
In der deutschen Theaterlandschaft wird das Thema Diversität nach wie vor zu selten als Chance begriffen. Im Gespräch mit Elizabeth Blonzen plädiert die Dramaturgin, Schauspielerin und Regisseurin Antigone Akgün dafür, Diversität nicht nur als Aufgabe zu sehen, die „abgehakt“ werden muss.

Das Gespräch führte Prof. Elizabeth Blonzen, Max-Reinhardt-Seminar Wien.
Berlin/Frankfurt, November 2024. Antigone Akgün ist schwer zu fassen. Glücklicherweise findet die vielbeschäftigte Dramaturgin, Performerin, Autorin und Jurorin ein Zeitfenster während der Vorbereitung zu ihrer Inszenierung «Unser Deutschlandmärchen » am Theater Aachen. Sie schenkt mir fünfundvierzig Minuten, danach muss sie zurück an den Schreibtisch, der nächste Text wartet. Wir kennen uns aus der Jury vom Theatertreffen der Jugend und steigen gleich in ein intensives Gespräch ein.
Wann ist dir Diversität als Thema im Theater zum ersten Mal bewusst begegnet?
Beim Theatertreffen der Jugend, wo eine Inszenierung des Ballhaus Naunynstraße auf rassistische Weise – wie soll ich es nennen? – persifliert wurde. Infolgedessen traf die Festivalleitung aber eine Reihe an Maßnahmen, die ich als sehr einleuchtend und notwendig empfunden habe.
Hast du dich selbst damals schon als PoC wahrgenommen – oder wie würdest du dich selbst bezeichnen?
Ich habe immer schon wahrgenommen, dass ich nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehöre, aber damals, 2015, waren mir diese Begriffe noch nicht so geläufig.
Und heute?
Inzwischen fühle ich mich mit dem Begriff PoC gemeint. Obwohl es natürlich auch innerhalb dieser Gruppe Unterschiede gibt. Von der Mehrheitsgesellschaft wird ja häufig nicht verstanden, dass man Menschen nicht homogenisieren sollte.
Wie war es im Studium? Hast du dich als «diverse» Person wahrgenommen?
Im Studium ist mir aufgefallen, wieviel von dem, was wir gelesen haben, von weißen deutschen Menschen stammt. Um 2019 wurde das Thema Diversität dann größer, auch durch die Einladung der Inszenierung «Mittelreich» von Anta Helena Recke …
Die eine bestehende weiße Inszenierung von Anna-Sophie Mahler mit einem Cast von Schauspieler*innen of Color überschrieben hat …
Infolgedessen haben sich auch meine Dozent*innen überlegt, das Thema Diversität im Studium breiter zu diskutieren. Aber insgesamt wird es nach wie vor recht marginal behandelt.
Gab es PoC-Dozierende oder Dozent*innen mit Migrationshintergrund?
Nein.
Wie ging es nach dem Studium für dich im Berufsalltag weiter?
Ich wurde oft für Kontexte angefragt, in denen es um Diversität ging, wobei ich häufig nicht wusste, wozu genau ich da gebeten war. Ich habe zum Beispiel nicht Kulturwissenschaften oder Soziologie studiert, ich kann keinen theoretischen Überbau zu dem Thema liefern. Aber allein aufgrund der Tatsache, dass ich «anders» aussehe, wurde mir offenbar eine Expertise zuerkannt. Durch meine Theaterpraxis habe ich mir dann auch Wissen angeeignet. Aber gerade in den vergangenen zwei Jahren fällt mir auf, dass ich als Regisseurin oder Dramaturgin wieder verstärkt für «Gastarbeiter-Narrative» angefragt werde.
Was ist mit diesem Begriff gemeint?
Migrantische Geschichten, die eng mit dem Thema Klasse verbunden sind. Bemerkenswerterweise können sich viele Menschen offenbar gar nicht vorstellen, dass nicht alle migrantischen Personen die gleichen klassistischen Erfahrungen gemacht haben. Und ich habe das Gefühl, dass bestimmte Geschichten, zum Beispiel von akademischen Migrant*innen, immer noch marginalisiert werden, während das andere Narrativ sehr viel verbreiteter ist.
Wie gehst du damit um?
Ich versuche das anzusprechen. Häufig bekomme ich dann zu hören, gerade in der aktuellen politischen Situation bräuchten wir diese Geschichten – und dass man jemanden mit Migrationshintergrund beauftragen wolle, weil diese Person sich eben besser auskenne als eine weiße. Wenn ich darauf insistiere, jemand Passenderen als mich zu suchen, stockt meistens das Gespräch.
Wirst du auch für Produktionen angefragt, die nichts mit diesem Themenkomplex zu tun haben?
In den vergangenen zwei Jahren nur einmal. Ich habe unlängst an der Otto-Falckenberg-Schule einen Kurzworkshop über Antikes Theater gegeben. Das war der einzige Job, der nichts mit Diversität zu tun hat.
Auf welche Ensembles triffst du an den Häusern, an denen du arbeitest?
Viele Theater bemühen sich erkennbar, die Ensembles zu diversifizieren, aber insgesamt passiert noch zu wenig. Es gibt auch große Unterschiede zwischen Ensembles in größeren oder in kleineren Städten und in ländlichen Regionen. Was mir auffällt: dass inzwischen vermehrt Stoffe von migrantischen Autor*innen gespielt werden, ich aber häufig das Gefühl habe, dass die Ensembles gar nicht dazu passen. Es gibt Fälle, in denen ich dann überlegen muss: Wie verändert man die Geschichte so, dass es nicht irritiert, wenn ein weißer Cast sie spielt?
Wie müsste sich die deutschsprachige Theaterlandschaft verändern, damit die Geschichten so erzählt werden können, wie du sie erzählen möchtest?
Zum einen sind die Ensembles noch nicht divers genug. Gerade in kleineren Städten wird nach wie vor viel mit Gäst*innen gearbeitet, oder es gibt unter 20 Ensemblemitgliedern eine migrantische oder PoC-Person. Da muss noch viel getan werden. Außerdem braucht es eine bessere Ausgewogenheit im Spielplan. Ich plädiere nicht dafür, den Kanon abzuschaffen, aber aktuell dominieren meinem Eindruck nach ganz klar die klassischen Stoffe, während pro Spielzeit vielleicht der eine Migrationsroman auf die Bühne gebracht wird – und damit glaubt man, das Thema erledigt zu haben. Insgesamt würde es helfen, Diversität nicht als Aufgabe zu sehen, die abgehakt werden muss …
Sondern?
Zu begreifen, welche Chancen Diversität für die Theater bieten kann.
Du hast auch als Dozierende am Mozarteum in Salzburg gearbeitet. Wie erlebst du die Schauspielschulen? Beschleunigen oder bremsen sie die Entwicklung?
Es werden mittlerweile weniger homogene Jahrgänge aufgenommen, das ist schon erfreulich. An der Otto-Falckenberg-Schule sollen, soweit ich weiß, spezielle Vermittlungsprogramme entwickelt werden, um den Pool der Bewerber*innen zu diversifizieren. Allerdings wird noch wenig darauf geschaut, welche Rollen die Studierenden dann in den verschiedenen Rollenstudien bekommen, ob es wieder vorwiegend weiße Autor*innen sind. Da geht die Veränderung in sehr kleinen Schritten voran.
Hast du an Häusern mit PoCs in den Leitungsfunktionen gearbeitet?
Nein. An dem einen Haus habe ich nicht gearbeitet.
Wie verlief dein Weg ins Theater?
Ich war an meinem Gymnasium in einer Theater AG, die mich geprägt und mir vermittelt hat, was das Lustvolle am Theater sein kann. Inzwischen gibt es immer mehr Schulen, die Darstellende Kunst als Unterrichtsfach anbieten, allerdings längst nicht in allen Schulformen. Das wäre aber gut, weil es ja nicht nur darum geht, Menschen ans Theater zu bringen, sondern in diesem Unterricht auch Kompetenzen vermittelt werden, die generell hilfreich sein können für die Persönlichkeitsentwicklung.
Zum Beispiel?
Wie trete ich auf? Wie spreche ich? Wieso sollte ich hörbar sein, welche Vorteile verschafft mir das in der Gesellschaft?
Was inspiriert dich?
Aktuell beschäftige ich mich mit Frauen, die regierungskritische Kunst in autokratischen oder diktatorischen Regimen machen. Dieser Mut zeigt mir, wieviel man tun kann, wenn man etwas zum Positiven verändern möchte. Ich finde, wir dürfen als Gesellschaft nicht demokratiefaul werden. Gerade wenn ich mit Älteren spreche, wird mir bewusst, wie privilegiert meine Generation aufgewachsen ist. Wir haben gar nicht gelernt, was es bedeutet, für eine Demokratie einzustehen. Das fällt uns momentan auf die Füße. Deswegen orientiere mich an Menschen, die es weniger leicht hatten oder haben.
Gibt es eine Community, mit der du dich austauschst?
Ich bin mittlerweile Teil des BIPoC-Netzwerks, das sich innerhalb des ensemblenetzwerks gegründet hat, um nicht-weiße Positionen an deutschsprachigen Theatern zu etablieren. Den Austausch empfinde ich als wohltuend, weil ich früher oft allein mit meinen Erfahrungen war oder dachte, es liegt an mir, wenn in einer Arbeit etwas irritierend verlief. In der Community bekomme ich gespiegelt, dass diese Schieflagen strukturell bedingt sind.
Was gibt dir Kraft?
Tatsächlich die Familie. Meine Familie beschäftigt sich nicht mit Theater, aber ich merke, dass mir wirklich zugehört wird, wenn ich über meine Erfahrungen spreche. Das ist in meinen Arbeitskontexten längst nicht immer der Fall.
Was braucht es, um sich in diesen Theaterkontexten als PoC oder migrantisch gelesene Person durchzusetzen?
Man darf sich nicht einschüchtern lassen. An der Uni, an der ich unterrichtet habe, gab es zum Beispiel Neidsituationen: Wieso bekommt dieser Mensch mit Migrationshintergrund diese Rolle – nur wegen der Diversität? Die betroffene Person muss das Selbstbewusstsein mitbringen, sich dadurch nicht verunsichern zu lassen. Und es braucht Durchhaltevermögen – auch dann weiterzumachen, wenn man mit der eigenen Leistung erstmal keine Anerkennung findet. Das ist nicht leicht, weil mangelnde Anerkennung automatisch mit fehlender Qualität gleichgesetzt wird. In manchen Fällen mag das zutreffen, aber es sind auch strukturelle Fragen, die beim Thema Anerkennung eine Rolle spielen. Über die sprechen wir noch zu wenig.
Gab es an den Häusern und Institutionen, an denen du bislang gearbeitet hast, Antidiskriminierungsstellen?
Nein. Aber es gab an mehreren Häusern im Vertrag einen Code of Conduct, einen Verhaltenskodex.
War der nach deinem Eindruck bindend? Hatte er positive Wirkung?
Schon. Wobei je nach Größe des Regienamens immer auch Ausnahmen zulässig waren, vor allem bei männlicher Regie.
Wo siehst du im Theater den größten Veränderungsbedarf?
Was mich regelrecht schockiert, ist, wie an vielen Theatern pädagogische Vermittlungsformate gedacht werden. Das ist ein Bereich, über den nicht viel gesprochen wird, weil er scheinbar nebenbei läuft. Unabhängig davon, ob du Schauspieler*in, Autor*in oder Theaterpädagog*in bist – sobald du migrantisch aussiehst, wird dir zugetraut, Vermittlungsworkshops mit migrantischen Kindern in Stadtteilen zu veranstalten, die als schwierig gelten – unabhängig davon, ob du die Kompetenzen dafür mitbringst. Das habe ich selbst schon häufig erlebt. Das absurde daran ist, dass die Theater in solchen Vermittlungsprogrammen nicht selten kapitalistische Interessen hegen.
Inwiefern?
Es geht weniger darum, Menschen zu erreichen und ihnen etwas Bereicherndes zu bieten, sondern eher darum, ein neues Publikum zu gewinnen und schwarze Zahlen zu schreiben. Das löst viele Fragezeichen bei mir aus. Manche Theater gründen im Vermittlungsbereich auch Beiräte, in denen Menschen aus der Stadtgesellschaft in welcher Form auch immer über das Programm mitentscheiden sollen. Die Besetzung dieser Beiräte müsste aber viel überlegter passieren. Momentan orientiert man sich häufig am Erscheinungsbild. Außerdem müssten diese Menschen natürlich auch vergütet werden.
Könntest du dir vorstellen, mit anderen aus deinem Netzwerk eine eigene Theatergruppe zu gründen? Oder ist es dein Ziel, in den bestehenden Strukturen Veränderungen von innen herbeizuführen?
Ich versuche, in den Strukturen zu bleiben, weil man dort eben nicht wie ein Satellit wahrgenommen wird, sondern im besten Fall andere Menschen mit den eigenen Überzeugungen inspirieren und bewegen kann.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Gegenwärtig müssten wir uns alle viel mehr solidarisieren. Das klingt so simpel, aber ich meine damit: Wir sollten akute Maßnahmen ergreifen, weil nicht nur in Berlin, sondern fast überall in Deutschland jetzt an der Kultur gespart wird. Und es ist klar, dass gerade Projekte, die ihren Fokus auf Diversität haben oder die unbequemen Themen ansprechen, in Zukunft viel weniger Förderung bekommen werden.
Gerade in der aktuellen politischen Situation können wir es uns nicht leisten, das, was wir bis jetzt aufgebaut haben, wieder absterben zu lassen.
Das Interview ist ein Auszug aus dem Band „Vielfalt ist kein Drama. Gespräche über Rassismus und Diversität im Theaterbetrieb“. Erschienen im April 2025 in der Reihe „Schriften zu Bildung und Kultur“ der Heinrich-Böll-Stiftung, Band 21.
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Antigone Akgün absolvierte eine Schauspielausbildung in Griechenland. Im Anschluss studierte sie Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Klassische Archäologie, Griechische Philologie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt sowie Dramaturgie (Master) an der Hessischen Theaterakademie. Sie hat u. a. am Schauspielhaus Wien, Ballhaus Ost, Theater Bremen und Nationaltheater Mannheim gearbeitet. In den Jahren 2022 und 2023 war sie Co-Leiterin des Blogs des Theatertreffens der Berliner Festspiele. Sie ist als Dramaturgin, Performerin, Autorin und Regisseurin tätig und gehört seit 2023 dem Vorstand der Dramaturgischen Gesellschaft an.