Seit seiner Kolonialisierung dient das Amazonasgebiet als Projektionsfläche fremder Ideen und Begehren. Mit dem Brasilianischen Amazonas-Atlas möchten wir gängige Stereotypen über die Region dekonstruieren – und ihn aus Sicht seiner vielfältigen Bewohner*innen zeigen.

Seit der portugiesischen Kolonialisierung dient das Amazonasgebiet als Projektionsfläche fremder Ideen und Begehren, die seine Wahrnehmung bis heute maßgeblich prägen. Der Name „Amazonas“ selbst zeugt von dieser Geschichte: Er entstammt der griechischen Mythologie und wurde im 16. Jahrhundert vom spanischen Kapitän Francisco de Orellana dem größten Fluss der Region gegeben. Auch andere Namen für die Region ignorieren die indigenen Bewohner*innen, die den Wald seit Jahrtausenden bewohnten und kultivierten. So prägten Kolonialherren Bezeichnungen wie „Tor zum Paradies“ und „Eldorado“, während das brasilianische Militärregime (1964-1985), das Jahrhunderte später die Neokolonisierung der Region anordnete, Begriffe wie „grüne Hölle“ prägte. In dieser Zeit wurden die Praktiken und Weltsichten der lokalen Bevölkerung weiterhin unterdrückt, sei es durch Katechisierung oder Völkermord. Ihre Territorien wurden gewaltsam erobert und privatisiert. Dies geschah oft unter dem Deckmantel zerstörerischer oder sogar vermeintlich nachhaltiger Vorstellungen, die jedoch stets dem Ideal der „Entwicklung“ untergeordnete waren und die eigentlichen Beschützer*innen des Waldes ignorierten.
Zwischen Fortschrittsversprechen und Klimakrise
Der Amazonas hat sich im Laufe der Zeit gewandelt und dabei verschiedene Veränderungen mit bemerkenswerter Widerstandsfähigkeit integriert. Doch neue Bedrohungen zeichnen sich ab, oft im Schlepptau vermeintlicher entwicklungspolitischer Fortschrittsversprechen. Bergbau- und Infrastrukturprojekte, gepaart mit dem Vormarsch des agrarindustriellen Produktionsmodells und seiner extensiven Monokulturen, erschöpfen die natürlichen Ressourcen zunehmend. Dies markiert einen entscheidenden Wendepunkt für den Amazonas. Paradoxerweise geschieht dies genau in einer Zeit, in der dringend Lösungen für den drohenden Klimakollaps gesucht werden - sowohl Strategien zur Abschwächung durch Kohlenstoffabsorption als auch Wege zur Anpassung an die globale zivilisatorische Krise.
Infolgedessen richtet sich viel Aufmerksamkeit auf die Region und auf diejenigen, denen es trotz ständiger Bedrohung gelungen ist, sie zu erhalten und zu bewahren: die indigenen und traditionellen Völker. Durch ihr unverzichtbares Zusammenspiel mit der Natur, haben sie den Amazonas bis heute geschützt.
Für die Rechte von Mensch und Natur
Als deutsche politische Stiftung haben wir all diese Veränderungen und Spannungen seit dem Beginn unserer Arbeit in Brasilien im Jahr 2000 aufmerksam verfolgt. Wir unterstützen und fördern den Dialog über die vielfältigen Themen rund um den Widerstand in der Amazonasregion. Dazu gehören entscheidende Bereiche wie Menschenrechte, die Rechte der indigenen Völker, Biodiversität, Agrarökologie, Klimagerechtigkeit und das Phänomen der fliegende Flüsse. Wir würdigen stets die Rolle derer, die seit Generationen räuberischen Wirtschaftssektoren entgegenstellen und dabei oft ihren mächtigen Vertretern unterlegen sind. Für uns muss die Verteidigung der territorialen Rechte dieser Menschen und ihrer Lebensweise im Mittelpunkt der Debatten über eine nachhaltige Lösung für die Herausforderungen des Amazonasgebietes stehen.
Mit diesem Brasilianischen Amazonas-Atlas möchten wir gängige Stereotypen über die Region dekonstruieren. Unser Ziel ist es, einen dringenden Perspektivwechsel anzustoßen, damit Menschen in Brasilien und auf der ganzen Welt den Amazonas neu kennenlernen – diesmal aus der Sicht seiner vielfältigen Bewohner*innen. Wir haben dafür ein Redaktionsteam aus Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen zusammengestellt, die entweder selbst aus dem Amazonasgebiet stammen oder seit Jahrzehnten in der Region tätig sind. Ihr Aufgabe war es, lokale Autor*innen und relevante Themen für den Atlas zu identifizieren. Das Ergebnis sind 32 Artikel, die hauptsächlich von Autor*innen aus verschiedenen Teilen des Amazonasgebiets verfasst wurden. Bei der Auswahl wurde zudem großer Wert auf die ethnische und geschlechtsspezifische Vielfalt gelegt.
Es ist der erste Atlas der Heinrich-Böll-Stiftung, der komplett im Globalen Süden konzipiert und produziert wurde.
Darüber hinaus stellt dieser Atlas einen Perspektivwechsel für die Heinrich-Böll-Stiftung selbst dar: Es ist der erste Atlas der Heinrich-Böll-Stiftung, der komplett im Globalen Süden konzipiert und produziert wurde. Diese Publikation zeichnet sich durch lokales Wissen und Wissenschaft aus und fordert damit die etablierte westliche Forschung heraus.
Wir hoffen, dass dieser Brasilianische Amazonas-Atlas als Tor zum Wissen über die Region dienen und ein Instrument sein kann, um die komplexen Zusammenhänge dieses riesigen Gebiets zu verstehen. Daher möchten wir, dass er Debatten und Dialoge anregt und zu Lösungen für die verschiedenen Herausforderungen beiträgt, um eine nachhaltige und selbstbestimmte Zukunft für den Amazonas und seine Bewohner*innen zu fördern.
In einem Jahr, in dem die COP 30 - die erste COP im Amazonasgebiet - stattfindet, wird dieses Material auch dazu dienen, zu betonen, dass der Protagonismus der Völker, die für den tausendjährigen Schutz der Region verantwortlich sind, der Schlüssel zu multilateralen Klimaverhandlungen und letztlich für das Überleben des Planeten ist.
Großer Dank an mitwirkende Organisationen vor Ort
Wir möchten uns herzlich bei Aiala Colares, Angela Mendes, Elaíze Freitas, João Paulo Tukano, José Héder Benatti, Karina Penha, Kátia Brasil und Marcela Vecchione für Ihre hervorragenden Beiträge als Mitglieder des Redaktionsausschuss bedanken. Ihr Mitwirken war im gesamten Entstehungsprozess dieses Atlas unverzichtbar, insbesondere bei den komplexen und sensiblen erkenntnistheoretischen Debatten, die für seine kollektive Erstellung von wesentlicher Bedeutung waren.
Wir laden alle Leser*innen herzlich ein, sich auf diesen Perspektivwechsel einzulassen und sich geistig und emotional mit dem hier vorgestellten Amazonas zu beschäftigen. Gleichzeitig möchten wir Sie dazu ermutigen, die Arbeit der Organisationen, Netzwerke, Kollektive und Bewegungen kennenzulernen, die mit der Heinrich-Böll-Stiftung zusammenarbeiten. Sie alle setzen sich unermüdlich für die Verteidigung der Völker und Territorien des Amazonas ein:
Comitê Chico Mendes
www.comitechicomendes.org
@chicomendescomite
Amazônia Real
www.amazoniareal.com.br
@amazoniareal
Clínica de Direitos Humanos da Amazônia (CIDHA)
www.cidh.ufpa.br
@cidhaufpa
Instituto Mãe Crioula
www.institutomaecrioula.org
@imaecrioula
Centro de Medicina Indígena Bahserikowi
@centrodemedicinaindigena
Amazônia de Pé
www.amazoniadepe.org.br
@amazoniadepe
ReExisterra
www.ppgdstu.propesp.ufpa.br/index.php/br/pesquisa/grupos-de-pesquisa
@reexisterra
Hier gelangen Sie zur portugiesischsprachigen Ausgabe des Atlas.