Machtprobe in Warschau – Polen vor der zweiten Richtungswahl

Analyse

Nach dem Regierungswechsel 2023 steht Polen erneut vor einer historischen Weichenstellung. Ein emotional aufgeladener Wahlkampf spiegelt die tiefe gesellschaftliche Spaltung – und das Ringen um die Zukunft des Landes.

Menschen mit polnischen Fahnen vor einem Wahlkampfbus von Rafał Trzaskowski.

In Polen geht es mal wieder um alles. Nach dem Regierungswechsel im Oktober 2023, der stark von Frauen und jungen Menschen getragen wurde, blieben zentrale Reformen bislang aus – auch wegen der Blockadehaltung des Präsidenten. In Polen wird das Staatsoberhaupt direkt gewählt und verfügt über weitreichende Befugnisse: Es ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, bestimmt die Außenpolitik, hat ein Vetorecht und unterzeichnet Gesetze – oder eben nicht.

Amtsinhaber Andrzej Duda, der der Ex-Regierungspartei nahesteht, der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), nutzte seine Macht wiederholt, um PiS-Politiker*innen zu begnadigen, die zum Beispiel wegen Amtsmissbrauch verurteilt worden waren. Oder um Gesetze der neuen Regierung zu stoppen, indem er sie nicht unterschrieb oder zur Prüfung an das Verfassungsgericht weitergab, das nach wie vor mit PiS-nahen Personen besetzt ist und somit nicht unabhängig agiert. Die Regierungskoalition ist im Parlament nicht stark genug, um ein präsidiales Veto zu überstimmen, deshalb konnten zahlreiche Wahlversprechen nicht realisiert werden, etwa die Reform der Justiz nach dem Umbau durch die PiS-Regierung oder die Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes. Premierminister Donald Tusk setzt nun auf seinen Kandidaten Rafał Trzaskowski, um den legislativen Stillstand zu überwinden – auch wenn es innerhalb der Koalition unterschiedliche Positionen zu einzelnen Vorhaben gibt.

Wer steht zur Wahl?

Da eine Wiederwahl Dudas verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist, bewerben sich 13 Kandidat*innen um seine Nachfolge. Ursprünglich hatten 44 Personen ihre Kandidatur angekündigt, aber nur 17 sammelten die erforderlichen 100.000 Unterstützungsunterschriften. Vier wurden von der Wahlkommission abgelehnt. Ein Sieg im ersten Wahlgang am 18. Mai gilt als unwahrscheinlich, die Stichwahl ist für den 1. Juni angesetzt.

Obwohl es 13 Kandidierende gibt – darunter auch rechtsextreme und moskautreue –, konzentriert sich der Wahlkampf im Wesentlichen auf fünf Persönlichkeiten:

  • Rafał Trzaskowski (liberal-konservative Bürgerkoalition, Koalicja Obywatelska (KO)): promovierter Politikwissenschaftler, ehemaliger EU-Parlamentarier und seit 2018 Oberbürgermeister von Warschau. 2020 unterlag er Duda in der Stichwahl knapp mit 48,97 Prozent.
  • Karol Nawrocki (unterstützt von der national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS): Leiter des Instituts für Nationales Gedenken, das nationalsozialistische und kommunistische Verbrechen aufarbeitet; ohne bisherige politische Erfahrung. Er wird von der PiS als „Bürgerkandidat“ präsentiert.
  • Sławomir Mentzen (Konföderation, Konfederacja, die Monarchisten, Wirtschaftslibertäre und Rechtsextreme vereint): Promovierter Ökonom und Unternehmer, der mehrere Steuerberaterkanzleien und eine Brauerei betreibt. Abgeordneter im Sejm (Unterhaus des polnischen Parlaments). Verbreitet über eigene Kanäle rechtslibertäre und ultrakonservative Positionen. Jüngst unterlag er vor Gericht wegen falscher Aussagen über den Parlamentspräsidenten.
  • Szymon Hołownia (christlich-zentristische Partei Dritter Weg, Trzecia Droga): ehemaliger Fernsehmoderator und Publizist, seit 2023 Parlamentspräsident. Bereits 2020 trat er zur Wahl an und wurde Dritter.
  • Magdalena Biejat (Neue Linke, Nowa Lewica): Vizepräsidentin des Senats, Spanisch-Übersetzerin und Aktivistin. Sie setzt sich für soziale Gerechtigkeit und Minderheitenschutz ein und mobilisiert ein progressives Wählersegment.

In Umfragen liegt Trzaskowski mit rund 33 Prozent vorn, gefolgt von Nawrocki (23 %) und Mentzen (12 %). Ein enges Rennen um den Einzug in die Stichwahl zeichnet sich ab.

Ein emotionaler Wahlkampf

Die polnische Gesellschaft ist tief gespalten. Streitpunkte wie das Abtreibungsrecht, Migration, die schleppende Justizreform und die politische Aufarbeitung der PiS-Amtszeit prägten den Wahlkampf. Besonders zwischen PiS und der Bürgerkoalition KO von Donals Tusk verläuft eine tiefe gesellschaftliche Bruchlinie. Zwar wünscht sich die Mehrheit ein Ende des zermürbenden Dauerstreits – absehbar ist das jedoch nicht.

Der Wahlkampf war von Skandalen und Symbolpolitik geprägt. So wurde bekannt, dass PiS-Kandidat Nawrocki unter dem Pseudonym Tadeusz Batyr ein Buch herausgebracht hat und als eben jener getarnt im Staatsfernsehen die Werke von Karol Nawrocki anpries. Zudem wurden Verbindungen zu Kriminellen und dubiose Immobiliengeschäfte publik.

Trzaskowski wiederum gilt als Teil der großstädtischen Eliten, bemühte sich aber um Wähler*innen auf dem Land – mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt dort. Allerdings hatte er Schwierigkeiten, dort durchzudringen. Mit einem deutlichen Rechtsruck, etwa durch verschärfte Positionen zur Migration und Sozialleistungen für in Polen lebende Ukrainer*innen, versuchte er, Stimmen aus dem Konföderations-Lager zu gewinnen – riskierte dabei aber, progressive Wähler*innen zu verlieren.

Mentzen meidet klassische Medien und verbreitete seine ultrakonservativen und marktlibertären Inhalte vor allem über soziale Netzwerke – sein TikTok-Kanal zählt 1,6 Millionen Follower. So sollen seiner Meinung nach etwa Schwangerschaftsabbrüche selbst nach Vergewaltigungen verboten werden oder Studieren nicht mehr vom Staat mitfinanziert werden.

Es gab mehrere, teils kuriose Fernsehdebatten, in denen sich der Kandidat des Dritten Weges, der ehemalige Fernsehmoderator Szymon  Hołownia, profilieren konnte, insbesondere durch souveräne Reaktionen auf Angriffe. Er will, wie Mentzen, das politische Duopol von PiS und KO aufbrechen. Mit 1,3 Millionen Followern auf TikTok hat Hołownia die zweitmeisten digitalen Anhänger.

Schwerpunktthema Sicherheit

Einigkeit herrscht bei der Zielmarke von fünf Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben. In der Ausgestaltung gibt es aber Unterschiede: PiS und Nawrocki setzen weiter auf die Unterstützung der USA und begegnen europäischen Initiativen mit Skepsis. Mentzen lehnt jegliche Militäreinsätze auch zur Unterstützung der Ukraine ab und fordert statt einer Erweiterung der Verteidigungsstrukturen der EU oder der NATO, das Recht auf Waffenbesitz nach texanischem Vorbild.Die Bürgerplattform und ihr Kandidat Trzaskowski hingegen sind insbesondere wegen der Unberechenbarkeit Trumps für eine engere Zusammenarbeit mit europäischen Partnern in der Verteidigung. Hołownia fordert ebenfalls europäisch abgestimmte Einkäufe von Rüstungsgütern und einen ganzheitlichen Sicherheitsbegriff, der die Gesundheitsversorgung und Migrationspolitik miteinbezieht.

Symbolpolitik und Polarisierung

Abgesehen vom Thema Sicherheit blieb der Wahlkampf inhaltlich oft vage. Stattdessen dominierten symbolische Gesten. Für Aufsehen sorgte etwa Magdalena Biejat, als sie in einer Fernsehdebatte mit den Worten „Ich schäme mich nicht“ eine Regenbogenfahne vom Rednerpult Trzaskowskis entfernte, die Karol Nawrocki ihm vorher provokativ hingestellt hatte, um ihn als queerfreundlichen Politiker zu „brandmarken“. Da das linke Lager zersplittert ist und mit drei Kandidat*innen in den Wahlkampf geht, sind für Biejat allerdings keine zweistelligen Ergebnisse zu erwarten.

Entscheidung mit Tragweite

Polen ist nach dem Regierungswechsel 2023 auf einen demokratischen Kurs eingeschwenkt und gilt als Hoffnungsträger in einem gespaltenen Europa. Der Wahlausgang wird die Handlungsfähigkeit der Regierung entscheidend beeinflussen: Ein Sieg Trzaskowskis könnte den Weg für Reformen ebnen, ein Erfolg Nawrockis hingegen zu einer Blockade führen – mit der Gefahr einer Regierungskrise und möglicher Neuwahlen.