, denn es fehlt eine starke europäische gemeinschaftliche Komponente der Finanzierung. Immerhin: Der Europäische Rat hat die EU-Kommission damit beauftragt, eine zusätzliche europäische Finanzierungsebene auszuarbeiten. Das ist ein notwendiger Schritt. Europa kann es sich nicht leisten, dass jeder Staat isoliert aufrüstet.
Und Geld allein reicht nicht. Es braucht Koordination und gemeinsame Beschaffung. Europa muss nicht nur mehr ausgeben, sondern klüger und vor allem gemeinsam investieren. Ein zersplittertes System, in dem jeder Mitgliedstaat seine eigenen Projekte verfolgt, ist ineffizient und schwächt die Verteidigungsfähigkeit Europas. Geld muss nicht nur mobilisiert, sondern vor allem klug und koordiniert ausgegeben werden. Gemeinsame Rüstungsbeschaffung ist dabei ein Schlüsselwort.
Eine Verteidigungsunion der Willigen
Zweitens hat der Gipfel gezeigt: Europa kann auch ohne Ungarn vorangehen. Erneut hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán versucht, die Schlussfolgerungen des Rates zur Unterstützung der Ukraine zu blockieren. Doch die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten haben dazugelernt. Wenn die ungarische Regierung nicht mitzieht, dann können Schlussfolgerungen auch ohne Budapest beschlossen, kann Orbán folglich von den anderen 26 Mitgliedstaaten isoliert werden. Das Signal ist damit endlich in aller Klarheit gesetzt: Es kommt nun vor allem darauf an, die Handlungsfähigkeit der EU zu stärken und sich dabei nicht von den Erpressungsversuchen eines autoritären Regierungschefs beeindrucken, aufscheuchen oder aufhalten zu lassen, der die Nähe zu Putin und Trump sucht. Deshalb ist die „Koalition der Willigen“ jetzt entscheidend: Eine Gruppe entschlossener EU-Staaten, die bereit sind, gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich auch in der NATO Führung zu übernehmen.
Drittens wurden beim Sondergipfel Schwerpunkte für die europäische Verteidigung gesetzt. Dabei sind klare zeitliche Leitplanken und Priorisierungen zentral. Kurzfristig muss der Fokus vor allem auf der militärischen Unterstützung der Ukraine liegen. Mittelfristig müssen die europäischen Abschreckungsfähigkeiten gestärkt werden. Und mittel- bis langfristig müssen überall, wo ein möglicher Rückzug der USA neue Defizite schaffen würde, strukturelle Lücken geschlossen und eigenständige Strategiefähigkeiten auf- und ausgebaut werden.
Neben dem Fokus auf Verteidigungskapazitäten muss es aber auch um gesellschaftliche und demokratische Resilienz gehen. Der 2024 vorgestellte Niinistö-Bericht „Safer Together“ gibt dabei zentrale Impulse, denn die EU muss nicht nur ihre Streitkräfte stärken, sondern auch ihre kritische Infrastruktur, Cybersicherheit und Widerstandsfähigkeit ihrer Gesellschaften.
Verteidigungspolitischer Dreisprung
Die Konturen einer Europäischen Verteidigungsunion sind gezeichnet. Bei der Umsetzung wird es auf eine ausreichende und nachhaltige Finanzierung, gemeinsame Koordinierung und Rüstungsbeschaffung sowie eine ambitionierte Koalition der Willigen ankommen.
Trump versteht nur die Sprache von Deals und Stärke. Das bedeutet für Europa, dass es ihm geeint und selbstbewusst begegnen muss. Europa darf nicht darauf hoffen, dass es von seinen Hasstiraden, Angriffen und imperialistischen Ambitionen verschont bleibt. Denn in der Logik selbst ernannter Könige folgt auf den Kniefall kein Respekt, sondern lediglich gesteigerte Verachtung gegenüber dem Knienden.
Deshalb gehört zu einer europäischen Neuaufstellung auch eine genauso entschiedene globale Positionierung und Suche nach strategischen Partnerschaften mit Ländern, die im Kern das Wesensprinzip werteorientierter westlicher Demokratien teilen.
Im Sport des Dreisprungs gibt es drei Phasen: den Hop, den Step und den alles entscheidenden Sprung. Europa erwacht seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in ebendiesen Phasen aus einem sicherheitspolitischen Tiefschlaf. Es muss nun den alles entscheidenden Sprung in die Europäische Verteidigungsunion schaffen. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk brachte es auf den Punkt, als er betonte, dass wir stark seien und endlich anfangen müssten, auch selbst daran zu glauben.
Während des Sondergipfels wurden dafür wichtige Grundlagen gelegt. Jetzt muss Europa liefern. In zwei Wochen, am 20. und 21. März, treffen sich die Staats- und Regierungschefs erneut. Dann zeigt sich, ob Europa Kurs hält und entschlossen die Pläne für eine Europäische Verteidigungsunion verfolgt.
Veranstaltung zum Thema:
Online-Diskussion am Mittwoch, 19. März 2025 16.00 – 17.30 Uhr
Europa am Scheideweg: Sicherheit, Verteidigung und Polens EU-Ratspräsidentschaft
Hinweis: Die Veranstaltung findet auf Englisch statt.