Trans*frau. Aus Mykolajiw. Sie lebt derzeit als Binnenvertriebene in Odesa. Das Interview fand im Februar 2023 statt.

Es war ungewöhnlich ruhig und leer. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet, aber ich dachte wirklich, ich hätte Explosionen von außerhalb der Stadt gehört. Die Nachbar*innen packten ihre Sachen in ihre Autos und versuchten, so schnell wie möglich wegzukommen. Im Fernsehen lief immer wieder das Gleiche: die Rede des Präsidenten und die Ausrufung des Kriegsrechts.
Der Angriff Russlands war erwartet worden. Es war klar, dass etwas passieren würde. Aus verschiedenen Quellen hatte ich von den Warnungen westlicher Regierungen vor einer möglichen Militärinvasion erfahren. Die Russ*innen selbst hatten immer davon gesprochen, einen Landkorridor nach Transnistrien zu schaffen.
Ungewissheit, Präsidentenreden, Granateneinschläge
Meine Mutter und ich hatten uns entsprechend vorbereitet. Ich hatte eine Kiste mit Medikamenten gekauft, wir hatten uns mit Vorräten eingedeckt und Sachen gepackt. Aber in den ersten Tagen der Invasion beschlossen wir, uns Zeit zu lassen und abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Wir wollten erst die Situation bewerten und uns nicht ins Ungewisse stürzen. Trotzdem wollte ich mit meiner Mutter weggehen. Wir versteckten uns eine Weile in unserem Haus, bis die Granaten ganz nah kamen. Aber selbst dann weigerte sich meine Mutter, eine ältere Frau, Mykolajiw zu verlassen. Ich habe auch eine Katze und fünf Papageien – einen kleinen Zoo. Es gibt immer noch keine Möglichkeit, sie dort herauszuholen.
Der erste Versuch, Dokumente zu bekommen, war traumatisch. Nach meiner Transition in den Jahren 2007 bis 2008 fuhr ich nach Kyjiw. Doch die dortige Ärztekammer lehnte eine Untersuchung ab und verwies mich auf Mykolajiw. In meiner Heimatstadt aber sagte der Psychiater, dass nur die Ärzt*innen der Hauptstadt die Erlaubnis erteilen könnten, das Geschlecht in einem Pass zu ändern. Er empfahl, sich an seine Kyjiwer Kolleg*innen zu wenden. Sie stellten auch dumme, seltsame Fragen: „Warum muss das sein? Vielleicht bist du einfach nur schwul? Vielleicht hast du nur noch nicht versucht, schwul zu sein?“
An diesem Punkt wurde mir klar, dass es besser war, überhaupt nicht mehr mit ihnen darüber zu sprechen und die Sache zu vergessen: Ich lebte so weiter, wie ich vorher gelebt hatte. Fast 15 Jahre lang habe ich es vermieden, mich mit Dokumenten zu befassen: Zehn Jahre lang habe ich inoffiziell gearbeitet, ohne mich anzumelden. Meine Post habe ich mit den Dokumenten meiner Mutter erhalten. Ich wurde diskriminiert und misgendert, und mir wurde geraten, in der Sexindustrie zu arbeiten.
Zehn Jahre lang habe ich inoffiziell gearbeitet, ohne mich anzumelden. Meine Post habe ich mit den Dokumenten meiner Mutter erhalten. Ich wurde diskriminiert und misgendert, und mir wurde geraten, in der Sexindustrie zu arbeiten.
Jetzt bin ich endlich nach Odesa gezogen. Auch ohne volle Rechte werde ich hier mehr verdienen als in Mykolajiw. Warum zurückgehen? Die Fabriken und Anlagen funktionieren nicht, es gibt keine Geschäfte, und die Menschen leben von humanitärer Hilfe. Es ist eigentlich egal, wo man als Binnenvertriebene ein paar Groschen bekommt – hier oder dort.
Eine Zeitlang dachte ich daran, ins Ausland zu gehen. Ich habe eine Freundin in Deutschland. Sie hat mich eingeladen. Am Anfang gab es dort wirklich tolle Hilfsprogramme, aber jetzt existieren sie nicht mehr. Nicht jede*r fühlt sich dort wohl. Mein Chef rief aus Italien an und schlug vor, zu ihm zu kommen. Er sagte, ich solle meine Mutter mitnehmen, alles mitnehmen. Es sei alles da: Wohnung, Essen und Kleidung. Aber wozu? Hier ist es doch genauso. Warum sollte man in ein unbekanntes Land gehen, sich und seine Mutter der Gefahr aussetzen und auch seine Tiere dem Tod überlassen?
Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.