Anatoly, 41 Jahre

Schwul. Aus der Region Cherson. Nach seiner Entlassung aus der Besatzung zog er vorübergehend in die Region Dnipropetrowsk. Das Interview fand im Juli 2023 statt.

Lesedauer: 3 Minuten
Illustration: Person mit kurzem, dunklem Haar vor einfarbigem, grünlich-blauem Hintergrund, schaut geradeaus, trägt helles Oberteil.

Die Invasion hat mich nicht unvorbereitet getroffen. Ich wachte um 3 Uhr nachts auf. Tschornobajiwka war getroffen worden. Das liegt etwa 15 bis 20 Kilometer von unserem Haus entfernt. Und das war's – ich verstand sofort, dass nun Krieg war. Am Morgen flogen bereits russische Hubschrauber über uns. Es gab keinen Zweifel mehr...

Einen Monat lang lebten wir in völliger Gesetzlosigkeit, aber wir wussten, dass sich jeden Moment alles ändern könnte, und dass die Folgen schrecklich sein könnten. Also haben Slavik und ich uns eine Geschichte ausgedacht: Er ist von hier, lebt hier, und ich bin sein Cousin, der aus Cherson gekommen ist, weil es dort unheimlich ist.

Aus Partner wird Cousin

Während der Besatzung ist viel passiert. Es gab Razzien gegen pro-ukrainische Leute, und russische Soldaten durchsuchten uns. Slavik musste regelmäßig durch Kontrollen, weil seine Eltern in Pryoserny lebten. Es gab viele Dinge, an die ich mich nur ungern erinnere.

Alle hatten Angst um ihr Leben. Sowohl LGBTQ-Menschen als auch Heteros. Slavik wurde einmal an der Straßensperre verhört. Zum Beispiel: „Warum bist du fast 40 Jahre alt und hast keine Kinder?“. Slavik sah überhaupt nicht wie ein schwuler Mann aus, nur wie ein einsamer Dorfbewohner, der Fahrrad fuhr und eine Aufenthaltsgenehmigung hatte. Es gab wirklich keinen Grund, Verdacht zu schöpfen. Aber Durchsuchungen an den Kontrollpunkten waren an der Tagesordnung. Sie durchsuchten Taschen und Handys und zwangen die Leute manchmal, sich auszuziehen.

Wir haben versucht, so unauffällig wie möglich zu sein, quasi mit der Landschaft zu verschmelzen. Je weniger Fragen sie an dich hatten, desto einfacher war es für dich.

Ich glaube, dass nach einer bestimmten Zeit des Lebens unter Besatzung alle Einwohner Chersons einen Reflex entwickelt haben: Wenn du auf die Straße gehst, halte deinen Blick nach unten gerichtet und mache einen großen Bogen um die Besatzer. Wenn die Besatzer dich anhalten, nimm sofort deinen Pass heraus und öffne ihn. Wir haben versucht, so unauffällig wie möglich zu sein, quasi mit der Landschaft zu verschmelzen. Je weniger Fragen sie an dich hatten, desto einfacher war es für dich.

Ich erinnere mich, dass der Gestank schrecklich war. Komyschany, Biloserka – es war unmöglich, sich in der Nähe aufzuhalten. Denn dort wurden Leichen auf den Feldern verbrannt. Reifen wurden auf sie geworfen, Diesel darüber gegossen – und das war's. Obwohl alle Hauptkämpfe entlang der Autobahn zwischen Cherson und Mykolajiw stattfanden. Auch in Tschornobajiwka. Die russischen Soldaten aber kamen zu uns wie Touristen im Urlaub. Wir sind trotzdem nicht ungeschoren davongekommen: Nachdem sie an das andere Flussufer weitergezogen waren, haben sie angefangen, auf uns zu schießen. Während der Besatzung haben also alle gelitten, nur zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise.

Während der Besatzung haben also alle gelitten, nur zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise.

Als wir befreit wurden, gab es weder Strom noch Kommunikation. Aber wir waren frei. Etwa bis Mitte Dezember war alles mehr oder weniger ruhig. Dann begann der dichte und massive Beschuss. Als es losging, wussten wir schon, was kommen würde und wo es einschlagen würde. Das Ganz dauerte fünf Monate. Natürlich waren wir nervös. Aber wenigstens gab es die Online-Kommunikation, so dass wir unsere Verwandten kontaktieren konnten. Und ich will nicht in irgendein europäisches Land gehen, ich sehe mich nur in der Ukraine.


Aus dem Englischen übersetzt von Christine Wiesmeier.

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