Schwul. Aus der Region Cherson. Lebt derzeit unter der Besatzung. Das Interview fand im August 2022 statt.

Mein Name ist Ruslan. Ich bin 19 Jahre und schwul. Es fällt mir schwer, offen zu sprechen, weil die Umstände mich zwingen, meine sexuelle Orientierung zu verbergen. Ich wohne ganz im Süden der Region Cherson, näher an Skadovsk (ein Dorf in der Region Cherson, nahe am Meer) als an Cherson. In einem kleinen ukrainischen Dorf, in dem jede*r jede*n kennt. Deshalb verstecke ich mich. Ab und zu komme ich nach Hause, um meine Vorräte aufzufüllen, mein Handy aufzuladen und mich zu waschen. Dann verschwinde ich wieder. Diese Notwendigkeiten geben mir einen kleinen Raum zum Leben.
Ich verstecke mich schon lange – seit Mai, um genau zu sein. Während der Besatzung kamen ständig russische Soldaten ins Dorf. Zuerst schrieben sie nur auf, wie viele Menschen im Dorf lebten und wie viele nach der so genannten „Befreiung“ noch übrig waren. Sie beriefen immer wieder Versammlungen ein, um uns zu sagen, dass nun alles anders werden würde. Zunächst wurden sie von den Einheimischen verjagt, aber später kamen die Autos mit dem berüchtigten Buchstaben „Z“ anstelle der Nummernschilder.
Mehrere der politisch aktivsten Einheimischen wurden an einen unbekannten Ort verschleppt. Bis heute weiß niemand, wo sie sind oder ob sie überhaupt noch leben. Es war wie eine öffentliche Hinrichtung. Anderen wurde geroht: Wenn sie nicht den Mund hielten, würden die Russ*innen ihre Häuser niederbrennen und ihre Gärten zerstören. Danach verhielten sich die Menschen unauffälliger. Der blanke Terror. Wenn Menschen eingeschüchtert sind, sind sie leichter zu manipulieren. Wahrscheinlich weiß das jede*r normale Sicherheitsbeamt*in der Russischen Föderation sehr gut.
Trotzdem warten alle auf die Rettung durch die Streitkräfte der Ukraine. Wenn es ums Überleben geht, müssen die Menschen sich wohl oder übel fügen. Die russischen Soldaten führen weiterhin Verhöre durch. Nach einem davon beschloss ich, wegzugehen.
Ich habe mir ein Versteck am Fluss gebaut. Dort lebe ich jetzt.
Ich habe das Haus nicht gleich danach verlassen. Zuerst kamen die russischen Soldaten und stellten mich vor die Entscheidung, entweder ihren separatistischen Einheiten beizutreten, die angeblich die Region Cherson gegen die „Nazis“ verteidigen sollten, oder „Sonderarbeit“ zu leisten. Sie sagten, wenn ich nicht arbeitete, hätte ich kein Recht, etwas zu kaufen. Die russischen Soldaten begannen, von den Angestellten des Ladens zu verlangen, dass sie aufschreiben, wer was mit welchem Geld kauft. Dank der Hilfe der ukrainischen LGBTQ-Community konnte ich zwei Monate lang überleben. Aber sogar meine Nachbar*innen sagten mir, ich solle fliehen und mir einen Unterschlupf suchen. Sonst würde man mich abholen. So lebe ich jetzt seit vier Monaten in Waldgebieten und auf Lichtungen.
Ich bin geflohen und habe Arbeit gesucht, um etwas zu essen zu bekommen. Ich dachte, ich könnte vielleicht Holz hacken oder ein Loch für den Zaun graben, und die Leute würden mir dafür Lebensmittel oder etwas zu essen geben. Ich habe mir ein Versteck am Fluss gebaut. Dort lebe ich jetzt. Ich habe versucht, zu fischen, aber es gibt im Moment nicht viel. Ich habe Hasenfallen gebaut, aber ohne Erfolg. Man muss schon ein* Jäger*in sein, damit das etwas bringt. Ich bin hungrig, aber mir tun auch die Tiere leid.
Der Winter naht, und ich begreife mehr und mehr: Ich muss nach Cherson gehen. Vielleicht finde ich dort eine Arbeit. Dort gibt es mehr Menschen. Ich kann mich unter sie mischen. Es gibt auch viele leerstehende Häuser. Das ist besser als im Winter im Freien zu übernachten. Ich werde auf die ukrainischen Streitkräfte warten – sie sind dort näher. Vielleicht bekomme ich Hilfe. Es soll Untergrundgruppen geben, die der ukrainischen Armee helfen. Ich muss einfach etwas tun und einen Plan haben. Selbst ein schlechter Plan ist besser als kein Plan.
Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.